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Die sanften Riesen

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Zu Besuch im ehemaligen k. k. Hofgestüt von Kladrub

Donnerstag, 30. November 1916. Österreich trägt den vorletzten Monarchen seiner Geschichte zu Grabe. Vor neun Tagen ist der Sechsundachtzigjährige in seinem Nachtgemach in Schloß Schönbrunn sanft entschlafen; nun geben die Spitzen seines Reiches, Delegationen aus aller Herren Ländern und nicht zuletzt sein Volk Kaiser Franz Joseph I. das letzte Geleit. Seit den späten Vormittagsstunden ist halb Wien auf den Beinen: Man will sich einen günstigen Aussichtspunkt sichern, wenn nach 14 Uhr der Trauerkondukt durch die Straßen der Innenstadt zieht. Es ist eine Zeremonie von unüberbietbarer Erhabenheit, von einzigartiger Dimension. Leiblakaien tragen den Sarg mit dem Leichnam über die Botschafterstiege zur nahen Hofburgkapelle, wo die Einsegnung erfolgt; dann führt der Weg in den Schweizerhof, wo der riesige schwarzlackierte Leichenwagen bereitsteht. 1876/77 hat die k. k. Hofsattlerei das prunkvolle Gefährt hergestellt, dessen Baldachin mit Krone und Adler verziert ist. Nur drei Mal ist es bis jetzt benützt worden: bei den Beisetzungen von Kaiserinwitwe Maria Anna, Kronprinz Rudolf und Kaiserin Elisabeth.

Unter dem feierlichen Geläut sämtlicher Kirchenglocken der Stadt wird der Sarg auf den Leichenwagen gehoben, das Gespann aus acht schwarzgeschirrten Rappen setzt sich in Bewegung, um die lange Strecke über Inneren Burghof, Heldenplatz, Ringstraße, Schwarzenbergplatz, Aspernplatz, Quai und Rotenturmstraße zum Stephansdom zurückzulegen, wo Kardinal Piffl eine zweite Einsegnung vornimmt. Dann das letzte Stück Strecke in Richtung Kapuzinerkirche: Kärntnerstraße, Kupferschmiedgasse, Neuer Markt. Vor dem schwarzverhängten Portal hält der Zug an, der Sarg wird vom Leichenwagen gehoben, Pater Guardian und der gesamte Kapuzinerkonvent geben dem Verstorbenen das Geleit zu dem im Inneren der Kirche errichteten Katafalk, Sänger der Hofmusikkapelle intonieren das »Libera«.

Vor der Pforte zur Gruft dann das berühmte Ritual: Der Obersthofmeister klopft mit umflortem Stab an das verriegelte Tor und verlangt Einlaß.

»Wer ist da?« fragt Pater Guardian.

»Seine Majestät, der Allerdurchlauchtigste Kaiser Franz Joseph.«

»Ignosco. Den kenne ich nicht.«

»Der Kaiser von Österreich und Apostolische König von Ungarn.«


Habsburgischer Pompe funèbre: Rappen aus dem Hofgestüt Kladrub ziehen Kaiser Franz Josephs Leichenwagen.

Wieder die gleiche Antwort: »Ignosco. Den kenne ich nicht.«

Ein drittes Mal ertönt das Klopfen an die unverändert verschlossene Pforte.

»Wer verlangt Einlaß?«

»Ein sündiger Mensch, unser Bruder Franz Joseph.«

Nun endlich geht das Tor auf, ehrerbietig nehmen die Kapuzinermönche den Leichnam in ihre Obhut. Kaiser Karl und Kaiserin Zita, die den Trauerkondukt angeführt haben, verlassen die Kirche und begeben sich zurück in die Hofburg; auch die vieltausendköpfige Trauergemeinde und die die Straßen und Plätze ringsum bevölkernde Menschenmenge lösen sich auf, der über mehrere Stunden eingestellte Straßenbahn- und Stellwagenverkehr nimmt den Betrieb wieder auf. Der Leichenwagen mit seinem grandiosen Achtergespann aus schwarzgeschirrten Rappen rollt zurück in die Hofburg.

Es ist das vorletzte Mal, daß er in Funktion getreten ist; nur am 1. April 1989, über zweiundsiebzig Jahre später, wird der kaiserliche Leichenwagen noch ein Mal aus der Remise geholt werden: wenn Kaiserin Zita in der Kapuzinergruft beigesetzt wird. Seitdem ist er außer Dienst gestellt, das republikanische Österreich bedarf seiner nicht mehr, als Museumsstück bildet er eine der Attraktionen der Wagenburg von Schönbrunn.

