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Vom Anfang der Welt – und von ihrem Ende
ОглавлениеWer heute Ägypten bereist und einen Eindruck von der alten Größe der pharaonischen Kultur bekommen möchte, begibt sich nach seiner Ankunft in Kairo zu den Pyramidenfeldern von Giza, Saqqara und Dahschur und selbstverständlich in das Ägyptische Museum von Kairo, wo seit mehr als 100 Jahren im Stadtzentrum am Tahrir-Platz die wichtigsten Denkmäler der vorchristlichen Zeit gesammelt und ausgestellt werden. Mit dem Eindruck kaum übersehbarer Mengen an Statuen, Stelen und Reliefs und vor allem des Schatzes des Tutanchamun verlässt der Reisende Kairo, wahrscheinlich in Richtung Oberägypten. Tempelanlagen wie der große Reichstempel des Amun in Karnak, der ausgezeichnet erhaltene Luxor-Tempel und die Westseite mit den prachtvollen Königs- und Beamtengräbern hinterlassen hier nachhaltigen Eindruck. Gerade was die Denkmäler berühmter Könige wie etwa Thutmosis oder Ramses anbelangt, wird nach dem Ende der Reise vor allem der Süden des Landes in Erinnerung bleiben.
Dies ist jedoch ein verzerrtes Bild, denn heute wie in alter Zeit ist es das Gebiet des Nildeltas, des Großraums Kairo und des unmittelbar südlich anschließenden Streifens des Niltals, das die meisten Menschen ernähren kann und in dem zu den meisten Zeiten auch das politische Zentrum des Landes lag. Nur wer das Delta beherrscht, hat Zugriff auf den großen Schatz der antiken Welt: die schier endlos erscheinenden Anbauflächen. Und so lagen im 3. und frühen 2. Jahrtausend v. Chr. auf einer Strecke von gut 60 Kilometern die großen Pyramidenbezirke mit den heute nicht mehr sichtbaren, gewaltigen urbanen Ballungsräumen, den sogenannten Pyramidenstädten. Sicher, tagespolitisch bedingt gelang es auch immer wieder Familien aus dem Süden des Landes, die Macht über ganz Ägypten an sich zu reißen. Jedoch war es meist nur eine Frage von wenigen Generationen, bis sich der Herrschaftssitz wieder an der „Waage der beiden Länder“, wie der memphitische Raum genannt wurde, befand. Es überrascht daher auch nicht, dass die zentralen Mythen des alten Ägypten zunächst ausschließlich im Norden angesiedelt sind, auf den letzten Kilometern, bevor sich der Hauptarm des Flusses im heutigen Stadtgebiet von Kairo in die verschiedenen Nilarme aufspaltet.
Die Mythen lassen sich im Wesentlichen in zwei große Handlungsgruppen unterteilen, die allerdings auch ursächlich zusammenhängen. Die erste handelt von der Schöpfung der Welt, die zweite von der Erfindung der rechtmäßigen Herrschaft. Sie sind in der frühesten Zeit nicht etwa als zusammenhängender, heiliger Text überliefert (S. 26–27), sondern wurden über 2000 Jahre ausschnitthaft und durch mündliche Überlieferung weitergegeben. Der Ägyptologe Kurt Sethe drückte es 1930 sehr treffend aus:
Ritualtexte in der Pyramide des Teti in Saqqara, um 2300 v. Chr.
Man hat von dem Volk der alten Ägypter mit Recht gesagt, daß es im Unterschied zu anderen Völkern seine Eierschalen immer mit sich herumgetragen habe (…), dass sie, wo ein neues Ding ein altes ablösen sollte, das alte nicht einfach spurlos verschwinden lassen, sondern es womöglich wie ein rudimentäres Organ neben dem neuen fortbestehen lassen. Bei den Ägyptern tritt man denn auch auf Schritt und Tritt auf Überbleibsel aus vergangenen Perioden (…).
