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Bernd-M. Beyer

Walther Bensemann – ein internationaler Pionier

Zu den schillerndsten Persönlichkeiten aus der frühen Zeit des deutschen Fußballs zählt Walther Bensemann. Ab 1889 propagierte er vor allem in Süddeutschland den neumodischen Sport und organisierte erste internationale Begegnungen; zwischen 1920 und 1933 leitete er mit dem von ihm gegründeten »Kicker« ein bis heute existierendes Sprachrohr des Fußballs, bevor ihn die Politik der Nazis ins schweizerische Exil zwang.

Gründerjahre

Bensemann kam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin. Sein Vater Berthold war Bankier, seine Mutter Eugenie entstammte vermutlich einer begüterten Familie aus Breslau.1 Ihr Sohn Walter (das »h« im Vornamen legte er sich später eigenmächtig zu) wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die Emanzipation der Juden im Deutschen Reich augenscheinlich große Fortschritte machte. Mit der Reichsgründung 1871 waren nahezu alle gesetzlichen Diskriminierungen gefallen, und in der Dynamik der industriellen Revolution hatten es nicht wenige jüdische Bürger zu Wohlstand und wirtschaftlicher Macht gebracht. Gesellschaftliche Anerkennung war damit nur bedingt verbunden, obwohl ein Teil der jüdischen Gemeinschaft sich bemühte, durch eine betont säkulare Haltung und das Bekenntnis zum »Deutsch-Sein« die latente Diskriminierung zu durchbrechen. Absurderweise stieß gerade ihre moderne Adaption deutscher Kultur auf antisemitische Vorurteile; man warf ihnen vor, »dass sie ihre ›wahre‹ Natur mit einem ansehnlichen Schuss Kantischer Philosophie, mit Schillerschem Kosmopo-litentum und Beethoven-Sonaten zu tarnen versuchten«2.

Wahrscheinlich wuchs auch Walther Bensemann in einer weltoffenen, intellektuell wie kulturell anregenden Atmosphäre auf; seine Mutter soll Musikabende im heimischen Salon organisiert haben, und die verwandt-schaftlichen Kontakte der Familie reichten bis nach Schottland. Die kosmopolitische Einstellung seiner Eltern wird schließlich durch die Tatsache unterstrichen, dass sie ihren Sohn im Alter von etwa zehn Jahren in den französischsprachigen Teil der Schweiz schickten, wo er in Montreux eine englische Schule besuchte.

Vermutlich schon hier entwickelte sich Bensemanns Begeisterung für alles, was er für typisch Englisch hielt: das Ideal des Fair Play, die vorurteilsfreie Offenheit eines Weltenbürgers, die Selbstdisziplin und Philantro-pie des Gentleman, die Erziehung zum »sportsman«. Und er lernte den ihm bis dahin unbekannten Fußball kennen. Die Tatsache, dass die Schweizer Privatschulen seinerzeit stark von englischen Upper-class-Zöglingen frequentiert wurden, hatte das Land zum ersten kontinentalen Einfallstor des neuen Sports gemacht. 1883 sah Bensemann zum ersten Mal ein Foot-ball-Match englischer Mitschüler, die allerdings Rugby praktizierten. Später setzte sich Soccer durch, an dem sich auch der junge Deutsche versuchte. 1887, im Alter von 14 Jahren, gründete Bensemann gemeinsam mit englischen Mitschülern den Football Club Montreux und stellte sich stolz als dessen »Sekretär« vor.

Als Walther wenig später auf ein Gymnasium in Karlsruhe wechselte, war er offensichtlich entschlossen, auch die deutschen Schüler für den neuen Sport zu gewinnen. Er begann eine etwa zehn Jahre währende Missionsarbeit, in der er sich mit Tatendrang, Sprachgewandtheit, charmanter Großspurigkeit und Streitlust den herrschenden Vorurteilen gegen die »englische Modetorheit« stellte. Man sah ihn – zunächst als Schüler, später als ruhelos umherziehenden Studenten – als Vereinsgründer und -förderer unter anderem in Straßburg, Baden-Baden, Mannheim, Freiburg, Gießen, Würzburg und Frankfurt (dort bei den Frankfurter Kickers, einem Vorläufer der heutigen Eintracht). In München war er 1897 an der Gründung der Fußballabteilung des örtlichen Männerturnvereins beteiligt – aus ihr entstand knapp drei Jahre später der FC Bayern. Prägend war sein Wirken aber vor allem in Karlsruhe, das in den Pioniertagen der deutschen Fußballbewegung zu einer Hochburg avancierte und wo der von Bensemann initiierte Karlsruher FV im Jahr 1910 die Deutsche Meisterschaft erringen sollte.