Es ist deren Kustoden hoch anzurechnen, daß sie bei der Auswahl ihrer Exponate nicht verabsäumt haben, auch jener »Mitwirkenden« des habsburgischen Pompe funèbre zu gedenken, ohne deren Einsatz der kaiserliche Leichenwagen keinen Schritt von der Stelle gekommen wäre: der Pferde, die ihn unter den bewundernden Blicken der Wiener in prunkvollem Achtergespann durch die Straßen der Stadt gezogen haben.

Ich spreche von dem 1853 im Auftrag des Hofes angefertigten Ölgemälde, das an einer der Wände der Wagenburg prangt und den Blick freigibt auf das k. k. Hofgestüt von Kladrub, wo seit den Tagen Kaiser Rudolfs II., also seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, die Zugpferde für die Karossen der Habsburger gezüchtet werden: die Schimmel- und Rappenhengste der bei den Trauerkondukten eingesetzten Achterzüge und die hellbraunen Halbblüter für die Ausfahrten der übrigen Hofwagen. Daß die »Kladruber« schon damals – und erst recht heute – im Schatten der berühmteren Lipizzaner stehen, ist eine der vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt; nehmen wir das im Jahr 2004 begangene 425-Jahr-Jubiläum des Gestüts von Kladrub zum Anlaß, den »sanften Riesen« aus Ostböhmen, wie man die edlen Tiere immer wieder genannt hat, unsere Reverenz zu erweisen.

Schon Pardubitz, wo ich auf dem Weg nach Kladrub Zwischenstation mache, ist ein Mekka für Pferdefreunde: Die 100 000 Einwohner zählende Hauptstadt Ostböhmens, gut 200 Kilometer nördlich von Wien und 75 Kilometer östlich von Prag, ist berühmt für ihr alljährlich veranstaltetes Steeplechase, das als das älteste und schwierigste Hindernisrennen auf dem Kontinent gilt. Mich aber zieht es an die »Quelle«: Ich will den Ort kennenlernen, aus dem die Pferde für die königlichen Gespanne kommen, den Ort, wo sie geboren, aufgezogen und trainiert werden – im Frühjahr 2004 hat man sie im Fernsehen bewundern können, als sie das dänische Kronprinzenpaar anläßlich seiner Vermählung im offenen Landauer durch die Straßen von Kopenhagen gezogen haben.

Ich folge der Straße in Richtung Kolin, hinter der Ortschaft Prelouc biege ich nach rechts ab, überquere die Brücke der an dieser Stelle schmalen Elbe und sehe schon von weitem die ersten Koppeln mit den still weidenden Tieren, die – ähnlich den Lipizzanern – schwarz auf die Welt kommen und mit zunehmendem Alter Grautöne annehmen, um schließlich im makellosesten Weiß zu glänzen: ein Bild, das nicht nur das Herz der Pferdenarren höher schlagen läßt.

Schon der Blick auf die Pforte des im Jahr 2002 in den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals der Tschechischen Republik erhobenen Gestüts, wo ich von Lenka Gotthardová, der jungen Direktorin, freundlichst erwartet werde, bestätigt, was in allen Prospekttexten betont wird: In Kladrub ist die Zeit stehengeblieben. Das unter Maria Theresia erbaute Schlößchen samt angeschlossener Kirche erstrahlt in aufgefrischtem Kaisergelb, die über das 3000 Hektar große Areal verstreuten Farmen tragen nach wie vor Namen wie »Franzenshof« und »Josefshof«, und unter den Tafeln, die über Identität und Abstammung der einzelnen Tiere Auskunft geben, finde ich nicht nur solche mit Aufschriften wie Generale, Favory und Libanon, sondern auch einen Rudolfo, ja sogar einen »Almhirt«. In den Repräsentationsräumen hinter dem Verwaltungstrakt hängen die Porträts des Gestütgründers Rudolf II. und Maria Theresias an den Wänden; Gemälde erinnern daran, daß auch Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Sisi in Kladrub zu Gast gewesen sind.

Ich bin in guten Händen: Zuzana, die in Prag Zoologie studiert hat und in Kladrub unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit und Außenkontakte zuständig ist, übernimmt die Führung. Verschmitzt lächelnd überprüft sie mein Schuhwerk: Pferdeställe und Reithallen sind keine Ballsäle. Die meisten Tiere sind zur Zeit meines Besuches draußen auf ihren Weidegründen; die wenigen, die sich in ihren Boxen aufhalten, wenden sich neugierig dem Gast zu – und noch neugieriger dem Pfleger, der frisches Futter austeilt oder nach dem Brauseschlauch für die morgendliche Dusche greift. Es ist ein heißer Sommertag: Das Reinlichkeitsbad bringt zugleich Abkühlung.

