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Ein Ort der Weisheit
ОглавлениеHeliopolis begegnete uns bisher als ein Ort mit einem besonderen Anspruch an Gerechtigkeit. Sein höchstmögliches Alter als Schöpfungsort schien der Garant dafür zu sein, dass von hier wichtige und richtige Stellungnahmen zu den verschiedensten Themen zu erwarten waren. So stand der Ort im Ruf eines Wissenszentrums für geheime, rituelle wie auch kosmische Zusammenhänge, was schon für das 18. Jahrhundert v. Chr. deutlich greifbar ist (S. 187).
Dabei blieb es aber nicht, denn Heliopolis entwickelte spät – aber gerade noch rechtzeitig, bevor es seine Bauten durch Steinberaubung zu verlieren begann (S. 313–322) – eine Strahlkraft über Ägypten hinaus. Herodot beispielsweise lässt um 445 v. Chr. keinen Zweifel daran, dass einige seiner Informanten zwar aus Memphis kamen, dass er aber oft nachgeforscht habe,
um festzustellen, ob man die Historien dort (in Heliopolis) ebenso erzählt wie in Memphis. In Heliopolis nämlich soll man mehr von diesen Dingen wissen als im ganzen übrigen Ägypten. (Historien II.3)
Die spätere griechische Überlieferung, wie etwa Strabons Geographika, geht kontinuierlich davon aus, dass griechische Geistesgrößen im 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. Heliopolis aufsuchten, um an das naturwissenschaftliche Geheimwissen der ägyptischen Priesterschaft zu gelangen:
Zu Heliopolis also zeigte man uns die Häuser der Priester, auch Platons und Eudoxos’ Wohngemächer. Denn mit Platon kam auch Eudoxos dahin, und beide verweilten hier bei den Priestern drei Jahre, oder auch 13, wie einige behaupten; denn diese in Kenntnis himmlischer Dinge wohlerfahrenen, aber geheimnisvollen und ungern mitteilenden Menschen konnten sie nur durch Zeit und Gefälligkeiten besiegen, um einige ihrer Lehren zu erkunden; die meisten aber hielten diese Barbaren geheim. (Geographika XVII.1.29)
Auch Pythagoras, Solon und andere Exponenten der griechischen Kultur sollen sich nach Heliopolis aufgemacht haben, bzw. von dort sollen ihre Lehrer gekommen sein. Aus der Stadt selbst haben wir kaum Quellen, umso mehr hingegen scheinen diese Annahmen für Autoren der römischen Kaiserzeit, wie etwa Plutarch, historische Realität geworden zu sein.
Noch in Zaubertexten der römischen Kaiserzeit wird darauf hingewiesen, man habe in Heliopolis Texte von hohem Wert in Gebäuden der Zeit um 600 v. Chr. gefunden. Die besondere Expertise von Heliopolis galt auch für Nachschriften anderer Texte: So seien in Heliopolis selbst Schriften des Hermes (= Thot) entdeckt worden, und zwar in ägyptischer Sprache, in hieratischer Schreibschrift, und ebenso übersetzt ins Griechische. Zu einem Zeitpunkt in der römischen Kaiserzeit, als der ursprüngliche Tempel nachweislich schon zerstört und das Areal zweckentfremdet war, genoss Heliopolis noch immer einen Ruf als Wissenstresor.
In diesem Kontext darf dann natürlich auch der Patron der ägyptischen Weisheit nicht fehlen: Imhotep. Die Basis einer Statue des Königs Djoser in Saqqara trägt eine Inschrift, die neben anderen höchsten Würdenbezeichnungen auch den höchsten heliopolitanischen Titel enthält. Dieser Inschrift zufolge hatte Imhotep um 2700 v. Chr. einen hohen Rang am Hof des Erbauers der ersten Pyramide Ägyptens inne – und zugleich auch die Leitung in Heliopolis. Weil einer der Titel sich auf die Tätigkeit von Bauhütten bezieht, geht man davon aus, dass Imhotep auch beim Bau der ersten Pyramide eine Leitungsfunktion innehatte. Bis zum Ende der altägyptisch geprägten Niltalkultur erinnerte man sich an Imhotep als den großen Weisen Ägyptens. Auf der Welt fände man wohl nur wenige solche Fälle, dass nämlich ein und dieselbe Person über fast 3000 Jahre hinweg als Schutzherr der Weisheit gilt. Besonders im 1. Jahrtausend v. Chr. wurde Imhotep in zahlreichen Bronzestatuetten als Schreiber mit einer Papyrusrolle sitzend dargestellt. Ein schönes Beispiel für einen Text, der mit einer Überlieferungsgeschichte von 600 Jahren – er erscheint noch auf Papyri des 2. Jahrhunderts n. Chr. – dazu beigetragen haben wird, dass die Verbindung von Imhotep zu Heliopolis nicht in Vergessenheit geriet, finden wir unter den Petese-Erzählungen. Dort wird beschrieben, wie der Protagonist Petese in Mauerverstecken im Tempelgebiet von Heliopolis Texte des Imhotep zu astrologischen Themen findet.