Über seinen ersten Auftritt in Karlsruhe berichtete Bensemann später: »Im September 1889 ließ ich aus der Schweiz einen Fußball kommen; der Ball wurde morgens vor der Schule aufgeblasen und in der 10-Uhr-Pause musste bereits ein Fenster des Gymnasiums daran glauben. Der im Schulhof wandelnde Professor du Jour (…) hielt eine Karzerstrafe für angemessen; allein Direktor Wendt erklärte sich mit der Bezahlung des Fensters einverstanden und schickte uns auf den kleinen Exerzierplatz, Engländerplatz genannt.«3 Auch dort freilich kam es immer wieder zu Konflikten mit Spaziergängern, die sich belästigt fühlten oder sich am gewagten Outfit der jungen Sportler störten. Der örtliche Schutzmann wurde eingeschaltet, die Schule drohte wegen des »ungebührlichen Verhaltens« mit Strafen, und Bensemann galt gemeinhin als »der Engländer in der Narrentracht«.

Erste internationale Begegnungen

Dies waren Ressentiments, mit denen die junge Fußballbewegung im gesamten Deutschen Reich zu kämpfen hatte; vor allem die deutsch-national eingestellte Turnerschaft wehrte sich gegen den vermeintlich schädlichen Einfluss des »englischen Aftersports« auf die Jugend. Angesichts der Tatsache, dass Teile der Turnerschaft zudem antisemitischen Tendenzen anhingen, wird umso verständlicher, dass sich ein kosmopolitisch sozialisierter Jugendlicher aus jüdischem Hause für den Fußballsport begeisterte. Bensemanns Ehrgeiz ging allerdings weiter. In einer für ihn typischen Mischung aus persönlichem Ehrgeiz und politischer Utopie plante er ein Auswahlteam, das auf dem europäischen Festland einen grenzüberschreitenden Sportverkehr herstellen sollte. Dem sollten zunächst die »Karlsruher Kickers« dienen, die Bensemann 1893 gründete und in denen er eine an den berühmten englischen »Corinthians« orientierte Elitemannschaft sah. Den Kader der »Kickers« rekrutierte er aus einem Netz von Kontakten und Bekanntschaften, das er inzwischen in Süddeutschland geknüpft hatte; sein bester Spieler übrigens stammte aus Straßburg und war ein gewisser Ivo Schricker, der knapp 40 Jahre später zum FIFA-Generalsekretär aufsteigen sollte.

Der selbst erhobene Anspruch der »Kickers«, nämlich »Meistermannschaft des Kontinents« zu sein, wurde allerdings kaum eingelöst. Zwar gelang es Bensemann bereits 1893, die erste internationale Fußballbegegnung in Süddeutschland einzufädeln (gegen ein Team aus Lausanne), doch scheiterten seine Bemühungen, ein französisches Meisterteam nach Straßburg zu holen. Was Bensemann als Akt der Völkerversöhnung verstanden wissen wollte, hielt man in Paris für politische Provokation – immerhin war Straßburg im deutsch-französischen Krieg, also nur zwei Jahrzehnte zuvor, von den Preußen in einer mehrwöchigen Kanonade schwer zerstört worden und in den Augen der Franzosen seither widerrechtlich besetzt gehalten. »Wenn wir nach Straßburg kommen, werden wir mit unseren Kanonen kommen«, beschied eine Pariser Zeitung.


Die Karlsruher Kickers 1894. In der Mitte, mit Ball posierend, Walther Bensemann; ganz links Ivo Schricker, der spätere FIFA-Generalsekretär.

