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Götter und Göttertiere im Tempel
ОглавлениеJeder größere und kleinere Ort des 3. bis 1. Jahrtausends v. Chr. in Ägypten hatte einen Haupttempel oder Schrein, in dem meist der Stadtgott kultisch verehrt wurde. Doch anders als z.B. in der griechischen Kultur gingen die Geschichten und Mythen nicht konstant davon aus, dass man einem Gott auf der Straße begegnen konnte. Die Zugänglichkeit der Götter war gänzlich anders konzipiert. Im 2. bis 1. Jahrtausend v. Chr. bestand die allgemeine Gewissheit, dass die Götter im Medium der Statue, abgeschieden im Tempelinneren, auf der Erde präsent seien. Von daher – so schwierig dies auch praktisch zu denken ist – war Heliopolis, obwohl die Sonne nachweislich am Himmel stand, im Mythos ein Sitz des Sonnengottes Ra.
Wenn in späteren Epochen die Bewegung des Sonnengottes beschrieben wurde, dann beginnt er faktisch seine Reise in Heliopolis: Im Mythos von der „Heimkehr der Göttin“, einem Text mit einer langen Tradierungsgeschichte bis in die römische Kaiserzeit, wird der Ausgang der Handlung in der Krönungsstadt Memphis gefeiert; zuvor hat Tefnut, die Tochter des Sonnengottes, ihren Vater im Streit verlassen und sich in ein Land weit im Süden zurückgezogen; im Auftrag des Sonnengottes wird eine Delegation entsandt, die es schließlich schafft, die Göttin zur Rückkehr nach Ägypten zu bewegen. Zum Empfang in der Königsstadt macht sich auch der Vater auf den Weg:
Er kam aus Heliopolis nach Memphis vor sie. Er begrüßte die Göttin und feierte mit ihr ein Fest im Tempel der Herrin der Sykomore in Memphis.
Der Sonnengott war in der ägyptischen Religion kein einsames Wesen. Es überrascht vielleicht, dass z.B. in einem Horus-Tempel in Edfu oder einem Amun-Tempel in Luxor stets auch eine Vielzahl anderer Gottheiten dargestellt ist, je nach der Situation, in der sich die Hauptgottheit befindet. Ägyptische Gottheiten „funktionieren“ nie in der Einsamkeit – nur Echnaton und Nofretete wagten um 1350 v. Chr. einen Ausbruch aus diesem Denken. In der altüberkommenen Göttervorstellung begegnen Gottheiten immer im Zusammenhang mit anderen Göttern, sie „funktionieren“ ausschließlich in sozialen Konstellationen.
Unter der Vielzahl von Gottheiten, die zusammen mit dem Sonnengott Ra gezeigt werden, spielte Hathor über Jahrtausende eine wichtige Rolle. Es würde zu kurz greifen, sie als „Göttin der Liebe“ anzusprechen, und auch andere Bezeichnungen, mit denen man ihr Wesen zusammenfassen möchte, passen nicht in vollem Umfang. Sie galt seit der frühesten Zeit Ägyptens als eine, wenn nicht sogar die wichtigste weibliche göttliche Kraft. Im Pyramidenzeitalter waren hochgestellte Damen der Gesellschaft, von Assuan im Süden bis ins Nildelta, deswegen meist auch sogenannte „Priesterinnen der Hathor“. Neben ihrer Frauengestalt ist die wichtigste Darstellung Hathors die als Kuh. Berühmt sind die Szenen aus dem Tempel der Königin Hatschepsut in Theben, die gleich einem Kalb vor der Hathor-Kuh kniend Milch trinkt. Andere Texte benennen um 2100 v. Chr. Hathors helfende Rolle beim Einstieg in die Götterbarke des Sonnengottes. Sie hatte also schon früh einen jenseitigen Bezug.