Ein vergleichbar alter Text wird in einer anderen Geschichte in Heliopolis gefunden: In der Rahmengeschichte des Buches vom Tempel entdeckt ihn Prinz Hordjedef – Sohn des Cheops, einer der Erzähler im Papyrus Westcar (S. 195–197) und einer der wichtigen Kulturheroen, an die sich die ägyptische Zivilisation immer wieder selbst erinnerte. Bei diesem Text handelt es sich seinem Titel nach um eine Anweisung für den idealen Bau eines Tempels und für seine Organisation. Bei folgenden Gelegenheiten sei sie anzuwenden:
(…) bei der Gründung jedes Tempels von Ober- und Unterägypten, um alle (Dinge) an ihren richtigen Platz im Tempel zu setzen. Vorschrift des korrekten Benehmens, die jedermann aufzutragen ist, um ihn in seinen Dienst einzuweisen in jedem Dienst des Tempels, um Reinheit festzusetzen, Tabus zu verabscheuen und die Vorschriften des ersten Males einzuhalten durch alle, die im Tempel eintreten, von den hochrangigen Priestern, die beim Gott eintrittsberechtigt sind, bis zu jedem jeweiligen Dienst.
Mit diesem „ersten Mal“ wird der Bezug zur Urzeit hergestellt und damit wohl auch zum Fundplatz der Rahmengeschichte, dem Ort der Weltschöpfung. Im Text folgen wirklich zunächst Bauanleitungen und dann Personalanweisungen. Die Bauanleitung listet auf, welche Türen sich in welche Richtung öffnen lassen sollen und welche konkreten Normmaße im Einzelfall anzustreben seien. Wie viele Texte ist auch das Buch vom Tempel vor allem in Manuskripten der römischen Zeit erhalten. Joachim F. Quack machte allerdings eine Reihe textinterner Details aus, denen zufolge ein deutlich früheres Kompositionsdatum anzunehmen ist: im 2. Jahrtausend v. Chr.
Statuette des Imhotep, 7.–4. Jh. v. Chr.; Kairo, Ägyptisches Museum
In der römischen Kaiserzeit war Heliopolis kein Kulturzentrum mit lebendiger Wissensgenerierung mehr (S. 331–338). Es ist der Ruf alter Größe, der fortan die Erinnerung an Heliopolis bestimmte. Dieser erwies sich jedoch als ungemein langlebig! Noch im 15. Jahrhundert war der berühmte ägyptisch-arabische Historiker al-Maqrizi davon überzeugt, dass der Inbegriff von Weisheit, der Gott Hermes-Thot, zu den Gründungsfiguren von Heliopolis gehört hat.