Erst fünf Jahre später gelang es Bensemann, das Eis zu brechen. Er erreichte nach langwierigen Verhandlungen die Einladung eines deutschen Teams nach Paris – der erste bedeutsame Sportkontakt zwischen den beiden verfeindeten Nationen. Im Dezember 1898 gelangen dem »Bensemann Team« (das sich teilweise aus den mittlerweile aufgelösten »Kickers« rekrutierte) gegen den Pariser Meister White Rovers sowie einem Pariser Städteteam zwei Siege.

Inzwischen aber gab es im deutschen Lager Querelen um Bensemanns internationales Engagement. Sie nährten sich zum einen aus persönlichen Animositäten – der ehrgeizige Bensemann betrieb seine Privatdiplomatie an den mittlerweile gegründeten Verbänden vorbei – sowie aus nationalistisch gefärbten Ressentiments. Einflussreiche Kreise unter den Fußballern plädierten dafür, der Fußball müsse sich zunächst als »deutsches Spiel« etablieren, bevor man sich mit ausländischen Gegnern messen und der Gefahr einer schmachvollen Niederlage aussetzen könne.

Der Streit eskalierte, als es Bensemann 1899 überraschend gelang, die ehrwürdige englische Football Association für eine Tournee in Deutschland zu gewinnen. Es war die erste Reise eines englischen Auswahlteams auf den Kontinent und daher eine sportpolitische Sensation – und dennoch hatte Bensemann Mühe, ein Team zusammenzustellen. Sein Hauptgegner war der Süddeutsche Fußball-Verband, an dessen Spitze der konservative Friedrich-Wilhelm Nohe sowie der streitbare Gus Manning standen. Manning, Sohn eines jüdischen Kaufmannes, störte sich vor allem an Bensemanns Eigenmächtigkeiten, an dessen Hang zu ausschweifenden Feierlichkeiten sowie einem allzu lockeren Umgang mit Geld. Den alsbald von Nohe betriebenen Rausschmiss Bensemanns aus dem Süddeutschen Verband rechtfertigte Manning: »Wenn ich auch lebhaft bedauere, dass eine solche Arbeitskraft diesem Organismus verloren gegangen ist, so werde ich stets, als entschiedener Gegner der Ausübung des Fußballsportes mit dem obligaten Freibier, Commersbegeisterung, Champagnersoupers etc., die keiner bezahlt, in unserem süddeutschen Verbande darauf achten, dass diese und ähnliche Tendenzen (…) nicht wieder Eingang finden.«4

Bensemann polemisierte seinerseits gegen die kleinmütige »Boppeles-politik« der Verbände und antwortete zudem mit einer programmatischen Erklärung, in der er sein Verständnis einer fortschrittlichen Sportpolitik definierte: Es gehe darum, den »klaffenden Gegensatz der Stände« zu mildern, es gehe um sozialpolitische Aufgaben, und es gehe um »das Bemühen, die Begriffe der Freiheit, der Toleranz, der Gerechtigkeit im inneren Sportleben, des Nationalgefühls ohne chauvinistischen Beigeschmack dem Auslande gegenüber zu wahren«.5

Diese Programmatik sollte Bensemann in seiner Zeit als »Kicker«-Her-ausgeber später entschieden vertiefen; in seinen jungen Jahren wirkte sie zuweilen wie eine ideologische Verbrämung für seinen ungestümen Tatendrang und persönliche Profilierungssucht. Das Arrangement mit der F.A. beispielsweise stand auf äußerst wackligen Beinen – noch unmittelbar vor der Anreise der Engländer verfügte er weder über eine halbwegs repräsentative Mannschaft noch über die den Engländern zugesagten finanziellen Garantien. Erst als der Berliner Verband seine Unterstützung zusagte, erst als sich Karlsruher Spieler entgegen dem Verbot ihres Verbandes zur Teilnahme bereit erklärten und erst als Ivo Schricker finanziell aushalf, konnten die Begegnungen stattfinden. Sie wurden zu einem Meilenstein in der deutschen Fußballgeschichte. Die Deutschen verloren zweistellig – doch sie erhielten erstmals einen prägenden Anschauungsunterricht über die taktischen und spielerischen Potenziale des modernen Fußballspiels.6

Die »pazifistische Sportidee«

Wenige Wochen später erfolgte die Gründung des Deutschen Fußball-Bundes, an der auch Bensemann mitwirkte, indem er als Delegierter teilnahm und für den Namen des neuen Verbandes verantwortlich zeichnete. Sein Antrag, den DFB an einer Teilnahme am Fußballturnier der Olympischen Spiele 1900 in Paris zu bewegen, wurde allerdings abgelehnt, obwohl sogar sein bisheriger Gegner Manning ihn unterstützte.