Und auch in Heliopolis durfte Hathor seit ca. 2300 v. Chr. nicht fehlen. Dort war ihr Beiname Nebethetepet – „Herrin von Hetepet“. Hetepet ist dabei doppelsinnig. Zum einen gab es wahrscheinlich wirklich bei Heliopolis einen Bereich, der so hieß. Zum anderen aber war das Wort in altägyptischer Zeit mit den Begriffen für Opfergefilde und Opfergaben verbunden. Damit sind wir wieder bei einem der heliopolitanischen Hauptthemen: der Versorgung. Sogar ein Kurzname ist von ihr bekannt: Pep/Pipi ist als Kürzel des Hathor-Beinamens Nebethetepet bezeugt und erscheint häufig in Personennamen des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr. – wie etwa im Fall der Frau des Bürgermeisters von Memphis um 1300 v. Chr. (Pipi). Später hießen heliopolitanische Würdenträger beispielsweise „Padipep“, also „der, den Pep/Pipi gegeben/geschenkt hat“.
In Bezug auf Hathor gibt es aber noch einen weiteren Gesichtspunkt, der aus heutiger Perspektive etwas überrascht: Die ägyptische Religion konstruierte immer wieder überregionale Verbindungen. Es gibt Inschriften aus der Zeit des Königs Pepi I. (um 2300 v. Chr.), die parallel zwei Orte und zwei Götter verbinden: Atum, den Schöpfergott von Junu (= Heliopolis), und Hathor, die Herrin von Junet (= Dendera in Oberägypten). Gut 550 Kilometer südlich ist also in diesen Texten der Pyramidenzeit ein „weibliches Heliopolis“ gedacht worden – denn Junet war für jeden Schriftkundigen klar als feminine Bildung zum „maskulinen“ Ortsnamen von Heliopolis zu erkennen (dem maskulinen Junu fehlt die „t“-Endung). Ein ganzes Land scheint quasi auf dem Reißbrett mit Bezug zur Götterwelt konzipiert worden zu sein.
Natürlich würden wir nun gern wissen, wie Hathor mit dem Schöpfergott verwandt war und wann im Verlauf der Schöpfung sie in die Welt kam. Das ist allerdings eine moderne Perspektive – die Quellen beantworten diese Frage nicht. Wahrscheinlich gibt es wieder verschiedene Kontexte, die unterschiedliche Erzählweisen mit sich bringen. Bei der einen, die auf die Ur-Einheit des Alls abzielt, wird autonomistisch und kosmisch argumentiert und von Schu, der Luft, und Tefnut, dem Feuer, von Geb als Erde und Nut als Himmel erzählt. Gott existiert als Potenzial, implodiert in Licht und Materie und wird sichtbar. Hier spielt Hathor keine erkennbare Rolle, denn sie war nie Teil dieser frühen „Elementenlehre“.
Die andere Sichtweise erzählt vom bewussten Handeln des Sonnengottes: Er agiert sozial und hat eine physisch und auch emotional handelnde Tochter. Hathor und eine weitere, weniger bekannte heliopolitanische Göttin namens Iusaas werden in den Quellen der Folgezeit auch die „Hände Gottes“ genannt, was wieder den Eindruck bestärkt, als hätten wir hier die Exekutive des Willens des Sonnengottes.
Hathor-Nebethetepet in einer Inschrift Nektanebos’ I., 380–363 v. Chr.
Dieser zweiten, handlungsorientierten Sichtweise war ein langes Leben beschieden. Der Mythos begegnet uns nicht nur in zahlreichen Texten außerhalb von Heliopolis, sondern auch im letzten bekannten Neubau von Heliopolis, dem Atum-Tempel aus der Regierungszeit Nektanebos’ I. (380–363 v. Chr.): Die Texte, die wir im Herbst 2015 aus dem Zentrum des Bezirks bergen konnten, nennen neben dem Schöpfergott Atum auch Hathor-Nebethetepet (Herrin von Hetepet) als zweite Kultempfängerin – und das im mittleren 4. Jahrhundert v. Chr., also 2000 Jahre nach ihrer ersten Nennung.
