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Vom Anfang des Rechts

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Gegenüber von Memphis liegt, schon im Stadtgebiet des heutigen Kairo, der Ort Cher-aha, das „Kampfgebiet“. In dieser Region kommt es im Mythos zur Fortsetzung des Konflikts zwischen Seth und der legitimen Linie seines Bruders Osiris. Seth hat seinen Anspruch auf die Herrschaft über die Welt noch nicht aufgegeben. Horus ist mittlerweile herangewachsen und kann sich dem Rivalen und Mörder seines Vaters in einem – sehr drastisch beschriebenen – Kampf stellen. Zu guter Letzt wird Horus durch die Göttergemeinschaft als der rechtmäßige Herrscher bestimmt. Und für jeden zukünftigen Herrscher war er dann für mehr als drei Jahrtausende dahingehend das Vorbild, dass Herrschaft im Einklang mit der Schöpfung stehen muss. Dieser theoretische Anspruch an Legitimität wurde an jeden ägyptischen König gestellt. So wurde Heliopolis, besonders für die Gründer von Dynastien, ein Ort, an dem über Bautätigkeit und Opfer der Segen der Herrschaft erwirkt werden sollte. Aus diesem Grund musste auch der eingangs erwähnte Eroberer Piye in Heliopolis dem Schöpfer- und Sonnengott seine Aufwartung machen.

Auch der Kampf zwischen Horus und Seth ist erst in einem recht späten einzelnen Werk vollständig belegt. Der griechische Autor Plutarch (um 120 n. Chr.) überliefert eine berühmt gewordene Version der Geschichte. Aus der Zeit davor ist eine Handschrift von etwa 1200 v. Chr. erhalten, die den Kampf um die Herrschaft zwischen Horus und Seth in den Mittelpunkt stellt. Aber auch hier überliefern wieder die ältesten Ritualtexte Ägyptens aus der Zeit um 2400 v. Chr. Einzelabschnitte. Die wesentliche Essenz dieses Mythos ist die Idee einer Herrschaft, die nicht über pure Stärke legitimiert wird, sondern über das Recht. Und auch diese endgültige Rechtsprechung, zu der sich die Götter einfinden, wird in Heliopolis lokalisiert.

Unabhängig von historischen Tatsachen, die den tagespolitischen Alltag als Widerspruch zu diesem Konzept erscheinen lassen, liegt ein landesweit verbindliches Muster vor. Das Grundmotiv lässt sich mit dem Begriff „Rechtsstaat“ zusammenfassen. Es gab nicht eine Verfassung im heutigen Sinne, keine Magna Carta der Grundrechte und -pflichten, aber es gab die feste Gewissheit, dass da ein Ort ist, an dem es aufgrund seines direkten Bezugs zum schuldfreien Beginn der Welt Gerechtigkeit geben werde.

Die unvergleichliche Konstanz an gesellschaftlicher Zuwendung, die sich im Tempel von Heliopolis durch zahllose Bauten und Stiftungen entfaltete, ist nur vor dem Hintergrund dieser beiden Mythengruppen und Vorstellungen zur Weltentstehung und zum Kult des Kosmos und des Rechts zu verstehen. Die Schöpfung, Recht auf Erden und Opferempfang im Jenseits standen zueinander in einer unmittelbaren Kausalbeziehung. Der Rahmen hierfür war die Erhaltung des geeinigten Ägypten im unversehrten Zustand als erste Königspflicht. Die Effizienz hierin war vor dem Schöpfergott regelmäßig durch Präsenz und Bauten in Heliopolis nachzuweisen.

2400 Jahre (oder wahrscheinlich sogar einige mehr) haben ägyptische Herrscher in Heliopolis gebaut und dem Sonnengott gehuldigt. Wie ist so etwas möglich? Ist es vorstellbar, dass in Deutschland die amtierende Bundespräsidentin oder der regierenden Bundeskanzler des Jahres 2025 eine Stadt mit einem keltischen Kultplatz, entstanden 400 Jahre vor dem ersten römischen Kaiser, aufsucht, um sich im Amt legitimieren zu lassen? Wohl kaum.

Es bleibt nicht aus, dass durch die Beschreibung dieser Grundeigenschaften von Heliopolis der Eindruck entsteht, dass hier etwas künstlich konstruiert wurde, als ob grundsätzlich die Idee eines Zentrums Traditionen geradezu festlegt, systematisch und verbindlich konstruiert, wie es in der Ethnologie mit dem Begriff der „Großen Traditionen“ bezeichnet wurde. Und was ist der Sinn des Ganzen? Die Ideologie eines zentralen Herrschaftssystems, das damals im Umfeld der frühen Bronzezeit sicher fremd erschien? Wie in der jüngeren und jüngsten Geschichte wirken stets die auseinanderstrebenden Kräfte (Regionalismen und Partikularismen) großen territorialen Zusammenschlüssen entgegen – man denke nur an die innerdeutschen bewaffneten Auseinandersetzungen im Vorfeld der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871. Konfliktfrei laufen derartige Prozesse selten ab, und stets bedarf es für die Grundlage der Gegenkräfte hin zu kleineren Systemen offenbar einer Ideologie.