Mit der Konstituierung des DFB war die Zeit der in eigener Initiative handelnden Sportdiplomaten vorbei. Bensemann, der sich in weiser Selbstbeschränkung um keine Verbandsfunktion bewarb und den inzwischen offenbar auch Geldsorgen drückten, ging nach Großbritannien, wo er 13 Jahre lang als Sprach- und Sportlehrer an verschiedenen Internaten tätig war. Zwar tauchte er 1908 am Rande des ersten offiziellen DFB-Länderspiels in der Schweiz auf, wo er, obwohl inoffiziell und ungeladen anwesend, die Regie des Rahmenprogramms übernahm, doch sein Rückzug aus der deutschen Fußballszene war unübersehbar. Ganz offensichtlich hatte er sich auf Dauer in England eingerichtet und verfasste begeisterte Hymnen auf das britische Erziehungswesen und den Sportsgeist der an Public Schools geschliffenen Gentlemen.

Der Erste Weltkrieg zwang ihn, vermutlich ungewollt, nach Deutschland zurück. Er erlebte diesen Krieg zwischen allen Fronten stehend: »Ich habe ihn doppelt empfunden: Es waren Jahre der Trauer um meine eigenen Landsleute, deren Pyrrhussiege mir das Ende nicht verschleiern konnten; Jahre der Trauer um liebe Kollegen, liebe Schüler aus meiner … Tätigkeit in England.«7 Bensemanns Konsequenz war die Ablehnung engstirnigen Nationaldenkens: »Auf den Geburtsort eines Menschen kommt es so wenig an, wie auf den Punkt, von wo er in den Hades fährt.«8 Seine Hoffnung war, dass die Eigendynamik eines grenzüberschreitenden Sportverkehrs friedensstiftend wirken könnte: »Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht heute das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und Klassen.«9

1921 schrieb er über den wieder in Gang kommenden Spielbetrieb: »Wenn man aber die Unmenge der internationalen Spiele betrachtet…, möchte man fast doch daran glauben, dass wir endlich wieder in unserem zerfleischten Europa einen wirklichen Frieden haben; nicht mehr den, der nur ein verdeckter Krieg ist, sondern einen wirklichen, wahrhaftigen Frieden. Unser Fußballsport hat den Frieden gemacht – das ist einmal gewiss.«10 Um bittere Erfahrungen reicher und um einige Unbesonnenheiten ärmer war Bensemann nach dem Weltkrieg wieder an jenem Punkt angelangt, der ihn bereits vor 1900 umgetrieben hatte: der Förderung internationaler Begegnungen und Propagierung einer »pazifistischen Sportidee«11. Als er 1920 seine Zeitung gründete, den »Kicker«, beschrieb er dessen Leitmotiv in vielfachen Varianten so: »Der ›Kicker‹ ist ein Symbol der Völker-Versöhnung durch den Sport.«12

Der »Kicker«

Während seiner langjährigen Abwesenheit war Bensemann in Teilen der süddeutschen Fußballszene zu einer legendären Figur geworden; man pries ihn als den »Mann, der sich wohl die größten Verdienste um den deutschen … Fußball erworben hat«.13 Zugleich verfügte er mittlerweile über hervorragende internationale Kontakte, die vor allem nach Ungarn, Tschechoslowakei, Österreich, in die Schweiz und die Niederlande reichten. Diese beiden Umstände – sein Renomee in Süddeutschland und sein Ansehen im Ausland – sorgten dafür, dass der »Kicker« trotz schwierigster Startbedingungen überlebte.

