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Große Namen Am liebsten ein Chow-Chow
Оглавление»Therapiehunde« à la Sigmund Freud
Als Sigmund Freud im September 1939 dreiundachtzigjährig stirbt, hinterläßt er nicht nur eine große Familie, sondern auch zwei Hunde. Der Rüde Lün ist der zweite und letzte in der Reihe der von ihm so besonders geliebten Chow-Chows. Vor einiger Zeit hat sich Freuds Menagerie im Londoner Exil auch noch um einen Pekinesen namens Jumbo vermehrt. Tochter Anna, der vor allem die Betreuung des Nachlasses und die zügige Weiterführung der Arbeit ihres Vaters obliegt, trifft Vorkehrungen, daß auch für das Wohl der beiden Hundewaisen gesorgt ist. Damit das Hauspersonal in Maresfield Gardens Nr. 20 für den Fall des Abgangs der langjährigen, aus dem Salzburgischen stammenden und mit der Familie nach England emigrierten »Perle« Paula Fichtl über die Bedürfnisse von Lün und Jumbo instruiert ist, tippt die vierundvierzigjährige Anna Freud einen Speisezettel in ihre Schreibmaschine, selbstverständlich in ihrer neuen Umgangssprache Englisch. Für die Morgenfütterung sind Milch und Schwarzbrottoast vorgesehen, dazu ein Teelöffel Lebertran, zwei Tropfen Heilbuttöl sowie Beigaben von Calcium und Phosphat. Die zweite Mahlzeit besteht aus zwei Unzen gekochtem Faschierten oder Fisch, desgleichen die um Gemüse ergänzte dritte, wobei darauf zu achten ist, daß darin »nothing fibrous« enthalten ist, also keine Fasern. Erst zum Tagesabschluß wird’s karger: Kuchen oder Keks.
In Sigmund Freuds Leben haben zu allen Zeiten Hunde eine besondere Rolle gespielt. Man braucht nur einen Blick auf die seinen Schreibtisch zierende Artefaktensammlung zu werfen: Unter den bronzenen Statuetten, Gipsfiguren und Vasen, die dem Herrn Professor bei seiner Arbeit als Stimulantien dienen, findet sich auch die Miniaturskulptur eines jener kurzschnäuzigen Fo-Hunde, die im alten China als heilig gegolten und die Pforten der Tempel bewacht haben.
1891 haben die Freuds ihre Wohnung in der Wiener Berggasse Nr. 19 bezogen. Der Vierbeiner, den sie 1925 anschaffen, ist ein Schäferhund, der auf den Namen Wolf hört; er soll Tochter Anna, das jüngste der sechs Kinder, bei ihren abendlichen Spaziergängen beschützen, die sie meist allein zu unternehmen pflegt. Für den eigenen »Bedarf« wählt Freud einen Chow-Chow, den ihm Annas Freundin Dorothy Burlington zum Geschenk gemacht hat. Die Tochter des New Yorker Nobeljuweliers und Millionärs Louis Comfort Tiffany ist mit ihren vier Kindern aus den USA nach Wien übersiedelt, um mit den Mitteln der Psychoanalyse Rettung aus ihrer gescheiterten Ehe mit dem zeitweise geistesgestörten Dr. Robert Burlington zu finden. Dorothy ist eine begeisterte Chow-Chow-Züchterin.
Welch enge Verbindung Freud in den folgenden Jahren mit Jofie – so der Name der Hündin – eingehen wird, kann sich zu diesem Zeitpunkt niemand, auch nicht der Herr Professor selbst, vorstellen. Das gute Tier legt sich ihm, wenn er das Arbeitszimmer betritt, unter dem Schreibtisch zu Füßen und läßt sich von ihm, so oft er von seinen Büchern oder Manuskripten aufschaut, streicheln. Nach den Mahlzeiten, bei denen der seit seiner Krebserkrankung Appetitlose nur mäßig zulangt, darf Jofie die Reste verzehren – sehr zum Verdruß der Ehefrau Martha, die sich nichts aus Haustieren macht und schon gar nichts aus Hunden, die ihr fürchterlich auf die Nerven gehen. Doch angesichts des autokratischen Lebensstils ihres Mannes bleibt der fünf Jahre Jüngeren nichts anderes übrig, als sich wortlos zu fügen.
Prof. Freud mit »Sprechstundenhilfe« Jofie
Auch im Behandlungszimmer ist Hündin Jofie stets mit von der Partie, wenn der Begründer der Psychoanalyse seine Patientinnen (und in geringerer Zahl Patienten) zur Sitzung empfängt. Für gewöhnlich verharrt das ruhige und gegenüber Fremden distanzierte Tier bewegungslos neben dem Sessel seines Herrls. Nur bei Besuchern oder Patienten, von denen sich Jofie unwillig schnüffelnd oder gar knurrend abwendet, ist Gefahr im Verzug: Gefahr, daß der Herr Professor das Signal »aufnimmt« und in die Beurteilung des Betreffenden einbezieht. »Wen die Jofie nicht mag«, so zitiert Haushälterin Paula Fichtl ihren Dienstgeber, »bei dem stimmt etwas nicht.« Und natürlich, so fährt sie fort, »hat die Jofie immer recht gehabt.« Sind die zwischen Arzt und Patient vereinbarten 50 Minuten um, erhebt sich Freuds vierbeinige »Assistentin« von ihrem Sitzplatz und kündigt auf diese Weise das Ende der Sitzung an.