Die frühesten als Korpus erhaltenen Texte sind die sogenannten Pyramidentexte. Sie wurden im 19. Jahrhundert zunächst auf den Wänden der Pyramiden von Königen der 5. bis 6. Dynastie und von Königinnen der 6. Dynastie entdeckt (Abb. S. 24). Bei diesen sorgfältig in den Stein der Kammerwände geschlagenen Texten handelt es sich wohl nur um eine neue Form der Anbringung – die Texte selbst stammen überwiegend aus dem Tempelkult und wurden ursprünglich auf Papyri in den Archiven verschiedener Heiligtümer aufgezeichnet. Sie wurden in unterschiedlichen Zusammenstellungen, sogenannten Liturgien, vor allem rezitiert und behandelten eine Vielfalt von Themen. Das Ziel der Anbringung dieser Textsammlung an den Pyramidenwänden war es, den Himmelsaufstieg des Herrschers und seine Verwandlung in einen machtvollen Jenseitsherrscher magisch zu fixieren. Was für jede bisherige Grabdarstellung galt, wurde auch für diese Textanbringung erwartet: Sie sollten ihren Inhalt bewirken. Mit den Pyramidentexten erhalten wir also gegen 2400 v. Chr. erstmals eine zusammenhängende Vorstellung von den Mythen, den altägyptischen Vorstellungen zu den Zusammenhängen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt.
Nun sind auch die Pyramidentexte keine einfach zu verstehende Literatur. Sie sind voller Anspielungen, die dem damaligen Rezitator oder Zuhörer sofort verständlich gewesen sein müssen. Diese Selbstverständlichkeit ist für uns heute ein Problem, denn es fehlen vielfach die Erklärungen für bestimmte Begriffe. Um nur einige Beispiele zu nennen: Wir wissen nicht, was es genau mit dem Benu-Vogel auf sich hat, der von den Griechen als Phönix bezeichnet wurde, zunächst aber als ein kleiner Stelzenvogel dargestellt wurde. Wir haben keine Möglichkeit, herauszubekommen, was im Detail wirklich mit den „Seelen (altägyptisch: Bau) von Heliopolis“ gemeint ist, die schon in den ältesten Ritualtexten um 2400 v. Chr. erscheinen. Und auch was es mit dem Benben-Stein auf sich hat, ist unklar; in irgendeiner Weise muss er mit der Weltschöpfung zu tun haben, und möglicherweise spielte er bei der Entstehung der Obeliskenform eine Rolle.
Noch ein weiterer Aspekt erschwert dem neuzeitlichen Leser das Verständnis der frühesten Aufzeichnungen zum Thema Weltschöpfung: Es gibt keinen kanonischen Schöpfungsmythos. Das alte Ägypten hat keine verbindliche Vorlage hinterlassen, vergleichbar etwa dem ersten Kapitel der Genesis im Alten Testament: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser …“ Es scheint geradezu ein Charakteristikum des ägyptischen Kulturkreises zu sein, dass es zunächst eben keine Festlegung auf einen einzigen heiligen Text gab, der verbindlich und über längere Zeit die „wahre“ Version der Weltschöpfung vorgab. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Anspielungen, die sich durchaus in Details auch widersprechen können. Das Gleiche gilt auch für die Mythen anderer Orte: Ptah, der lokale Hauptgott der späteren Königshauptstadt Memphis, gehört beispielsweise dazu; viele Eltern gaben im 3. Jahrtausend v. Chr. ihren Kindern Namen, die diesen Gott nennen, wie z.B. Ptah-hotep oder Schepses-Ptah. Dies lässt zweifelsohne auf die große Bedeutung des Gottes in der memphitischen Region schließen. Aber ein verbindlicher Text zur Gestalt und Geschichte dieses Gottes der Hauptstadtregion Ägyptens fehlt. Und sogar für den Mythos des Totengottes Osiris, dem erstmals die Überwindung des Todes gelang, indem er mittels der Mumifizierung den Weg zum geordneten, segensreichen, ewigen Leben wies, gibt es keine verbindliche „Schrift“. Es ging also nicht um das exakte fehlerfreie Wiederholen alter, verbindlicher Vorlagen. Stattdessen können wir uns die Überlieferung sehr lebendig vorstellen: Mythen wurden vor allem mündlich weitergegeben, häufig rezitiert und durch ständige theologische Arbeit erweitert oder angepasst.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Anspielungen auf die Weltschöpfung in den Pyramidentexten kein Selbstzweck waren; sie waren nicht das Ziel der Niederschrift der heiligen Texte. Die magische Wirksamkeit der Texte sollte beispielsweise den König in eine Zeit und Welt ohne Schuld, Tod und Schrecken versetzen, um seinen Schutz, sein Wohlergehen und seine Macht zu sichern. Eine solche Welt hatte es nun einmal nur ganz am Beginn der Schöpfung gegeben, und dies war der Anlass, die Idee der Weltschöpfung im Text auszubreiten (siehe S. 34, 40).