Anfangs war die wöchentlich erscheinende Zeitung ein reines Ein-Mann-Unternehmen, chaotisch verwaltet und von ewiger Geldnot verfolgt. Ihre Kernregion war Süddeutschland; die Redaktion residierte zunächst in Konstanz, dann in Stuttgart, Ludwigshafen und schließlich in der Fußball-Hochburg Nürnberg. Einen Großteil des Inhalts füllten regionale Beiträge, doch für Profil und Aufsehen sorgten vor allem die fundierten Korrespondentenberichte aus dem Ausland sowie die Leitartikel, die Bensemann allwöchentlich als »Glossen« veröffentlichte. Diese »Glossen« waren oft journalistische Meisterstücke, in denen Elemente der Nachricht, der Reportage, des Kommentars, der Satire, des Reiseberichts und der Leseransprache kühn miteinander vermengt wurden – nicht selten auf durchaus intellektuellem Niveau und immer wieder garniert mit Auskünften über die privaten Befindlichkeiten des Verfassers. Es waren »ungewöhnliche Arbeiten«, urteilte 50 Jahre später der bekannte Sportpublizist Richard Kirn, »das Bedeutendste, was je ein deutscher Sportjournalist geschrieben hat«.14 Im Nachhinein erschließt sich aus diesen »Glossen« nicht nur eine wichtige Epoche deutscher Fußballgeschichte, sondern auch das atemlose Leben eines »Weltbürgers«, über den Kirn schrieb: »Er war in den Luxusherbergen Europas zu Hause, Mittelpunkt jeder gastlichen Tafel, schwermütiger Wanderer, … nie in einer bürgerlichen Wohnung zu Hause.«15 In Eisenbahnwaggons fast pausenlos unterwegs zu den kontinentalen Fußballhochburgen, residierte Bensemann daheim in Nürnberg wie ein Patriarch fast sieben Jahre lang im Grand Hotel Fürstenhof, wo er regelmäßig zu üppigen Dinners lud und mit deutschen und internationalen Kickergrößen parlierte.


Walther Bensemann als Herausgeber des »Kicker«.

Vor allem in den ersten Jahren enthielten Bensemanns »Glossen« meist witzige und geistreiche Attacken gegen die Behinderung des Fußballbetriebs durch die Obrigkeit und gegen nationale Engstirnigkeiten. Oft stellte er dem auf internationalem Parkett beschränkt und polterig auftretenden Deutschen den polyglotten, souverän agierenden Engländer oder Schweizer gegenüber. Als deutschen Prototyp jener »Kulis einer Epoche, da der Untertan schweifwedelnd seine Inspiration von einer höheren Affenkaste empfing«, ließ Bensemann zuweilen eine Kunstfigur namens Kuhwedel durch seine »Glossen« stolpern und sich bei aller Tumbheit doch als »Salz der Erde« fühlen16. So sehr diese Satiren den liberalen und sozialdemokratischen Teil der »Kicker«-Leser amüsiert haben mögen, so sehr ärgerten sie den deutsch-konservativen. Deren Unmut eskalierte, als Bensemann im Februar 1921 statt eines eigenen Leitartikels das Traktat eines Dr. Max Uebelhör auf die ersten beiden Seiten seiner Zeitung rückte. Unter der Überschrift »Der deutsche Jammer« war darin eine polemische Attacke gegen den Militarismus zu lesen, und zwar »denjenigen made in Germany, den einzig existierenden also«.17 Es hagelte daraufhin empörte Leserbriefe aus, wie der »Kicker« selbst darstellte, »deutsch-nationalen Kreisen«. Ein Abonnent kündigte an, er habe die Zeitung nunmehr zum letzten Mal gelesen: »Jeder echte Deutsche wird dasselbe tun.«18 In einer anderen Zuschrift hieß es: »Sie sind beide (gemeint sind Bensemann und Uebelhör) Schurken und verdienen, am nächsten Laternenpfahl gehängt zu werden.«19 Offensichtlich schadete die Affäre dem jungen Unternehmen auch finanziell erheblich. Bensemann behauptete später, der Gastartikel habe ihn 500 Abonnenten gekostet. Jedenfalls wurde er in der nächsten Zeit vorsichtiger mit politischen Provokationen.