Eine Vielzahl anderer Götter erscheint in den Inschriften des Tempels. Darunter selbstverständlich die ersten neun Götter: Atum, Schu, Tefnut, Geb, Nut, Osiris, Isis, Seth und Nephthys. Einige finden wir in Menschengestalt schon als Reliefdekoration an Schreinen der Zeit der ersten Stufenpyramide (um 2700 v. Chr.; S. 132–136). Eine der ersten Gottheiten, die im 3. Jahrtausend v. Chr. auftraten, war eine besondere Form des Horus, des Sohnes von Osiris und Isis. Im 2. Jahrtausend v. Chr. wurde der Sonnengott in seiner Falkengestalt als Ra-Harachte dominant. Auch hier wurde der Sonnenlauf wieder als Vorgang gedacht: Am Morgen erscheint der Sonnengott in seiner Entstehung (altägyptisch: cheper) als Skarabäus bzw. – etwas umgangssprachlicher – als Mistkäfer. Man hatte beobachtet, dass dieses Tier seine Eier in einer Mistkugel vor sich her rollt, aus der dann eines Tages die Jungtiere heraustreten; diesem Bild entsprechend konnte der Sonnenaufgang in Gestalt eines Mistkäfers, der die Sonnenscheibe vor sich her schiebt, wiedergegeben werden. Mittags ist er das machtvolle Sonnengestirn, als Re-Harachte, zum Abend hin wird er bis zu seinem Abtauchen im Horizont als Atum bezeichnet. Allein dieses Beispiel zeigt, wie sehr der ägyptische Gottesbegriff in der altägyptischen Kultur von situativen Aspekten bestimmt war.
Einige weitere übernatürliche Mächte traten vornehmlich in Tiergestalt auf. Die religiöse Praxis schloss in jedem ägyptischen Tempel auf die eine oder andere Art und Weise die Tierwelt mit ein. Aus heutiger Sicht wirken einige Praktiken auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn einerseits lässt sich in den religiösen Zentren ein gewaltiger Opferbetrieb nachweisen, andererseits wurden Tiere viele Jahrhunderte lang kultisch verehrt – ein Konzept, das auch die Nachbarn derart eng mit Ägypten verbanden, dass sie die Abkehr von Gott beim Exodus im Alten Testament als Rückkehr zum „Goldenen Kalb“, also zur Verehrung eines heiligen Tieres nach altägyptischem Vorbild, illustrierten.
Zur Tierwelt im Tempel von Heliopolis gibt es viel zu erzählen: Der Falke ist zwar nicht der eindrucksvollste Raubvogel Ägyptens (einige Geier-, Adler- und Milan-Arten wären deutlich majestätischer), aber in diesem Kontext doch das wichtigste Tier, denn er war dem Sonnengott zugeordnet. Wahrscheinlich war es seine wendige Schnelligkeit, die ihn zum heiligen Tier und zur Inkarnation der Eigenschaften des Hochgottes werden ließ. An anderen Orten Ägyptens mit weniger Bodenfeuchtigkeit und damit besseren Erhaltungsbedingungen wurden Falkenmumien aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. gefunden. Diese Tiere stammen aus einer staatlich organisierten Haltung und wurden, geschlachtet, bei den höchsten Festen, vor allem beim Neujahrsfest, mumifiziert beigesetzt.
Raubvögel sind auch heute im Tempel von Heliopolis zu beobachten – sie setzen sich gern auf die Spitze der Obelisken und beobachten wie von einem Hochsitz aus die Umgebung. An manchem Nachmittag habe ich mich schon gefragt, ob man nicht auch in der Antike schon das Problem hatte, dass die Obelisken mit der Zeit ziemlich schmutzig waren vom Vogelkot – denn wie sollte man beispielsweise am großen, einzeln stehenden Obelisken Thutmosis’ III., um 1450 v. Chr. errichtet, in mehr als 35 Metern Höhe einen Raubvogel, der dazu noch ein heiliges Tier sein konnte, vertreiben? Ob die mit Gold oder Elektron beschlagenen Obeliskenspitzen des alten Ägypten wohl wirklich immer und an allen Stellen blitzeblank gestrahlt haben?