Aber auch wenn es über lange Zeit keinen einheitlichen und niedergeschriebenen Schöpfungsmythos gab, reichen die Exzerpte aus der Überlieferung für eine Rekonstruktion der altägyptischen Vorstellung vom Schöpfungsvorgang aus:
Der Protagonist am Anfang der Welt war der heliopolitanische Hauptgott Atum. Die Bedeutung des Namens Atum wird heutzutage vielfach zu Recht mit „das All“ wiedergegeben. Man benutzte den zugrunde liegenden Wortstamm „tem“, um z.B. die Gesamtheit auszudrücken. Zugleich wurde derselbe Wortstamm aber auch zur Negation bestimmter Verbalformen verwendet. Damit wird deutlich, welche Grundidee bei der Nennung des „Atum“ vorherrschte: Das Potenzial zu allem ist da, aber noch nichts ist tatsächlich vorhanden. Atum ist die Gesamtheit der Präexistenz, der ewig zurückreichende Moment der Zeit vor der Zeit. Und dann geschieht das Wunder: Ohne Anstoß oder Absicht verdichtet sich das All Atum; spontan und aus dem Nichts entsteht das Licht – der erste Sonnenaufgang. Viele Jahrhunderte lang wird in ägyptischen Texten dieser Moment als „das erste Mal“ beschrieben. Licht bringt Zeit, und Zeit bedeutet Entwicklung. Der Anfang ist gemacht, sein Ort ist Heliopolis.
Der Gott Atum am Tor Nektanebos’ I. in Heliopolis, 380–363 v. Chr.
Bemerkenswert ist an dieser Schilderung, dass Gott nicht als Schöpfer von außen herantritt und beginnt, die sichtbare Welt zu erschaffen. Stattdessen verändert sich das All, also Atum, in einer sehr naturwissenschaftlich anmutenden Weise vom Nichts in Licht. Die Sprachbilder für diesen Prozess in den ägyptischen Texten seit 2400 v. Chr. versuchen den Charakter dieser plötzlichen Selbstentfaltung genau zu beschreiben: Atum entfaltet sich spontan, einer Zellteilung gleich, in Materie. Die Texte lassen ihn spucken, weinen, ejakulieren oder schwitzen. Durch diese „Zellteilung“ entsteht aus der Einheit Atums die Vielheit. Das erste Götterpaar, das daraus hervorgeht, ist Luft und Feuer (und somit Licht/Hitze), Schu und Tefnut.
Der klassische für diesen Vorgang herangezogene Text findet sich in den unterirdischen Anlagen der Pyramide Pepis I., des zweiten Königs der 6. Dynastie, um 2300 v. Chr. In der Zählung dieser Ritualtexte läuft er als der 600. Spruch der Pyramidentexte. Atum wird hier zum Urhügel, auf dem nun alles beginnen kann:
Atum-Cheperer
Hoch bist du geworden als Anhöhe,
erschienen bist du als Benben im Haus des Phönix-Vogels
in Heliopolis.
Du spucktest aus als (dadurch entstehender) Schu.
Du hustetest aus als (dadurch entstehende) Tefnut.
Du hast deine Arme um sie gelegt mit deiner Lebensenergie (= Ka), damit deine Lebensenergie (= Ka) in ihnen sei.
Die Natur des Benben-Steins ist genauso rätselhaft wie die Rolle des Benu-Vogels. Sicher ist nur, dass beide Wörter mit der Grundbedeutung „emporsteigen“ zu tun haben.
Für die Fortsetzung der Geschichte lohnt es sich, in einem etwas späteren großen Textkorpus, den sogenannten Sargtexten, nachzulesen. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von Liturgien, die zunächst an den Innenseiten von Särgen der Zeit ab 2100 v. Chr. angebracht wurden, die aber nun anstelle des Königs den nichtköniglichen, höhergestellten Menschen zum Himmelsaufstieg und zur freien Beweglichkeit im Jenseits verhelfen sollten. Der springende Punkt beim Schöpfungsbeginn ist auch hier der Gedanke, dass er spontan geschieht, aus sich selbst heraus. Die z.B. in Spruch 1130 verwendeten Bilder sind das Weinen und das Schwitzen des Schöpfergottes:
Aus meinem Schweiß ließ ich die Götter entstehen, und die Menschen stammen aus den Tränen meines Auges. Ich leuchte immerfort, wobei ich täglich in dieser meiner Würde des Allherrn sichtbar bin, während ich für den Müdherzigen die Nacht eingerichtet habe.