Heliopolis scheint der Ort gewesen zu sein, der seine Existenz und Kontinuität ganz erheblich dem Gedanken des größeren Herrschaftsverbundes verdankte: Die Götter der Weltschöpfung spielten in den Denkmälern der Bewohner von Heliopolis lange Zeit keine erkennbare Rolle. Anders als es bei anderen Tempeln Ägyptens der Fall war, kam das Königtum nicht erst in einem zweiten Schritt auf die Bühne des Kultortes. Andernorts gab es zunächst einfache Schreine aus ungebrannten Lehmziegeln, die dann mittels königlicher Investitionen umgebaut und zunehmend mit Elementen aus Kalk- oder Sandstein ausgeführt wurden. In Heliopolis hingegen war das königliche Element gleich mit dem ersten Denkmal präsent. Als wäre im wahrsten Sinne des Wortes eine Tradition gebaut worden. Tradition ist, in den Worten der Anthropologin Kathleen D. Morrison, „historisch spezifisch, stets ein Produkt der Gegenwart und der Vergangenheit, und ein Objekt von Streit“. Tradition ist das Wesen von allen heliopolitanischen Merkmalen, die wir fassen können. Sie wurde konstruiert und zugleich als soziale Realität fortan bewusst gesucht, vermisst, wiederhergestellt.

Als Ort des Rechts galt Heliopolis nicht nur als Ursprung der rechtmäßigen Herrschaft. Die Urzeit als Utopia, eine Zeit der Reinheit, ohne Tod oder Schmerz und ohne Unrecht ist in dieser Vorstellungswelt der Rahmen, in dem vorbildhaft Neues entsteht: Wissenschaft, Dichtung, gute gesellschaftliche Normen. Die Annahme eines generellen Referenzpunkts für Rechtmäßigkeit führte auch zur fiktiven Herkunft einiger Personen der ägyptischen Kulturgeschichte. Natürlich haben wir es da mit einem Klischee zu tun. Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass mit heliopolitanischem Wissen hervorragende Ärzte ausgebildet wurden. Unter anderem von hier stammen bedeutende Rezeptursammlungen wie der Papyrus Ebers (um 1525 v. Chr.). Ein medizinisches Rezept wurde wohl auch als bedeutender erachtet, wenn eine heliopolitanische Herkunft des Autors wahrscheinlich schien – so z.B. bei dem offenbar besonders guten Augenmedikament des heliopolitanischen Hohepriesters Chui, dessen Rezeptur in dieses medizinische Handbuch aufgenommen wurde. Auch einer der faszinierendsten literarischen Texte des alten Ägypten, die Klagen des Chacheperraseneb aus der Zeit um 1850 v. Chr. (S. 182–185), wurde gleichfalls fiktiv (?) einem Reinigungspriester aus Heliopolis zugeschrieben.

Die Motive, die um den Begriff der Wahrheit, um Recht und Wissen kreisen, gelten im ägyptischen Glauben aber nicht nur für die Lebenden, sie sind auch für die Toten von großer Relevanz. Die ältesten Totenliturgien, die den legitimen Anspruch auf Unversehrtheit im Jenseits zu sichern streben, – aus der Zeit um 2400 v. Chr.– suchen genau hier das mythische Beispiel. Der verstorbene Herrscher, und im weiteren Verlauf der Geschichte auch die niedrigeren Schichten der Gesellschaft, rechnet mit einem Verfahren, in dem Repräsentanten der Neunheit über einen Toten urteilen. So heißt es z.B. im Pyramidentextspruch 486:

Der verstorbene König ist (wesensmäßig nun) einer aus dieser bedeutenden Körperschaft, die vormals in Heliopolis geboren wurde,

einer, der nicht ergriffen wird von (irgend)einem (anderen) König und (folgegemäß) vor die Magistraten zitiert werden wird,

einer, der nicht bestraft wird, einer, der nicht durch ihre (d.h. der Körperschaft in Heliopolis) Voten für schuldig befunden wird.

Genau in diese Zeit möchte der ägyptische König versetzt werden. Er möchte unangreifbar sein durch jegliche Gerichtsbarkeit und in die Zeit vor der Entstehung des Schreckens versetzt werden, wie wiederum der 486. Spruch der Pyramidentexte ausführt:

Der König wurde geboren im Ur-Ozean (= Nun),

noch bevor der Himmel entstanden war, noch bevor die Erde entstanden war, noch bevor das Verfestigte entstanden war, noch bevor Schrecken entstanden war, noch bevor die Angst entstanden war (…).