Rinder spielen in den Tierkulten der alten Welt eine sehr prominente Rolle. Das hängt mit einer Vielzahl von Assoziationen zusammen, die weit über die Aspekte der gewaltigen Kraft und der sexuellen Potenz, mit der dieses Tier verbunden wird, hinausgehen. Je nach Kulturkreis wurde dem Tier ein Bezug zu den Ahnen zugeschrieben, wie auch eine Verbindung zum Mond. Auf Särgen des 1. Jahrtausends v. Chr. sehen wir, wie ein Stier die Mumie des Verstorbenen trägt: Man scheint also geglaubt zu haben, dass er bei der Transformation des Toten eine Rolle spielte. Das berühmteste dieser heiligen Tiere war der Apis-Stier, das heilige Tier am Tempel des Gottes Ptah in Memphis. Noch heute kann in der westlich von Memphis gelegenen Wüstennekropole Saqqara das sogenannte Serapeum besucht werden, die gewaltigen, unterirdischen Galeriegänge mit den Gräbern dieser Stiere. Sie wurden seit dem späten 2. Jahrtausend v. Chr. in den Fels geschlagen.
In Heliopolis ist vor allem der heilige Stier namens Mnevis durch eine Vielzahl von Denkmälern bekannt. Hier wird deutlich, dass diese heiligen Tiere zu bestimmten Zeiten auch für einfachere soziale Schichten eine Möglichkeit waren, mit der göttlichen Sphäre in Kontakt zu treten: durch das Stiften kleiner Weihestelen im Tempel. Um 1400 v. Chr. stammten die meisten dieser Stifter aus einfacheren Berufsgruppen: Wäscher, Handwerker, einfache Reinigungspriester und niedere Schreiberränge etwa ließen kleine Kalksteinstelen von 30 bis 60 Zentimetern Höhe herstellen – wahrscheinlich, um sie in die Umfassungsmauern des Mnevis-Tempelbezirks oder entlang einer Prozessionsachse im Tempel von Heliopolis aufzustellen und dadurch dauerhaft präsent zu bleiben. Aus den gefundenen Tierknochen wird deutlich, dass diese Sonderzuchten eindrucksvolle Rinder hervorbrachten, die an Größe deutlich über das hinausgingen, was normalerweise in den Herden des Landes anzutreffen war. Spätestens wenn ein Apis-Stier starb, musste man nach einem Nachfolger suchen; mit dem Ende der Mumifizierung und Bestattung sollte dieser feststehen und inthronisiert werden. Zahlreiche Stelen, die vor allem von dem französischen Ausgräber Auguste Mariette (1821–1881) entdeckt wurden, zeugen von diesem sich vielfach wiederholenden Wechsel. Das Wissen um die exakte Ausführung des Rituals der Bestattung lag bei einem Teil der Priesterschaft, und diese Männer wurden offenbar auch für die Behandlung des Mnevis-Stieres von Heliopolis herangezogen. Zumindest unter Ramses II. gab es eine Priesterfamilie, die für die Bestattung beider Stiere, des Apis-Stiers in Memphis und des Mnevis-Stiers in Heliopolis, zuständig war. Die professionellen Stierbalsamierer fanden in Heliopolis nicht die Möglichkeit vor, große unterirdische Galeriegänge anzulegen: Im Gebiet des Mnevis-Bezirks befand man sich auf dem Ackerboden des Nildeltas. Aber auch eine Verlegung an den Wüstenrand hätte wenig geholfen, da hier kein gewachsener Fels anstand. Aus diesem Grund wurden einzelne Grabkammern in den Boden eingetieft (Abb. S. 52–53). Dieser Bezirk liegt gut einen Kilometer nördlich der Tempelumfassung im heutigen Stadtteil Arab el-Tawila – überbaut von einer dichten Folge enger Gassen und drei- bis siebenstöckiger Häuser.