Nach der Feuersbrunst von 1757, der große Teile des Gestüts zum Opfer gefallen sind, hat Kaiser Josef II. sämtliche Einrichtungen erneuern lassen: Ich stapfe über den Strohteppich der Mutter-Kind-Halle, werfe einen Blick in die Veterinärstation, nur das Haus mit den Quartieren für die rund hundertzwanzig Beschäftigten ist ein moderner Zweckbau. Die schnurgerade vom Hauptplatz wegstrebenden Alleen zu den einzelnen Höfen haben eine Länge von zweieinhalb Kilometern – eine von ihnen führt in den Nachbarort Reˇcaný mit seiner Bahnstation: Hier wurde, wenn hoher Besuch vom Wiener Hof ins Haus stand, der Ankömmling in großem Stil mit der Kutsche eingeholt.

Nebenbei erfahre ich alles über Tagwerk und Jahrespensum der »sanften Riesen«: Dreimal täglich werden sie gefüttert, mit vier Jahren setzt das Training ein, die »Prüfungsfächer« umfassen Sattel, Kutsche und Schwergewicht. Letzteres ist für das künftige Zugtier die wichtigste Bewährungsprobe: Durchschnittlich 90 Prozent der Kandidaten bestehen sie mit Bravour. So viel Aufwand hat natürlich seinen Preis: Mit mindestens 10 000 Euro muß der heutige Käufer rechnen, der sich für einen Kladruber interessiert. Der »Vorrat« ist ausreichend: An die fünfzig Fohlen sind es in der Regel, die pro Jahr zu dem Grundbestand der rund dreihundert ausgewachsenen Pferde hinzukommen.

Angefangen hat das Ganze im Jahr 1579: Kaiser Rudolf II., dem altspanischen Hofzeremoniell besonders verbunden, führt aus Spanien und Italien hochwertige Pferde ein und siedelt sie in den abgelegenen Ländereien um Kladrub an, um ein Gala-Zugtier für die kaiserlichen Karossen züchten zu lassen. Die neue Rasse gedeiht so prächtig, daß es unter Leopold I. bereits dreihundert Mutterstuten und dreißig Beschäler sind, die sich in dem ostböhmischen Hofgestüt tummeln. Für Wien wird eine Reserve von sechzehn Rappen und sechzehn Schimmeln »abgezweigt«, und das bedeutet bei Wagenpferden: sechzehn Paare, die in puncto Größe und Gestalt, Bewegung und Geschwindigkeit, Temperament und Charakter perfekt zueinanderpassen müssen. »In Anbetracht des harten Wiener Granitpflasters«, so lese ich in einem 1890 erschienenen Leitfaden zur Aufzucht der Kladruber Rasse, sind »knochenstarke Beine und feste Hufe« eine wichtige Voraussetzung. Und weiter: »Wagenpferde müssen sicher und vollkommen in Gehorsam sein, ruhig stehen und besonders beim Stadtdienste leicht und gut wenden.«

Am Wiener Hof legt man auch diesbezüglich größten Wert auf würdevolles Gebaren – im Gegensatz zum forschen Preußen, wo Kaiser Wilhelm es vorzieht, mit seinen Orloff-Trabern im Eilschritt nach Potsdam zu sausen. »Kaiser Franz Joseph hingegen«, so drückt es einer der früheren Gestütsleiter von Kladrub aus, »ließ die Pferde gemächlich und pompös agieren, damit das Volk, wenn es ihnen vom Straßenrand aus zuschaute, ja vielleicht stundenlang auf ihr Erscheinen gewartet hatte, das erhabene Schauspiel in aller Ruhe genießen konnte.«

Nichts bleibt in Kladrub dem Zufall überlassen; die 1890 im nahen Pardubitz veröffentlichte »Instruktion zur Belehrung der Chargen und Stationsleiter in den k. k. Staats-Hengsten-Depots« schreibt bis ins kleinste Detail »Stallordnung, Wartung und Pflege« vor. Greifen wir ein Beispiel heraus, das Tränken:«

»Zum Tränken der Hengste ist frisches Brunnenwasser zu verwenden, doch dürfen die Tiere niemals im erhitzten Zustande getränkt werden. Ist das Wasser sehr kalt, so ist es dadurch zu mildern, daß es eine Stunde vor dem Verabreichen im Tränkgefäße im Stalle stehengelassen wird. Auch ist, um das gierige Saufen zu verhindern, eine Handvoll Heu auf das Wasser zu legen.«

