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Ein Tor zur Unterwelt

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Schon die frühesten erhaltenen Texte bezeugen für den Tempel der Sonne in Heliopolis einen Bezug zur Unterwelt. Im Verlauf des 2. Jahrtausends v. Chr. intensivierte sich dieser Gedanke. Ein Text des Hohepriesters Meriatum bezeichnet Heliopolis sogar als „seine Unterwelt Ägyptens“. Dahinter steht die Frage nach dem Verhältnis des Sonnengottes zum Totengott. Was wäre, wenn sich diese beiden Gottheiten in der Nacht vereinigen würden und damit die Sonne des Tages ein Teil oder eine Erscheinungsform des Totengottes in der Nacht wäre?

Wenn das Totengericht vor dem Richterkollegium des Osiris, in dem die korrekte Lebensführung als Zutrittsbedingung zu den Gefilden der Seligen gilt, für den Verstorbenen gut ausging, dann konnte er, so einige Vorstellungen des späteren 1. Jahrtausends v. Chr., in Heliopolis die Unterwelt wieder verlassen (S. 42). Die Idee, dass es in Heliopolis eine Art Portal zur Welt der Toten gab, ist jedoch deutlich älter. Wir müssen uns vergegenwärtigen,

• dass im Sonnentempel der Sonnenuntergang kultisch begleitet wurde,

• dass auch die Barke hörbar begleitet wurde – durch stundenweise Rezitationen –, wenn sie in der Nacht durch die gleiche Erde hindurchfuhr, in der man auch die Toten bestattete,

• und dass der Ausstieg aus der Unterwelt freudig begrüßt wurde – mit den Sonnenhymnen.

In dieser Vorstellung scheint sich, so direkt muss man es wohl ausdrücken, die Sonne des Nachts in ganz besonderer Weise unter den Füßen der Priester in Heliopolis befunden zu haben, stärker als unter anderen Orten Ägyptens. Zu keinem Zeitpunkt galt Heliopolis als der einzige Zugang zur Jenseitswelt, aber durchaus als eine sehr wichtige Schnittstelle!

Die Vorstellung geht sicher in weit frühere Zeiten zurück. Damit ist weniger der Umstand gemeint, dass die Präsenz des Totengottes Osiris in Heliopolis schon sehr früh in den Pyramidentexten, also schon im 3. Jahrtausend v. Chr., erwähnt wurde. Es geht hier um den ganz konkreten Hinweis auf eine lokal scharf abgrenzbare Zone, in der man in die Unterwelt hinein- und auch wieder herauskam. Schon unter Ramses II. wurde im 13. Jahrhundert v. Chr. im Zusammenhang mit dem Stierkult von der „Unterwelt von Heliopolis“ gesprochen.

Der ausdruckskräftigste Textbeleg ist jedoch die Geschichte vom Zauberer Merira, die auf einem Papyrus des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. erhalten ist. Dieser Erzählung zufolge, aus der hier in Übersetzungen von Joachim F. Quack zitiert wird, wurde eines Tages ein König namens Sisobek (im Text: Pharao) sterbenskrank. Die anwesenden Magier sind in dieser Notlage gezwungen, einen Magier zu benennen,

der noch sehr jung an Jahren, aber ein sehr guter Schreiber war, dessen Fähigkeiten als Schreiber die (anderen) Magier jedoch Pharao nicht bekannt machten, denn dann hätte Pharao die (anderen) Magier vertrieben.

Pharao Sisobek hat nun keinesfalls die Absicht zu sterben. Seine Lösung besteht darin, dass der Magier Merire stirbt und die Bitte um die Verlängerung seiner, Sisobeks, Lebenszeit vor Osiris vorträgt. Als Lohn für diesen Dienst würde er Merire befördern und seinen verstorbenen Vater ehren; in Heliopolis würde er ihm „Bestand geben“, womit man wohl am ehesten an eine prominente Statuen- oder Stelenaufstellung an einer wichtigen Wegstelle der Prozessionen im Sonnentempel denken kann. Die Logik des Pharaos kann Merire nicht überzeugen, denn der Pharao fragt: „(Wenn es so ist,) dass du davongehst, um mich am Leben zu erhalten, bist du dann derjenige, der nicht weiterleben wird?“