Ausschnitt aus der Weihestele des Qen mit dem Hohepriesterprinzen Ahmose und dem Mnevis-Stier im Bildfeld, um 1450–1400 v. Chr.; Berlin, Ägyptisches Museum
Wie das Verfahren bei der Auswahl des neuen Stiers exakt aussah, wissen wir nicht. Offenbar gab es aber viele Stierherden, in denen man das ideale Tier mit allen notwendigen Merkmalen suchte. Eine solche Herde gab es wohl um 1140 v. Chr. im äußersten Süden des Landes bei Assuan. Ein Papyrus in Turin – der Text ist in der Ägyptologie als der „Turiner Skandalpapyrus“ bekannt, denn es geht in ihm um die Aufdeckung einer Unterschlagung von Tempelbesitz – zeigt, wie Betrugsdelikte auch im religiösen Kontext vorkamen: Zu der Reihe an Vorwürfen, gegenüber denen sich der Priester Penanuket rechtfertigen musste, gehörten auch zwei Verbrechen gegen die Herde des Mnevis, die offenbar in seiner Zuständigkeit lag:
Mnevis-Grabkammer Ramses’ VII., um 1130 v. Chr.; Kairo, Ägyptisches Museum
Memorandum betreffs der Schwarzen (Kuh), für die er zuständig war: Sie hat fünf Kälber des Mnevis zur Welt gebracht, und er holte sie, nahm von ihnen auf dem Feld Besitz, unterschlug sie, brachte sie nach Süden und versetzte sie an die Reinigungspriester …
Aber nicht nur Reinigungspriester waren in den Skandal verwickelt. Auch Sicherheitspersonal des Militärapparats, der die Passage durch den 1. Katarakt zu schützen hatte, bekam offenbar eine Anreicherung des Speiseplans angeboten:
Memorandum betreffs des ausgewachsenen Mnevis-Kalbs, für das er zuständig war: Er unterschlug es, und er gab es an einige Polizisten von der Grenzfestung Senmet, und er nahm seinen Preis von ihnen an.
Der Weg in die Küchen des Staates war sicher die reguläre Endstation eines Tieres, das nicht die nötigen Merkmale aufwies, um zum heiligen Stier erkoren zu werden, – aber natürlich sollte dies nicht auf Rechnung eines örtlich ansässigen Priesters geschehen, unter Umgehung der Organisation des Tempels von Heliopolis.
Der schließlich inthronisierte Stier lebte wohl nahe dem Stierfriedhof nördlich des Tempels. Strabon besuchte das Heiligtum bei seiner Ägyptenreise 25 v. Chr. Noch als der eigentliche Haupttempel nur mehr als gewaltige Ruine eine Kulisse alter Größe darbot, hielt sich in Heliopolis der Tierkult, wie in vielen anderen Städten Ägyptens auch. Auf den letzten Münzen mit lokalen Bildthemen, die für die Region von Heliopolis geprägt wurden, sehen wir nochmals den Stier von Heliopolis mit einer Sonnenscheibe zwischen den Hörnern, und auch in den Werken von Porphyrios (3. Jahrhundert n. Chr.) lebt der „Lebende Herold des Ra, der die Ordnung/Gerechtigkeit (altägyptisch Maat) aufsteigen lässt“, fort.
Münze des Kaisers Marc Aurel: Helios mit dem Mnevis-Stier
1866 Jahre nach den letzten römischen Münzprägungen, auf denen Mnevis erscheint, hatten wir dann 2014 unsere ganz eigene Tiererscheinung: Aus einem der nahen Häuser nahm ein stattliches Rind Reißaus und rannte in beeindruckendem Tempo durch die Halden – in Richtung der Stelle, an der wir gerade gruben (in einem Meter Tiefe waren wir eben erst auf die Umfassungsmauer des Neuen Reiches gestoßen). Mit einer Art Klettersprung befand sich das Rind mit einem Mal mitten in unserer Grabung! Es raste zwischen Grabungsarbeitern und zeichnenden Archäologen hindurch, um dann – nicht weniger erstaunlich – an der anderen Seite wieder herauszuklettern. Die Besitzer folgten deutlich weniger schnell – irgendwo in den Halden werden sie diese beeindruckende Nachfahrin des Mnevis sicher wieder eingefangen haben.
