Читать книгу Reise zum Ursprung der Welt - Dietrich Raue - Страница 8

EINLEITUNG

Оглавление

Manches Projekt beginnt mit einem Zufall. Denn am Ende war es tatsächlich nicht mehr als ein Zufall, dass ich im Winter 1990/91 in einem Gastsemester an der Freien Universität Berlin aus dem Fenster in den Schnee schaute, von dort wieder zurück auf das gegenüber stehende Bücherregal und mein Blick am Buchrücken von Excavations at Heliopolis hängen blieb. Natürlich war der Ort im Universitätsunterricht häufig erwähnt worden. „Heliopolis“ umgab die Aura eines Ortes theologischer Gelehrsamkeit, sobald die Dozenten ihre Vermutungen über die Herkunft theologischer Konzepte äußerten. In den ersten Übersetzungsübungen fiel der Name im Zusammenhang mit der Weltschöpfung, aber auch mit den Jenseitserwartungen, die die Bewohner des Niltals im 3. bis 1. Jahrtausend v. Chr. an diesen Ort hatten. Vom Phoenix-Vogel aus Heliopolis war die Rede und von einem seltsamen Monument, dem Benben-Stein, der seit ältester Zeit heilig gewesen sei. In dieses Bild mischte sich zugleich immer auch eine Spur von Trauer darüber, dass der Ort aus einer Vielzahl von Gründen verloren sei.

An diesem Nachmittag trieb mich die Neugier, welche Denkmäler es an diesem bedeutenden Platz eigentlich gab. Bald war klar, dass unser Wissen über Heliopolis kaum der Rede wert war: einige Säulen und Umfassungsmauern, mehr war offenbar nicht übriggeblieben. Zahlreiche Vorworte in Publikationen über Ägypten oder den Sonnenkult bedauerten, dass es von dem ehemals glanzvollen Tempel kaum noch Reste gab. Nun war aber vom Ablauf meines Studiums her klar, dass ich nach dem Gastsemester in Berlin eine Vorstellung davon haben sollte, worüber ich meine Magisterarbeit schreiben würde. Am Ende war ich überzeugt davon, das Thema gefunden zu haben, und es stand fest, dass ich bei meinem nächsten Ägyptenaufenthalt im Herbst 1991 Heliopolis besuchen würde.

Es gab noch einen weiteren, mindestens genauso folgenreichen Zufall. Im Oktober 1993 hatte ich mir im Vorfeld der Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts bei den Pyramiden von Dahschur, an denen ich als Student teilnehmen durfte, etwas Zeit für Heliopolis eingeplant. Ich ließ mich von einem Taxi in den Kairener Stadtteil Matariya fahren, wo der Sonnentempel von Heliopolis einst gestanden hat, und wanderte mehrere Tage lang durch diesen und benachbarte Stadtteile. Überrascht stellte ich fest, dass weite Teile des alten Tempelgebiets nicht vom heutigen Kairo überbaut waren! Eine Fläche von gut 500 mal 400 Metern war vollkommen frei und begehbar. Eine noch offen stehende Ausgrabung, die der ägyptische Antikendienst zu Beginn der 1990er-Jahre durchgeführt hatte, zeigte deutlich, dass in gut 2–3 Metern Tiefe große Mengen an zerschlagenen Kalksteinblöcken lagen – das gab zu hoffen, dass man noch Reste des Tempels würde finden können. So wurde innerhalb eines Tages aus einer Idee für eine Magisterarbeit der Traum, eines Tages hier Ausgrabungen durchzuführen.

An einem Nachmittag bei diesem Ägypten-Aufenthalt hatte ich mir das Gebiet der Gräber des Heiligen Stieres von Heliopolis vorgenommen. In vielen großen Tempeln Ägyptens gab es eine Verehrungsstätte für das heilige Tier des Hauptgottes. In Heliopolis wurde – so wusste man aus vielen Inschriften und aus den Schriften von Autoren der römischen Kaiserzeit – der Stier namens Mnevis verehrt. Ich orientierte mich bei meiner Suche an einem Kanal, der auf allen Karten von Heliopolis verzeichnet war (Abb. S. 11). Aber in dem Wohnquartier, das über die antike Stätte gebaut worden war und sich nicht von den zahlreichen einfacheren Neubauvierteln des modernen Kairo unterschied, waren keine Altertümer mehr zu erkennen. Dass hier einmal der Tempel des Mnevis stand, den der Geograph Strabon um 25 v. Chr. beschrieben hat, war genauso wenig zu erahnen wie die Gräber, die ägyptische und britische Ausgräber noch im frühen 20. Jahrhundert an dieser Stelle gesehen haben.