Allerdings sieht Merire selbst auch keinen anderen Ausweg und stellt nun einige Forderungen: Seine Frau soll nach seinem Tod einen besonderen Schutz genießen, und die Kinder der Magier, die ihn in diese Situation gebracht haben, sollen sterben. Pharao Sisobek muss auf Geheiß des Merire an den Ort gehen, wo das Geheimnis des Portals bewahrt wird:

„Mein großer Herr! Möge Pharao nach Heliopolis gehen, damit (man sich für) ihn kundig macht über den Zugangsweg zur Unterwelt, den ich nehmen soll.“

(…)

Pharao gelangte nach (Heliopolis) zum Dromos (= die Hauptstraße der Prozessionen mit gewaltigen Kolossalsphingen, die noch von den Teilnehmern der Expedition Napoleons vor etwas mehr als 200 Jahren gesehen wurden) des Ra-Harachte. Er machte Brand- und Trankopfer.

Bei dieser Gelegenheit erhöht Merire nochmals seine Forderungen: Ein weiterer Kreis von Angehörigen der Oberschicht soll mit ihm in den Tod gehen. Zusätzlich will Merire dann noch ein Bildnis der „Hathor vom Roten See“ für die Unterwelt dabeihaben. Bei dieser Gottheit handelt es sich um die Göttin am großen Quarzitsteinbruch von Heliopolis, dem „Roten Berg“, vor dem sich wohl, gleich wie im Norden von Heliopolis, ein Sumpfsee erstreckte, in dessen unmittelbarer Nähe die Arbeiterschaft dieses Steinbruchs untergebracht war (S. 236–238).

Da sagte General Merire zu Pharao: „Ich werde gehen und deine Grüße vor dem großen lebenden Gott ausrichten. Sei fern von mir! Schau mir nicht nach! Lass mich gehen! Oh möge Ra deine Stimme hören! Ra-Harachte wird mich dir wieder begegnen (lassen).“

Merire wechselt in der Erzählung nicht mehr den Ort, und damit ist klar, dass er direkt aus dem heiligen Bezirk von Heliopolis zum Sonnengott der Nacht hinabsteigt. Der Sonnengott hört sich seine Bitte an und erkundigt sich nach dem Zustand der Erde. Nachdem ihm versichert wurde, dass Pharao Sisobek für die Tempel, die sozial schwächeren Menschen und allgemein für das Recht auf Erden gesorgt hatte, erklärt er sich einverstanden. Sisobek erhält zu seinen 25 aktuellen Lebensjahren noch 75 zusätzliche Jahre. Allerdings ist die Regelung nun daran gebunden, dass Merire auch wirklich stirbt; der Zauberer will aber für sich sieben Tage auf Erden erwirken.

Merire bittet Hathor, auf Erden nachzusehen, ob sich Pharao Sisobek an seine Zusagen gehalten hat. Dieser hat aber in allem das Gegenteil getan, wozu ihn die intriganten Magier angestiftet hatten. Er befindet sich wahrscheinlich in Memphis, aber die Rache soll in Heliopolis stattfinden:

General Merire nahm einen Klumpen Lehm. Er formte ihn zu einem Menschen und sprach eine Beschwörung über ihm, öffnete ihm Mund und Augen und sagte zu ihm: „Pharao missachtet den Eid, (den er vor mir geleistet hat) (…).“

(Der Erdmann) stieg zur Erde empor. (Er) ging (zu Pharao). Er fand (ihn, wie er) schlafend dalag. (Der Erdmann) trat zu Häupten (des Pharao, wobei) er Wache hielt (…). „Wirst du durchführen, was ich dir sagen werde?“ Pharao sagte ihm: „Alles, was er gesagt hat – tu es!“ Der Erdmann sagte zu Pharao: „Wirf deine Magier in das Feuerbecken vor (der Göttin) Mut-cherisenes in (Heliopolis).“

Pharao Sisobek erwacht und lässt alle Magier verhaften. Dann schläft er ein, und der Erdmann wiederholt seinen Befehl. Daraufhin tut der Pharao alles, wie es ihm befohlen wurde:

Er ließ alle seine Magier aus dem Gefängnis herausholen (und nach) Heliopolis (bringen). Pharao ging mit ihnen nach Heliopolis. Er ließ sie töten und in das Feuerbecken vor Mut-cherisenes legen. Pharao gab Feuer an sie. Pharao ging zu seinem Haus, während die Magier vor dem Sonnengott Ra (zwecks Totengerichts) (waren), während der Erdmann bei ihnen stand, ohne dass irgendjemand ihn sah.