Ein weiteres kraftvolles Tier hängt mit dem Sonnengott von Heliopolis zusammen: das Schaf. Übrigens: Anders als in der Sudan-Archäologie spricht man in der Ägyptologie im Zusammenhang mit den ägyptischen Göttern selten von heiligen Rindern, sondern von heiligen Stieren, und analog selten von Schafen, sondern von Widdern, also dem ausgewachsenen männlichen Schaf. Und genau mit diesem Tier ging der Sonnengott Ra als nächtliche Gestalt eine Mischform ein: In den altägyptischen Unterweltsbüchern hat er einen menschlichen Körper und einen Widderkopf. In dieser Gestalt verbrachte er in der ägyptischen Kosmologie die Nacht in der Unterwelt und brachte den Verstorbenen Licht und Wärme, bevor er dann nach zwölf Stunden Nachtfahrt im Osten wieder auf der Erde erschien. Widder gehörten in ganz Ägypten seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. (und wohl auch schon früher) zu den Tieren, in denen sich bedeutende Gottheiten manifestieren konnten, wie etwa der „Bock von Mendes“ im Ostdelta oder der Gott Herischef in der Oase Fayum. Noch weiter verbreitet war der Gott Chnum: Wir finden ihn als Widder an einer Vielzahl von Orten, wie etwa in Elephantine/Assuan, im oberägyptischen Esna oder in verschiedenen Kultorten Mittelägyptens.
Das christliche Bild des Schafs ist stark von dem friedfertigen und wehrlosen Opferlamm bestimmt, wie es eben vor allem in Offenbarungsreligionen begegnet. Im Tempel von Heliopolis aber konnte man einen anderen Eindruck gewinnen und das Dominanzverhalten der Schafe kennenlernen. Im Zuge der Revolution 2011 haben sich auf den Halden viele Hirten mit ihren Herden angesiedelt (die Tiere gelten als sehr wertvoll: Ein Schaf konnte im Jahr 2016 doppelt so viel wert sein, wie ein ägyptischer Staatsbeamter im mittleren Dienst pro Monat verdient!). An diesen Herden von bis zu 100 Tieren mussten wir in den letzten Jahren immer vorbei, um zu unserer Grabung zu gelangen. Ich kannte die Situation prinzipiell schon aus Elephantine/Assuan, wo schon einmal ein ausgewachsener Widder eine Gruppe von Mitarbeitern rammte, wovon zumindest einige blaue Flecke am Bein davontrugen. Im ehemaligen Tempelbezirk von Heliopolis befanden die heutigen Nachfahren der nächtlichen Erscheinungsform des Sonnengottes gelegentlich, dass unser Kleinbus sich im falschen Territorium aufhielt und zu vertreiben sei. Auch das offensive Hupen unseres Fahrers Amr half nicht. Im Frühjahr 2018 verloren wir durch solche Ramm-Angriffe zweimal Kunststoff-Blinklichter.
Wer sich erst einmal an eine Tierwelt, in der sich Göttlichkeit spiegeln kann, gewöhnt hat, dem erscheinen eindrucksvolle Verkörperungen wie Rinder, ausgewachsene Schafe und Falken vollkommen logisch. Schnelle, große, starke Geschöpfe sind als Repräsentanten einleuchtend. Was aber ist mit Gliederfüßern? Eine weitere Gottheit des heliopolitanischen Zirkels war Sepa – und seine Tierform war der Hundertfüßer. Im Bekanntheitsgrad rangiert er deutlich hinter dem Tausendfüßer, im Unterschied zu diesem aber eher friedfertigen Tier hat der Hundertfüßer ein ausgesprochen territoriales Verhalten; er greift und verzehrt auch kleinste Lebewesen. Sepa finden wir schon in sehr frühen religiösen Texten mit Bezug zu Heliopolis (um 2400 v. Chr.). Er scheint als Erdbewohner früh mit der unterweltlichen Sphäre in Verbindung gebracht worden zu sein, als Schutzgottheit für diejenigen, die in die Erde – oder noch deutlicher: in die „Unterwelt von Heliopolis“ – eingebracht wurden. Gemeint ist das Gebiet nördlich des Tempels, nahe dem auch der Mnevis-Stier bestattet wurde. Sepa wurde aufgrund seines natürlichen Lebensraums als potenzielle (und real allgegenwärtige) Schutzgottheit der Toten aufgefasst.