Der Tawfiquiya-Kanal bei Heliopolis, 1993

Es war spät geworden, und ich fragte mich, wie mein Weg zurück ins Stadtzentrum verlaufen würde. Aus einer Laune heraus nahm ich nicht den schnellen Weg, sondern ging weiter in nordöstlicher Richtung. Stimmungsvolle und vor allem geräuscharme Palmgärten boten eine wohltuende Alternative zum ersten Teil der Wegstrecke, der auf stark befahrenen Straßen zwischen engen Häuserschluchten entlangführte. Ezbet el-Nakhla, das „Palmendorf“, lautete der Name des Gebiets, und damals standen dort nur vereinzelt kleine Häuser. Vor einem von ihnen saß eine Gruppe älterer Herren, die gemütlich Wasserpfeife rauchten und mich, den fremden, jungen Europäer, interessiert beobachteten. Einer von ihnen erkundigte sich schließlich auf Englisch nach meinem Ziel. Ich erklärte ihm, dass ich in Deutschland Ägyptologie studiere, mich für das antike Heliopolis interessiere und nun auf dem Heimweg sei. Er antwortete: „Gut, und ich bin der Direktor der Antiken von Heliopolis.“ Mohammed Abd el-Gelil sei sein Name und ich solle doch mal eine Pause machen und mich dazusetzen. Heute muss man genau hinschauen, um dieses Haus zwischen den vielstöckigen Apartmenthäusern zu finden. Es gibt dort auch keine Palmen mehr. An diesem Nachmittag begann eine freundschaftliche Zusammenarbeit, die inzwischen in das 26. Jahr geht. Das Buch, das Sie in Händen halten, und das Forschungsprojekt zum Tempel am Ursprung der Welt wären ohne diese erste Begegnung unter den Palmen von Ezbet El-Nakhla nicht möglich gewesen.

Wohin führt sie uns, die Suche nach dem Ort, an dem die Sonne im Moment der Welterschaffung zum ersten Mal aufgegangen sein soll? „Sonnenstädte“ – in „Heliopolis“ stecken die griechischen Begriffe helios, Sonne, und polis, Stadt, – gab und gibt es mehrere. Unsere Suche führt nicht zu dem Heliopolis, das in der römischen Kaiserzeit im Mittelmeerraum berühmt war, das heutige Baalbek im Libanon mit seinen gewaltigen Tempelanlagen. Sie führt auch nicht an den Ort, an dem Ernst Jünger 1949 in seinem Roman Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt die Konflikte zwischen zwei politischen Gruppen in der Zukunft spielen lässt, auch wenn der Buchdeckel ein ägyptisch inspiriertes Motiv zeigt. Jedoch spielt die Handlung an einem fiktiven Ort mit Beschreibungen, die allgemein die Welt des Mittelmeers kennzeichnen und nicht die eines Tempels am südöstlichen Rand des ägyptischen Nildeltas. Und vor allem führt unsere Reise nicht in den Stadtteil, in den ein Kairener Taxifahrer jemanden bringen würde, der nach Heliopolis will. Man passiert dieses Viertel auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt von Kairo. Nach gut drei Kilometern erscheint auf der linken Seite ein seltsamer, 1911 vollendeter Palastbau, das Qasr el-Baron („Schloss des Barons“; der Architekt ließ sich seinerzeit von einer Art Hindu-Tempel inspirieren). Der Stadtteil und die Vergabe des Namens Heliopolis geht auf dessen Bauherrn, einen Belgier zurück: Der Unternehmer und Visionär Baron Édouard Louis Joseph Empain (1852–1929) hatte während der Industriellen Revolution in Eisenbahn- und U-Bahn-Bau sowie Elektrizität investiert und war so zu Reichtum gelangt. 1905 kaufte er 2500 Hektar unerschlossenen Wüstenbodens nordwestlich von Kairo (das sich damals seinerseits nur über 2500 Hektar erstreckte) und erbaute im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Stadt – es entstand unter anderem das damals größte Hotel der Welt, das Heliopolis Palace Hotel. Dieses Heliopolis ist heute noch gut zu erkennen, wenn auch inzwischen von höheren Wohnblöcken umgeben und nicht mehr ausschließlich über die eigens gebaute Straßenbahn zu erreichen. Jedenfalls: Auch wenn im Gebiet der Pferderennbahn, dem heutigen Maryland Park, einzelne prähistorische Gräber entdeckt wurden, ist auch dieses Heliopolis nicht das Ziel unserer Reise.