Wenn die Familie von Mai bis Oktober aus der Stadtwohnung ins Sommerquartier im Vorortbezirk Pötzleinsdorf übersiedelt, genießt die blauzüngige Hündin mit dem zimtfarbenen Fell den Auslauf im weitläufigen Park, den sie nur dann fluchtartig verläßt, wenn ein Gewitter aufzieht. Ist sie vom Regen überrascht worden, besteht Frau Martha darauf, daß das Tier bei der Rückkehr ins Haus eingeseift und einer gründlichen Waschung unterzogen wird. Was Sigmund Freud gar nicht ausstehen kann, sind Versuche, Jofie zu albernen Späßchen zu »mißbrauchen« – so etwa, als Haushälterin Paula dem Chow-Chow einmal einen Pullover überzieht und ein Mützchen aufsetzt. »Das Tier ist doch kein Mensch!« weist Freud die Übermütige streng zurecht.
Schlimm wird es für Freud, als 1937 die schon fast blinde Jofie schwer erkrankt: Der Tierarzt diagnostiziert Krebs: Der Chow-Chow muß eingeschläfert werden. Der Schmerz über den herben Verlust läßt sich nur überwinden, indem ein Ersatz ins Haus kommt. Es ist abermals ein Exemplar jener altchinesischen Rasse, die in ihrer Urheimat »Löwenhund« genannt wird (und der unter vielen anderen auch Queen Victoria seinerzeit verfallen war). Lün, der Neue, ist ein kräftiger Rüde, den Freud schon vor einigen Jahren aufnehmen wollte, um Jofie mit einem Gefährten zu versorgen, doch da die beiden nicht von ihrem ständigen Raufen abließen, mußte zuerst noch Jofies Tod abgewartet werden.
Nun aber sind die gewohnten Verhältnisse wiederhergestellt: Auch Lün genießt die uneingeschränkte Zuneigung seines Herrls, er wird Freud um viele Jahre überleben. Sogar auf dem schweren Weg ins Exil begleitet das gute Tier die seit Österreichs »Anschluß« an Nazi-Deutschland in der Heimat verpönte Familie. Als Freud am Abend des 10. März 1938 durch den Telefonanruf eines Freundes erfährt, daß am folgenden Tag Adolf Hitler in Wien eintreffen wird, bekommt auch Lün die gedrückte Stimmung zu spüren, die in der Berggasse 19 ausbricht. Statt das Nachtmahl anzurühren, wendet sich Freud seinem vierbeinigen Hausgenossen zu und versucht mit einer Überdosis Streicheln die eigene Nervosität zu bannen.
Im Orientexpress Richtung Paris, den die vierköpfige Reisegesellschaft am Morgen des Pfingstsamstags auf dem Wiener Westbahnhof besteigt, sind zwei Abteile reserviert; in dem des Herrn Professor, seiner Frau und Tochter Anna nimmt selbstverständlich auch der Hund Platz. Die Weiterfahrt von Paris nach Calais und das Umsteigen in die Eisenbahnfähre nach Dover verlaufen ohne Zwischenfälle: Die Freuds reisen mit Diplomatenpaß, können ohne Zollformalitäten den Boden des Vereinigten Königreichs betreten. Umso härter trifft es den Zweiundachtzigjährigen, daß sein Chow-Chow den strengen englischen Einreisebestimmungen gemäß in Quarantäne muß. Sechs Monate werden Herr und Hund voneinander getrennt sein; ein Glück nur, daß man den im Tierasyl in South Kensington eingesperrten Lün von der Wohnung aus, die die Familie Freud im Stadtteil St. John’s Wood bezogen hat, besuchen kann. Der Chow Chow stößt erst im Laufe des Dezember, als die Freuds in ihr neues und endgültiges Heim im Villenviertel Maresfield übersiedelt sind, wieder zu den Seinen. Der inzwischen todkranke Professor lebt durch die Nähe des geliebten Tieres, dem sich unterdessen ein zweiter Hund, der Pekinese Jumbo, hinzugesellt hat, sichtlich auf. Nur, als sich im Februar 1939 die Anzeichen für Freuds nahendes Ende mehren, hat der Patient damit fertigzuwerden, daß Liebling Lün immer häufiger dessen Nähe meidet: Der Geruch des mittlerweile offenen Krebsherdes vertreibt das Tier aus der Nähe des todgeweihten Herrls. Schon Monate vor Sigmund Freuds Ableben am 23. September 1939 geht die Obsorge für die »Waisen« Lün und Jumbo zu gleichen Teilen auf Tochter Anna und Haushälterin Paula über.
Von einer schriftlichen Würdigung seiner vierbeinigen Gefährten, wie sie etwa in Gestalt von Thomas Manns berühmtem Porträt seines Lieblingshundes Bauschan, der Erzählung »Herr und Hund«, vorliegt, ist seitens Sigmund Freud nichts bekannt. Umso mehr hat sich die Wissenschaft des Themas angenommen. Über das heutige Allgemeinwissen hinaus, wonach der Umgang mit Haustieren und insbesondere mit Hunden von heilsamer Wirkung sein, ja bei kranken und vereinsamten alten Menschen geradezu Wunder wirken und nicht zuletzt den Massenverbrauch von Antidepressiva eindämmen kann, hat sich in den Disziplinen Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse schon vor Jahrzehnten eine eigene Fachrichtung etabliert, die die diesbezüglichen Erkenntnisse therapeutisch zu nützen weiß. Nicht nur die Sigmund Freud Privatuniversität in Wien bietet im Rahmen des Psychologiestudiums ein Zusatzmodul »Tiergestützte Therapie und Coaching« an. Und der Österreichische Tierschutzverein, dem Freud seinerzeit angehört hat, erinnert bei jeder sich bietenden Gelegenheit voll Stolz daran, daß sein prominentestes Mitglied die Arbeit der Jugendgruppe »Blaues Kreuz« mit eigenen Kursen zum Thema »Therapiehund« unterstützt hat. Wolf, Jofie, Lün und Jumbo haben ihm dazu das Material geliefert.