Aber es geht bei der Idee des idealen Rechtsstaats altägyptischer Prägung mit seiner zentralen juristischen Instanz in Heliopolis um mehr als nur die Fragen von Schuld und Unschuld. Denn nach altägyptischer Idealvorstellung hing das Recht auf Versorgung an einem gerechten Lebenswandel. Der gerechte und sichere Zugriff auf Essen und Trinken war ein zentrales Thema, denn die Jenseitskonzeption unterscheidet sich besonders in einem Punkt grundsätzlich von den Erwartungen der späteren Offenbarungsreligionen: Die ägyptische Bevölkerung ging davon aus, dass man auch nach dem Tod Nahrungsmittel braucht. Zugleich war angesichts der Ewigkeit auch unzweifelhaft, dass man die Totenversorgung nicht mit großen Mengen von Lebensmitteln als Grabbeigaben regeln konnte. Nur der Totenkult mit dem Spruchopfer, bei dem Worte durch Osiris und andere Totengötter in Nahrung verwandelt wurden, konnte die Angehörigen vor ewigem Hunger und Durst bewahren. Das Grundrecht des Menschen auf die Versorgung mit Nahrung im Jenseits wurde mit einem normkonformen, ethisch korrekten Lebenswandel verbunden. Aber hierfür bedurfte es der Orte des Rechts. Die gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln ist somit per se schon wieder ein „heliopolitanisches Thema“: Mit kaum einem Ort verbindet sich derart konkret die Vorstellung der (gerechten) Opferversorgung wie mit Heliopolis.

An einem solchen Ort des Rechts konnte eine Bevölkerung, die im Alltag natürlich auch Unrecht erfuhr, die Totenversorgung und ein unbestechliches Richterkollegium für das Totengericht erwarten. Texte des 3. Jahrtausends v. Chr. erwähnen eine Möglichkeit, beim „Großen Gott“ gegen Unrecht zu klagen, im 2. Jahrtausend v. Chr. setzte sich aber dann die Vorstellung eines regulären, juristisch korrekten Totengerichts durch, vor dem Könige und die Oberschicht wie auch einfache Gesellschaftsschichten zu bestehen hatten. Ein günstiges Urteil des Kollegiums, verbildlicht durch die Szene der Wägung des Herzens, wiederum setzt in diesem Konstrukt den finalen Tod außer Kraft und gewährt Zugang zu den Gefilden, in denen die jenseitige Existenz endlos währen kann. Einige Texte lassen keinen Zweifel daran, wo dieses Totengericht idealerweise stattfindet: in der Unterwelt von Heliopolis. Der Wunsch nach der freien Bewegung auf Erden und dem Besuch der Feste der großen Tempel, wie er seit dem mittleren 2. Jahrtausend v. Chr. in den Jenseitswünschen sehr deutlich wird, findet sich auch in den späten Aufschriften auf Statuetten des oberägyptischen Karnak-Tempels. Ihnen zufolge kann sich der Verstorbene mit seiner frei beweglichen Seelenform (= Ba), nach bestandenem Totengericht, wieder auf den Weg in seine Heimatstadt Theben machen. Ivan Guermeur gibt die Passage wie folgt wieder:

Mögest du veranlassen, dass mein Ba (= Seele) am Licht ist am Tage (…).

Mögest du veranlassen, dass ich aus Heliopolis hervortrete, um nach Theben zurückzukommen,

dass ich zu den Stätten von Djeme (= Theben-West) zurückkehre,

um ein Opfer darzubringen mit den Verstorbenen,

wenn deine Abendbarke sich niederlässt im Westgebirge.

Es bleibt nun zu klären, ob der Schöpfergott zum Thema der Verschlechterung seines anfangs reinen Werkes einmal Stellung bezieht zu der zentralen Frage, wie das Falsche in die Welt kam. Wobei das Falsche nur der Oberbegriff ist für eine Vielzahl von Dingen, denen der Mensch auszuweichen versucht. Dazu gehört z.B. der Tod. Er ist ganz zweifellos später in die Welt gekommen, die uranfänglich perfekt war. Aber wann? Die Antwort gibt der heliopolitanische Schöpfergott selbst in einem Text, der erstmals auf Sargwänden aus der Zeit um 2000 erscheint. Der Schöpfergott erklärt (hier in einer Übersetzung von Burkhard Backes) ganz genau, was er den Menschen gab, wie er es gab – und vor allem: was er ihnen nicht gab!

Im Innern des Horizont-Portals (= der bewohnten, oberirdischen Welt) habe ich viermal Gutes geschaffen: Die vier Winde schuf ich, sodass jedermann in seiner Gegend atmen kann. Das ist eines davon. Die große Überschwemmung schuf ich, über die der Kleine verfügt wie der Große. Das ist eines davon.

Jedermann schuf ich seinem Nächsten gleich; dass sie Ungerechtes tun, befahl ich nicht. Sondern ihre Gesinnung war es, die „zerbrach“, was ich gesagt hatte. Das ist eines davon.

Ich schuf ihren Sinn so, dass sie den „Westen“ (= das Totenreich) nicht vergessen können, damit Gottesopfer für die Gaugötter ausgeführt werden. Das ist eines davon.

Der Tod gehört nicht dazu, er ist ein Fehler, der bei einer guten Lebensweise eigentlich nicht vorkommen sollte. Heliopolis ist der Ort für die Korrektur von Fehlern, die irdischen Gerichten entgingen oder deren Behebung nicht in ihrer Macht stand.

Reise zum Ursprung der Welt

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