In der Spruchgruppe 75–80 kommt nun der erste Abkömmling der Urmaterie, Luft-und-Licht, zu Wort und erzählt von seiner geheimnisvollen Entstehung:
Ich bin die Manifestation (= Ba) des Schu, der Gott, der aus sich selbst entstand. Ich bin entstanden aus dem Leib des Gottes, der sich selbst erschuf.
Ich bin die Manifestation (= Ba) des Gottes von verborgener Gestalt, hervorgegangen bin ich aus dem Leib des Gottes, der sich selbst erschuf.
Ich bin der, der ein Teil ist von dem Gott, der sich selbst erschuf.
Hervorgegangen bin ich aus ihm.
Und etwas später heißt es im gleichen Text:
Ich werde euch von meiner Entstehung aus meiner eigenen Gestalt berichten:
Fragt nicht beim Ur-Ozean (= Nun) nach meiner Herkunft.
Der Nun sah mich, wie ich entstand,
aber nicht kennt er den Platz, wo ich hervorkam,
und er sah auch nicht, wie ich vor ihm entstand!
Ich bin aus dem Leib des selbstentstandenen Gottes hervorgegangen.
Er hat mich willentlich erschaffen.
Er erschuf mich durch seine Verwandlungs-Kräfte (= Achu).
(…)
Ich bin der von unsichtbarer Gestalt, bestehend seit dem Licht.
Schu kommt mit seinem Zwilling, dem Feuer (= Tefnut), auf die Welt. Das stringent durchdachte Bild der Sargtext-Spruchgruppe 75–80 zeigt auch gleich, was mit der Schöpfung verbunden ist, denn hier spricht wieder die Urmaterie, das All, Atum. Im Folgenden wird ausgebreitet, dass aus der „Implosion in die Materie“ ein Zwillingspaar entsteht: Schu (Luft) und Tefnut (dem Feuer, das Licht und Hitze bringt):
Diese meine lebende Tochter ist Tefnut.
Gemeinsam soll sie sein mit Schu, ihrem Bruder.
Leben sei sein Name, Ordnung/Gerechtigkeit (= Maat) sei ihr
Name.
Leben werde ich mit meinen Zwillingskindern,
leben werde ich mit meinen Nestlingen,
und so bin ich in ihrer Mitte, welche einzig sein sollen hinter mir
und vor mir.
Ruhen und leben werde ich mit meiner Tochter Ordnung/Gerechtigkeit (= Maat) und meinem Sohn Schu, eine in mir, einer vor mir. Erhebe ich mich von ihnen, so umfangen mich ihre Arme.
In eben diesem Kontext wird nun ganz konkret auch Heliopolis als die ursprüngliche Heimstatt des Schöpfergottes und seiner Nachkommen genannt:
(…) und ich fand nicht einen Ort, an dem ich mich hätte erheben können.
Und ich fand nicht einen Ort, an dem ich mich hätte niederlassen können,
weil eben Heliopolis noch nicht gegründet war, damit ich in ihm sein könnte
(…),
bevor ich den Himmel (= Nut) schuf, damit er über mir sei,
bevor die erste Generation geboren war,
bevor die urzeitliche Neunheit entstanden war, damit er bei mir sei.
Ich bin das Leben, der Herr der Jahre.
Durch seine Verwandlungs-Kraft (= Achu) erschuf Atum das Älteste in Gestalt von Schu und Tefnut in Heliopolis,
als er noch allein war
und sich zu Dreien entfaltete,
und er Erde (= Geb) von Himmel (= Nut) trennte,
als die erste Generation noch nicht geboren war und die urzeitliche
Göttergemeinschaft (= Neunheit) noch nicht entstanden!
In einer Selbstdarstellung beschreibt der Schöpfergott Atum, wie die Welt vor Schu und Tefnut ausgesehen hat und was nach ihrer Erschaffung geschah: Das Götterpaar der ersten Generation entfaltet sich wiederum in der nächsten Generation, denn nun entstehen Geb (der feste Erdboden) und seine Geschwisterfrau Nut (der Himmel). Ähnliche Generationswechsel sind auch aus der Mythologie anderer alter Kulturen bekannt. Dort werden sie oftmals gewalttätig gedacht. Ein bekannteres Beispiel ist in der griechischen Mythologie die Ablösung der Titanen durch Zeus und seine Familie. Zumindest ein verhältnismäßig später Text des 1. Jahrtausends v. Chr. aus einem Ort im Delta kennt ähnliche Gewalttätigkeit als Bedingung für die Übernahme der Herrschaft durch eine neue Generation (die Texte des 3. Jahrtausends v. Chr. aber kennen einen derartigen Konflikt noch nicht).