Der Anspruch an Weisheit erstreckte sich gleichfalls auf generelle ethische Normen: Für eine Reihe von Autoren – fiktive oder reale? – von Schriften zum rechten Verhalten im Leben fungierten heliopolitanische Priester als Autoritäten. So wurde Chacheperraseneb, der sich um 1850 v. Chr. in einem literarischen Text kritisch über damals moderne Zeitströmungen äußerte, als heliopolitanischer Priester ausgewiesen (S. 182–184). Noch in einem Text des 6. bis 5. Jahrhunderts v. Chr. erscheint mit dem Priester Chascheschonki ein Mahner (in Form einer Lebenslehre zeigt er ethische Richtlinien auf), der seine Autorität unter anderem aus seiner Herkunft vom Schöpfungsort Heliopolis bezieht. Der Ausgangspunkt seiner Lehre ist die Konkurrenz am Königshof. Chascheschonki neidet einem Kollegen dessen Position als Oberarzt des Königs. Unbemerkt schleicht er sich aus dem Tempel, nimmt ein Boot und reist nach Memphis. Die beiden Konkurrenten freunden sich an und sind fortan bei Hof. Eine Hofintrige mit dem Ziel der Ermordung des Pharaos versucht, beide Priester als Unterstützer zu gewinnen, aber Chascheschonki beteiligt sich nicht. Das Komplott wird aufgedeckt, die Verschwörer aus Armee und Priesterschaft werden hingerichtet, und Chascheschonki landet in einem Gefängnis im Ostdelta, weil er die Verschwörung nicht umgehend gemeldet hat. Bei der folgenden Amnestie wird Chascheschonki übergangen, und angesichts des wahrscheinlichen Endes im Gefängnis bittet er in der Übersetzung von Joachim Quack um Folgendes:
„Möge mir bei dir (Pharao) diese Wohltat erwiesen werden und mir eine Schreibpalette und eine Papyrusrolle gebracht werden, denn ich habe einen kleinen Sohn und bin noch nicht dazu gekommen, ihn zu belehren. So will ich für ihn eine Lehre schreiben und sie ihm nach Heliopolis bringen lassen, um ihn damit zu erziehen.“
Auch wenn ihm als Schreibmaterial kein Papyrus, sondern nur Gefäßscherben gewährt werden, so kann er nun all sein ethisches Wissen aufschreiben. Tageweise notiert er seine Lehrsprüche, die auch dem Pharao zur Kenntnis gegeben werden. Chascheschonki kam aus Heliopolis und schrieb für einen Bewohner von Heliopolis: Erneut stand hier die Stadt des Sonnengottes als Referenz dafür, wie man leben sollte und was man sich keinesfalls zuschulden kommen lassen durfte.
Die Lehrsprüche umfassen allgemeine Ratschläge („Diene einem Weisen, damit er dir dient! Diene demjenigen, der dir dienen wird!“), Ratschläge zum Umgang der Menschen untereinander („Hasse keinen Menschen nach seinem äußerlichen Eindruck, wenn du nichts von ihm weißt!“), praktische Hinweise („Versteck dich nicht, wenn du dich dann finden lässt! Versteck dich nicht, wenn du keinen Proviant hast!“), zeitbestimmte Anleitungen für Führungskräfte („Ein Sklave, den man nicht schlägt, in dessen Herz ist der Fluch groß.“), Höflichkeitsregeln („Sag nicht ‚junger Mann‘ zu dem, der alt geworden ist! Missachte in deinem Herzen nicht den, der alt geworden ist.“), taktische Merksätze („Prozessiere nicht mit einem, der ranghöher ist als du, wenn du keine Protektion hast.“), ethische Grundsätze („Streite nicht in einer Sache, in der du im Unrecht bist.“), praktische Tipps („Ein Fenster mit großer Öffnung bringt mehr Hitze als Kühlung.“) und bemerkenswert gut zusammengefasste Lebensweisheiten („Besitz packt den Besitzer.“), begleitet von unkaschierter Frauenfeindlichkeit („Eröffne dein Herz nicht deiner Frau; was du ihr sagst, landet auf der Straße.“). Sie folgen ohne klare systematische Anordnung aufeinander, so wie es dem Inhaftierten Tag für Tag in den Sinn kam und demzufolge schriftlich auf die Scherben gelangte. Es waren mehr als 530 Lehrsprüche von – aus heutiger Sicht – unterschiedlichem Tiefgang und wechselnder Relevanz. Der Text bricht plötzlich ab, gerade so, als sei Chascheschonki, der dieses eine Mal in seinem Leben nicht sofort das Richtige getan hatte, aus dem Gefängnis in Tell Defenna im Ostdelta entlassen worden. In diesem Fall waren soziales Unglück und Fehlverhalten nur ein Teil eines größeren Zusammenhanges. Aber Chascheschonkis Ratschläge für ein gerechtes Leben lagen fortan in Schriftform in Heliopolis. Litaneiartig wird darin die zentrale Rolle des Sonnengottes beschrieben:
Wenn Ra einem Land zürnt, wird sein Herr das Recht missachten.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er das Recht in ihm aufhören.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er die Reinheit in ihm aufhören.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er die Wahrheit in ihm verschwinden.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er seine Wirtschaft schwach sein.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er in ihm kein Vertrauen entstehen.
Wenn Ra einem Land zürnt, lässt er einen in ihm nicht Festfreude und Glück annehmen.