Schafe im Tempel von Heliopolis, Frühjahr 2018
Ein weiteres Tier in Heliopolis bleibt rätselhaft: der Phönix. Seine Beziehung zu Heliopolis ist von großer Bedeutung. Zunächst wurde er vornehmlich als Stelzenvogel dargestellt, im 2. Jahrtausend v. Chr. aber nahm er die Gestalt eines Reihers an, die anzunehmen auch ein Verstorbener sich wünschte, um sich auch nach dem Tod frei bewegen zu können (das Ziel auch anderer Verwandlungen). Viel bekannter ist heute aber – nicht erst seit Harry Potter – der Vogel, der aus seiner eigenen Asche aufzuerstehen vermag. Herodot beschrieb den heliopolitanischen Phönix im Zweiten Buch seiner Historien (5. Jahrhundert v. Chr.). Allerdings erinnert seine Beschreibung am ehesten an einen Adler, wie er nun ganz sicher ausgeschlossen ist – zahlreiche Bilder belegen, dass die Ägypter sich eher einen Wasservogel vorstellten. Zudem bringt der Phönix bei Herodot seinen verstorbenen Vater mit, eingehüllt in ein Ei. Immerhin leitet Herodot den Bericht ein mit: „Von seinem Tun erzählt man Folgendes, was mir aber nicht glaubhaft erscheint.“ Letztlich gilt noch festzuhalten, dass es Inschriften des 3. bis 1. Jahrtausends v. Chr. zufolge in Heliopolis einen Tempelteil gab, der „Phönix-Haus“ genannt wurde, und dass dieses Benu genannte Tier mit dem Schöpfungsvorgang (S. 29) im Zusammenhang stand, wenn wir auch nicht genau wissen, in welcher Form.
Phönix im Totenbuch des Maiherperi, um 1400 v. Chr.; Kairo, Ägyptisches Museum
Und eines letzten Tieres sollte hier gedacht werden: des Ichneumons. Es hat wohl mit unserem heutigen Blick auf die Tierwelt zu tun, dass es uns etwas schwer fällt, in diesem Mungo-artigen Tier eine Verwandlungsform des Sonnengottes zu erkennen. Seine Gestalt dürfte den Europäer am ehesten noch an einen Otter erinnern. So irreal es aber zunächst scheint: Der mächtige Sonnengott war verletzlich, und unter den Feindtieren spielten Schlangen immer wieder eine Rolle. Hier kommt nun der Mungo ins Spiel: Dieses Säugetier von ca. 26 bis 60 Zentimetern Länge scheut sich nicht, es selbst mit giftigen Schlangen aufzunehmen! Dieses Verhalten brachte ihm die Verehrung der intensiv die Natur beobachtenden Niltalbewohner ein. Im Frühjahr 2018 entdeckten wir bei den Nachgrabungen zur Kolossalstatue Psammetichs I. im Gebiet des Suq el-Khamis Fragmente einer Heilerstatue mit magischen Schutztexten. Und einer der Texte erwähnt, dass der Sonnengott Ra es in Gestalt eines Ichneumon auch mit den gefährlichsten Schlangen aufnehmen konnte. Das Besondere an diesem Tier, als das der Sonnengott gegen seine Feinde kämpft, ist die Größe: 46 Ellen, also gut 24 Meter, ist es lang.
Die heiligen Tiere im Tempel von Heliopolis waren also ein riesiger Mungo, ein jagender Falke, ein gewaltiges schwarzes Rind und ein Hundertfüßer.