Noch strenger die Regeln in Sachen Fortpflanzung:

»Das Belegen der Stuten darf erst beginnen, wenn die Hengste vom Ausreiten zurückgekehrt, gut abgeputzt und ausgeruht sind. Eine halbe Stunde vor dem Mittagsfutter ist mit dem Belegen zu endigen. Des Nachmittags dürfen nur solche Hengste zum Belegen verwendet werden, die entweder bei einfachen Sprüngen des Vormittags nicht gedeckt haben oder denen zwei Sprünge des Tages erlaubt sind.«

Wie geht es nach dem Zusammenbruch der Monarchie mit dem vormaligen k. k. Hofgestüt weiter? Mehr schlecht als recht: Die edlen Tiere kämpfen um ihr Überleben, mit nur je sechzehn Stuten und zwei Beschälern beider Farbschläge, also Schimmel und Rappen, wird mühsam versucht, den Zuchtbetrieb aufrechtzuerhalten. Ein Fanatiker, der es auf die radikale Ausmerzung aller »österreichischen Überbleibsel« abgesehen hat, läßt sich dazu hinreißen, die beiden Schimmelhengste zu vergiften.

Das Desaster ist vollkommen, als man zwischen 1924 und 1929 dem Ruf der heimischen Bauern nach kräftigen Ackergäulen nachzukommen versucht und schwere Oldenburger nach Kladrub holt. Erst 1941 kann mit der Regenerierung der Rappen begonnen werden; auch gelingt es trotz der deutschen Besatzung, die Tiere von der Front fernzuhalten.

Neue Gefahr für die Erhaltung der Kladruber droht nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kommunisten die Macht im Land übernehmen: Aus dem Gestüt wird ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, der vor allem die Rinder- und Schweinezucht forciert. Immerhin gelingt es den verantwortungsbewußten Männern an der Spitze des Unternehmens, die zuständigen staatlichen Instanzen davon zu überzeugen, daß es zu den nationalen Pflichten gehört, die »einzige bodenständige Pferderasse« zu erhalten, und so muß man, als sich mit der Wende von 1989 ein neuer Aufschwung für Kladrub abzeichnet, nicht gerade bei null anfangen.

Heute erlebt der Besucher das Národní hřebčin als gutfunktionierenden Staatsbetrieb, der unter keinen Umständen privatisiert werden darf; das Landwirtschaftsministerium der Tschechischen Republik, dem er unterstellt ist, hat ihn zum nationalen Kulturdenkmal erklärt, zur »Gen-Reserve« in Sachen Pferdezucht. Geht eines der zum Verkauf freigegebenen Tiere ins Ausland, müssen zwei Ministerien in Prag ihre Zustimmung erteilen. »Es ist fast so wie bei der Veräußerung eines kostbaren alten Gemäldes aus einem der großen Museen«, sagt einer der internationalen Experten, der es wissen muß, und er fügt hinzu: »Das Altkladruber Pferd von heute unterscheidet sich in nichts von seinem Vorgänger aus dem 16. Jahrhundert, wie man ihn auf den historischen Darstellungen abgebildet findet.«

Zwar machen die Kladruber auch als Reit- und Dressurpferde Furore, doch ihre eigentliche Stärke ist und bleibt das Gespann. Der Besucher, der nicht das Glück hat, einem der großen Turniere beiwohnen zu können, die mehrmals im Jahr an Ort und Stelle stattfinden, kann sich zumindest bei einer der Kutschfahrten, die das Gestüt – je nach Wunsch zweispännig oder vierspännig – anbietet, von Schönheit und Talent der »sanften Riesen« überzeugen, und fällt sein Aufenthalt in die kalte Jahreszeit, kann er von der Karosse auf den Schlitten umsteigen.

Den Gast, der aus Österreich anreist, erwartet eine zusätzliche Freude: In Kladrub ist nichts von jenen Vorbehalten zu spüren, die noch immer in vielen Teilen des heutigen Tschechien gegenüber der »alten Zeit« gehegt werden, als hier noch der Kaiser im fernen Wien den Ton angegeben hat. »Herzlich willkommen« lese ich auf der am Eingang des Gestüts angebrachten Tafel, die den Besucher über die Besichtigungstermine informiert, und ich lese es nicht nur in Tschechisch und in Englisch, sondern auch in makellosem Deutsch.

Geliebtes Geschöpf

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