Himmel und Erde wiederum haben vier Kinder: Osiris, Isis, Seth und Nephthys. In späteren Texten werden diese vier Namen mit geologischen Elementen gleichgesetzt: Fluss, Fruchtland, Wüste, Sumpfland. Diese Details fehlen den frühen Darstellungen allerdings noch. Mit der dritten Generation ist die sogenannte „Neunheit“ der Götter komplett: Atum, Schu, Tefnut, Geb, Nut, Osiris, Isis, Seth, Nephthys. Ganz nach dem weltweit gültigen Zahlenschema – eins ist das Individuum, zwei ist das Paar, drei machen eine Gemeinschaft – greift hier das Bild eines sozialen Plurals: 3 x 3 = 9. Die neun Götter stehen für die Götterwelt in ihrer Gesamtheit, und die wichtigste Neunheit dieser ersten Jahrhunderte ägyptischer Textarbeit ist die „Neunheit“ von Heliopolis, wie etwa im 600. Spruch der Pyramidentexte:
Oh du große Neunheit, die in Heliopolis ist,
Atum,
Schu und Tefnut,
Geb und Nut,
Osiris und Isis,
Seth und Nephthys,
(also) die Kinder des Atum,
dessen Herz seiner Nachkommen wegen froh ist.
Mit der Komplettierung der Neunheit nimmt der Konflikt seinen Anfang. In dieser dritten Generation entbrennt ein Kampf um die rechtmäßige Herrschaft: Osiris ist als König bestimmt. Sein Bruder Seth hingegen verfolgt und ermordet ihn. Dem Geschwisterpaar Isis und Nephthys jedoch gelingt die Wiederbelebung des Bruders, und der Sohn von Osiris und Isis namens Horus wird schließlich vor dem höchsten Gerichtshof als zukünftiger Herrscher bestätigt. Erstmals in der Geschichte wird damit das Recht des Stärkeren durch das Recht der legitimen Nachfolge abgelöst. Das politische Heil Ägyptens leitet sich somit auf logisch-natürliche Weise und juristisch korrekt von der Substanz der Welt ab. Schon in Texten des früheren 2. Jahrtausends v. Chr. wird daher ganz selbstverständlich über den Gott Osiris gesagt: „dem seine Herrschaft in Heliopolis gegeben wurde“. Noch entscheidender ist für die Kulturgeschichte Ägyptens, dass jeder König in den historischen Zeiten als „Horus“ auftrat. Die frühesten Königsnamen Ägyptens waren „Horus-Namen“ und wurden mit dem voran- bzw. darübergestellten Bild des Horus-Falkens geschrieben. Und es war diese grundlegende Vorstellung, die alle zukünftigen Könige Ägyptens an den Ort des Gerichts und die Stätte des Schöpfergottes zurückkehren ließ.
An diese Gemeinschaft der ersten neun Gottheiten sucht nun in den ältesten Texten der Verstorbene Anschluss. Die Bilder, die hier in den Texten gezeichnet werden, suchen das Heil im Anfang. Die Logik der Gedanken sucht die Zeit ohne Tod, und so heißt es in Spruch 571 der Pyramidentexte:
Der verstorbene König wurde geboren durch seinen Vater Atum,
(noch) bevor Himmel und Erde entstanden waren,
bevor Menschen entstanden waren, bevor Götter geboren waren,
bevor der Tod entstanden war.
Geschützt ist der verstorbene König am Tag des Todes,
gleich wie auch (der Gott) Seth an seinem Todestag entkommt.
Eigentlich ist der Gedanke klar und einfach: Das All ist ursprünglich alles und nichts, das Potenzial zu allem ist vorhanden, aber noch nichts ist da. Der Schöpfungsprozess wird, anders als im jüdisch-christlich-islamischen Weltbild, nicht als separierter Vorgang zwischen Gott und Schöpfung gesehen. In Ägypten ist nicht der Geist Gottes über den Wassern, sondern der Erdboden ist in einem sehr physikalisch gedachten Ablauf ein Spaltungsprodukt des Schöpfergottes. In dieser Spaltungsidee infolge der Implosion folgt der Konflikt zwischen Osiris, Horus und Seth, dessen Lösung (S. 36–37) das ideale Vorbild für die Nachfolgeregelung in der Herrschaft des alten Ägypten wird.