Im Anschluss daran ist nun aber der Sonnengott äußerst verärgert darüber, dass Merire mit einer Lehmfigur das Verbot, auf die Erde zurückzukehren, ausgehebelt hat.

Die letzten Zeilen, bevor der Text abbricht, handeln von einem Gespräch des Merire mit dem toten König Merenptah aus der 19. Dynastie in Heliopolis. – Wie kommt gerade dieser König in die Rolle eines Protagonisten einer Erzählung in und über den Unterweltzugang in Heliopolis, die viele Hundert Jahre nach seiner Regierungszeit angesiedelt ist? Bei unseren Grabungen im Zentrum des Tempels stießen wir immer wieder auf Spuren, die sich mit den Königen der Ramessiden-Zeit in Zusammenhang bringen lassen. Und gerade von König Merenptah gibt es eine Reihe wichtiger Denkmäler: die Siegessäule mit der Inschrift seiner Libyer-Kriege; mindestens einen Obelisken; ein inschriftlich belegtes „Haus der Millionen an Jahren“ – also einen Tempel, in dem der Kult des Königs mit einem eigenen Gebäude an die Festprozessionen des Hauptgottes angeschlossen wurde; und unter den jüngsten Funden der ägyptisch-deutschen Unternehmung waren Portalfragmente mit dem Namen des Königs sowie eine kolossale Darstellung des sich vor Gott hinwerfenden Königs (Abb. S. 65). Wer auch immer spätestens im 6. Jahrhundert v. Chr. diese Erzählung kannte, fand sie in Heliopolis auf Schritt und Tritt visuell bestätigt, in einer wahrhaftig mythischen Landschaft.

Wie ging die Geschichte aus? Die Wortreste der letzten Zeilenfragmente lassen die Schlussfolgerung zu, dass der Magier und General Merire wirklich noch einmal auf die Erde durfte und dass es auch noch einmal zu einem Treffen mit dem König kam. Es steht zu vermuten, dass sein Aufstieg aus dem Totenreich auch wieder in Heliopolis vor sich ging.

Geschichten dieser Art entstanden wohl schon zu früheren Zeiten, wie Textfragmente des späten 2. Jahrtausends v. Chr. nahelegen. Die Geschichte des Merire wird der sprachlichen Form nach spätestens gegen 600 v. Chr. verfasst worden sein. Aber auch andere literarische Werke des späteren 1. Jahrtausends v. Chr. handeln zuweilen von Menschen, die von Heliopolis aus die Unterwelt betreten. In der Geschichte des Petesis, die auf Manuskripten des 4. Jahrhunderts v. Chr. erstmals belegt ist, geht es gleichfalls um einen Todgeweihten: Petesis hat noch 40 Tage zu leben. In dieser Frist kommt es im Zusammenhang mit der Anschaffung wichtiger Schriften zu einem Streit mit einem Tempelangestellten. Petesis versucht, an einen Geldbetrag aus dem Schatzhaus des Sonnentempels zu kommen. Ein Streit spielt sich am und im Haus des Kontrahenten Hareus ab. Hier kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: die heliopolitanische Öffentlichkeit.


Granitstatue des Merenptah, um 1210 v. Chr.; Rekonstruktion: Simon Connor

(Hareus, Sohn des Thinuphis, erzählte von allem, was geschehen war) seit dem Tag (…), während die Menge des Gaus von Heliopolis um das Haus des (Hareus) herum dastand, von seinen oberen bis zu seinen unteren Räumen.

Wahrscheinlich ist ein für diese (spätägyptische) Zeit typisches Turmhaus gemeint, wie sie nördlich des eigentlichen Haupttempelgebiets in Heliopolis gefunden wurden. Die real sichtbare, dichte Besiedlung der nördlichen Tempelbezirkshälfte hat vielfach Eingang in die Geschichten zur Tempelstadt von Heliopolis gefunden. Von sehr bodenständigen Problemen ist da die Rede. Eine Episode betrifft schlussendlich zwei Frauen von Priestern des Atum bzw. der (Hathor-)Nebethetepet: Der Mann der Letzteren ist der Vater des Kindes der Ersteren. Der Pharao wird um eine Entscheidung gebeten, wie man denn nun mit dem Problem umgehen solle. Man ahnt, welche Menge an Gesprächsstoff hier entstand, wo man durch die enge Bebauung rein akustisch höchstwahrscheinlich von vielen Familien reichlich mitbekam.

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