Wenn Ra einem Land zürnt, macht er seine Kleinen groß und seine Großen klein.
(…)
Wenn Ra einem Land zürnt, macht er seinen Wäscher zum Wesir.
Ein weiterer, nur auf Griechisch erhaltener, berühmter Text ist das sogenannte Töpferorakel. Auch er datiert in eine Zeit, als der Stern von Heliopolis schon im Sinken begriffen war (S. 326–328). Zahlreiche Details weisen in die Zeit der Ptolemäer-Könige (3. bis spätes 1. Jahrhundert v. Chr.), die den heliopolitanischen Kultplatz nachweislich nicht mehr förderten. Dennoch: Der mythische König „Amenophis“ lässt in diesem Text den Prophezeiungen gebenden Töpfer nach seinem Tod in Heliopolis bestatten, denn dies sei nun mal der Platz für Wahrheit im Diesseits wie im Jenseits.
Es gibt verschiedene Parameter, die Bedeutung eines Ortes zu bemessen. Einer davon ist die Wertschätzung im kulturellen Gedächtnis des jeweiligen Volkes selbst, wovon in den vorangegangenen Absätzen die Rede war. Eine andere Skala bietet die feindlich gesinnte Welt. Im Alten Testament sagt der Prophet Jeremia:
„Und er wird kommen und schlagen das Land Ägypten; wer der Pestilenz bestimmt ist, wird der Pestilenz sein, und wer zur Gefangenschaft bestimmt ist, wird gefangen genommen werden, und wer dem Schwert bestimmt ist, dem Schwert.
Und ich werde entzünden ein Feuer in den Häusern der Götter Ägyptens, und er wird sie niederbrennen und sie hinfort führen in Gefangenschaft; und er soll sich des Landes Ägypten bekleiden, wie ein Hirte sein Gewand anzieht, und er soll in Frieden ziehen.
Und er wird zerbrechen die Stelen (= Obelisken) des Beth Schamasch (= Haus der Sonne = Heliopolis), welches im Lande Ägypten ist, und wird niederbrennen durch Feuer die Häuser der Götter Ägyptens.“ (Jer 43.11–13)
Hier ist der Fall ganz klar: Der Prophet wählt eine Bezeichnung, bei der innerhalb und offenbar auch außerhalb Ägyptens das Publikum versteht, was gemeint ist – das „Haus der Sonne“ (Beth-Schamasch) ist wortwörtlich das „Haus des Ra“, der Sonnentempel von Heliopolis.
Auch unter den Verfluchungen des Jesaja (19.17–19) taucht möglicherweise Heliopolis auf. Und nicht besser ergeht es der Stadt und ihren Bewohnern in den Prophezeiungen des Ezechiel. Dort wird sie direkt mit dem ägyptischen Namen On (= Junu) angesprochen: „Die junge Mannschaft von On und Pi-Beset soll durchs Schwert fallen und die Frauen gefangen weggeführt werden.“ (Ez 30.17) Der Hintergrund ist die Konfrontation des Babylonischen Reiches unter König Nebukadnezar mit der ägyptischen 26. Dynastie. Dieses Kräftemessen nahm bedrohliche Züge an, nachdem die Babylonier die Ägypter um 605 v. Chr. zunächst ganz aus der Levante zurückgedrängt hatten. Dreimal versuchte es dieser König nun, das Pharaonenreich zu erobern: 601/600, 582, und schließlich noch einmal 567 v. Chr. Aktuell wird diskutiert, ob es den Babyloniern beim letzten Versuch nicht wirklich gelang, die Landesgrenzen zu übertreten. Alternativ hätte man es mit einer „Aktualisierung“ des Textes im Anschluss an die erfolgreiche Eroberung durch die Perser 526/525 v. Chr. zu tun.
Wahrscheinlich machte eine Verfluchung von Heliopolis nur bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. Sinn, denn danach wurde der Ort der Befundlage nach nicht mehr instandgesetzt.
Zusammenfassend bleibt hervorzuheben, dass es der stets mitgedachte Rückbezug auf den Weltanfang ist, aus dem sich bei heliopolitanischen Schriften und Persönlichkeiten die besondere Autorität speist. Und diese Autorität wirkt auch durch die als real besonders intensiv gedachte Nähe des Sonnengottes. Heliopolis musste also für ägyptische Herrscher unter allen Umständen gefördert – bzw. eben durch Gegner besonders attackiert werden.