Wohin führt unsere Suche dann? Und was erwartet uns in diesem Heliopolis, dem Ort, an dem nach altägyptischer Vorstellung die Welt erschaffen wurde?

„Sie haben Gott über die Schulter geschaut“ – mit diesem Bild versucht Jérôme Ferrari in seiner Schilderung des Physikers Heisenberg und der Entdeckung der Unschärferelation, dem Verhältnis zwischen den Suchenden und der uralten Frage nach dem Ursprung der Welt Gestalt zu geben. Im Hintergrund steht das immer dagewesene Interesse der Menschen, ihre Bedeutung in der Welt zu verstehen. Woher kommen wir und weshalb gibt es uns? Mit dem gleichen Antrieb fragten auch im alten Ägypten die Menschen nach dem Beginn der Welt. Die alten Kulturen wählten in der Regel die Form des Mythos, um die Zusammenhänge zu beschreiben. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Gruppen unterscheiden: Die erste sieht die Schöpfung als das Werk eines Schöpfers, der sich materiell von seinem Werk unterscheidet. Die zweite sucht den Ursprung in einer Urmaterie, aus der sich die Welt entfaltet. Zu Letzterem gehört der Schöpfungsmythos von Heliopolis.

Orte, die als Ursprung der Schöpfung angesehen wurden, genossen eine ganz besondere Wertschätzung. In der altägyptischen Kultur gibt es mehrere Plätze, an denen im Verlauf ihrer gut 3500-jährigen Geschichte der Anfang beschrieben wurde. Heliopolis ist einer davon und wohl auch der wichtigste. Schon in der Antike wurde der Ort als beispielhaft für Ägypten herangezogen. Für die Bewunderer war er ein Hort der Weisheit, für die Gegner ein Ort der Apokalypse, die man dem Staat am Nil wünschte.

Uns sind leider keine Namen von Theoretikern, Wissenschaftlern und Theologen aus der Frühzeit Ägyptens bekannt, und auch die genauen Umstände und Inhalte ihrer Überlegungen liegen für immer außerhalb unserer Reichweite, weil keine derartig detaillierten und vor allem: personalisierten Texte erhalten sind. Wir können lediglich sagen, dass spätestens in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. das Wissen um die Entstehung der Welt systematisiert wurde und dass bei einem der Versuche, die Weltschöpfung zu erklären, ein Ort namens Junu in den Mittelpunkt eines Gedankengebäudes gestellt wurde – die Griechen nannten diesen Ort Heliopolis. Es ist unser Heliopolis. Was wir auch sicher sagen können, ist, dass der Schöpfungsort Heliopolis für mehr als 2400 Jahre zentraler Bestandteil von Mythen und anderen Texten wurde. Und mehr noch: Heliopolis existierte nicht nur als theoretisches Gedankenkonstrukt oder imaginärer Ort, an dem irgendwann die Welt ins Sein kam. Es war ein physisch existierender Ort. Ein heiliger Platz. In diesem Ort entstand ein Tempelbezirk von gut einem Quadratkilometer Fläche – der größte Tempel des alten Ägypten.

In Teil 1 begeben wir uns auf die Spur dieses Tempels, betrachten die Landschaft, den Mythos um diesen Ort und seine Besonderheiten.

Teil 2 wird zeigen, dass die Geschichte von Heliopolis bis heute auch ein Spiegel der Geschichte Ägyptens ist. Eine zusammenhängende Geschichte kann man für Heliopolis leider nicht erzählen, denn die Fundsituation ist keineswegs so günstig wie etwa für Luxor/Theben-West oder Memphis/Saqqara. Über die Jahrhunderte wurden Steine und Statuen wieder entfernt, weil man Baumaterial brauchte oder Besucher auch einfach nur ein Souvenir mitnehmen wollten. Andererseits haben sich die Ergebnisse aus den vergangenen 14 ägyptisch-deutschen Ausgrabungen schon so weit verdichtet, dass der Versuch einer „kleinen Geschichte“ unternommen werden soll.

Reise zum Ursprung der Welt

Подняться наверх