Wenn man über den Anfang spricht, sollte man sich auch das Ende der Welt ansehen. Die ägyptische Apokalypse ist anders konstruiert, als wir es von anderen Kulturen, unserer eigenen mit eingeschlossen, kennen. Die Vorstellung des Weltuntergangs hat sich nicht mit einem Inferno oder einem Rückfall zur Natur verbunden. Das Ende der Welt wurde eher in Begriffen wie Stillstand, Dunkelheit und Sinnentleerung gedacht. Der Stillstand leitet sich von einer nautischen Vorstellung von der Herrschaft ab: So wie die frühesten Könige Ägyptens das Land mit Inspektionen zu Schiff auf dem Fluss durchreisten, so dachte man sich auch die Bewegung des Sonnengottes zu Schiff. Er vollzieht den Sonnenlauf auf einer gewaltigen Barke, die morgens und abends unterschiedliche Namen trägt. Die größte Gefahr für den Sonnenlauf stellt eine Gegenkraft dar: Apophis, der als schlangenartiger Dämon dargestellt wurde. Er wendet einen perfiden Trick an: Er schlürft das Fahrwasser der Sonnenbarke weg und bringt dadurch das Gefährt des Sonnengottes zum Stillstand. Dahinter stand die alltägliche Kenntnis von wechselnden Sandbänken im Fluss, die die reale Schifffahrt auf dem Nil gefährdete. Derartige Probleme wurden analog auch im Himmel für möglich gehalten, und als Folge wurde der tägliche Sonnenaufgang nicht als selbstverständlich erachtet. Das Resultat wäre eine ewige ägyptische Finsternis, und dies sowohl für die Lebenden als auch für die Toten, die den Sonnengott bei seiner nächtlichen Fahrt durch die Erde herbeisehnten.
Der Sonnenlauf war also in der altägyptischen Wahrnehmung keine gesicherte Konstante: Sein Ablauf ist dramatisch, seine Kontinuität ist durch Kampf und Ritual zu schützen. Die Dunkelheit einer derartigen Apokalypse ist in einer Reihe von literarischen Texten des 2. Jahrtausends v. Chr. das Sinnbild für soziale Verwerfungen: Chaos und Dunkelheit bedingen und verursachen sich gegenseitig. Die Apokalypse vollzieht sich durch den Rückzug und die Abwesenheit der Götterwelt und führt zum Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Denn ohne die alles zusammenhaltende Ordnung folgen bald Mord und Totschlag.
Sehr eindrücklich benennt diese Gefahr ein Werk der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr., ein Text, der unter dem Namen Die Prophezeiungen des Neferti bekannt ist. Es geht darin um einen König, der sich durch interessante und belehrende Geschichten am Nachmittag unterhalten lassen will. Es erscheint ein Weiser aus der Stadt Bubastis im Ostdelta: Neferti. Im Anschluss an eine Vielzahl von Versen mit Darstellungen von Untergang, Chaos und Gegenwelten, und unmittelbar bevor die rettende Ankunft eines Königs angekündigt wird, beschwört Neferti den König und erwähnt in diesem Zusammenhang das südliche Ostdelta und die heliopolitanische Region:
Ich zeige dir das Unterste zu oberst gekehrt; wer dir den Rücken zuwenden wird, war einer, der den Bauch zuwandte; man lebt in der Nekropole (…), Habenichtse sind vollversorgt, und Diener sind obenauf (…).
Heqa-anedj (= die Ostdelta-Region mit dem Hauptkultort Heliopolis) ist nicht mehr das Land der Geburt eines jeglichen Gottes.
Diesen Passus kann man wohl nicht anders verstehen, als dass die sinnentleerte Welt neben allen Schrecken der Anarchie auch keine Verbindung zur Götterwelt am Schöpfungsort Heliopolis mehr aufbauen kann. Es musste also die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, vor allem aber des Königs sein, die Beziehung zum Sonnengott über den regelgerechten Tempelkult im Land, und auf jeden Fall auch in Heliopolis, aufrechtzuerhalten.