»In fremder Mentalität«

Deutlich blieb allerdings seine Kritik am internationalen Gebaren des DFB, insbesondere an der Person Felix Linnemanns, der im Vorstand für die internationalen Beziehungen zuständig war. Ihm warf Bensemann in mehreren Leitartikeln arrogantes und überhebliches Auftreten gegenüber ausländischen Verbänden vor. Einen Höhepunkt erreichte der Streit, als der »Kicker« 1923 die offenbar vom DFB verschleppten Verhandlungen über Länderspiele gegen Ungarn und Schweden attackierte und Linnemann vorwarf, »Mangel an Diplomatie« gezeigt und »ein Kabinettstück von Taktlosigkeit« abgeliefert zu haben. Linnemann antwortete mit einem Brief, in dem er Bensemann vorwarf, er »denke zu international«: »Sie wissen ja selbst, dass Sie nicht nur in fremden Sprachen träumen, Sie fühlen leider nach meinem Empfinden auch zu stark in fremder Mentalität.«20

Durch die nationalistisch motivierten Überheblichkeiten mancher DFB-Funktionäre sah Bensemann das Projekt einer internationalen Verständigung mithilfe von Sportbegegnungen gefährdet: »Der Hass gegen Deutschland … entspringt einer Antipathie gegen schulmeisterliche Belehrung.«21 Er selbst versuchte solche Begegnungen durch eigene Initiativen auch praktisch zu fördern, beispielsweise indem er englische Trainer nach Deutschland vermittelte, internationale Begegnungen auf Vereinsebene anbahnte und einen »Friedenspokal« ausschrieb für das erste Spiel zwischen einer Mannschaft aus Deutschland und einer aus dem mittlerweile wieder zu Frankreich gehörenden Elsass.22

Diese Bemühungen korrespondierten mit dem guten Verhältnis, das Bensemann zu zahlreichen Führungsfiguren der europäischen Fußballszene unterhielt. Unter anderem pflegte er intensivere, teils auch freundschaftliche Kontakte zu Anton Johanson (Schwedischer Verbandspräsident und Mitglied der FIFA-Exekutive), zu Moritz Fischer (Ungarischer Verbandspräsident), Henrik Fodor (Geschäftsführer des MTK Budapest), Giovanni Mauro (Italienischer Verbandspräsident), Hugo Meisl (Österreichischer Verbandskapitän und Vater des »Wunderteams«), zeitweise auch zu Frederick Wall (noch immer F.A.-Sekretär und neben Rimet wohl der einflussreichste Funktionär jener Zeit), daneben zu den international renommierten Schiedsrichtern Jan Langenus (Belgien) und William Boas (Niederlande) und schließlich zum Schweizer Funktionär Albert Mayer, der später ins IOC gewählt wurde.23 Aus Inhalt und Diktion von Bensemanns »Kicker«-Glossen wird ersichtlich, dass eine Verständigung mit diesen und anderen Größen des europäischen Fußballs für ihn höchste Priorität genoss – in der FIFA sah er nicht weniger als eine Art sportlichen Völkerbund und pries sie als »das herrlichste Geschöpf der Welt«.24

Umso heftiger geriet seine Kritik, als sich der DFB mit den »Hannoveraner Beschlüssen« 1925 international isolierte. Auf einer Verbandstagung war beschlossen worden, zur Verteidigung des deutschen Amateurideals künftig den Spielverkehr mit Profiteams aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich zu verbieten – somit mit den seinerzeit spielstärksten Teams auf dem Kontinent. Dieser »ungeheuerliche«, »taktlose« und »überhebliche« Beschluss (Bensemann) war in den folgenden Jahren immer wieder Ziel seiner Attacken: »Es wird sich herausstellen, dass die übergroße Majorität der FIFA-Verbände durchaus nicht gesonnen ist, am deutschen Sportwesen zu genesen. Ich habe dies schon vor Wochen und Monaten befürchtet; als Antwort auf meine Befürchtungen kamen die Beschlüsse von Hannover, die von einer Weltfremdheit ohnegleichen zeugten und durch ihre verkehrte psychologische Einstellung unsere wenigen Freunde im Ausland gegen uns aufbrachten.«25

Zum zugrunde liegenden Streitpunkt – Ablehnung des Profitums – nahm Bensemann eine pragmatische Haltung ein. Er akzeptierte, dass die Zeit des großen englischen Amateur-Ideals, wie es in den von ihm verehrten Corinthians verkörpert war, wohl abgelaufen war, und plädierte für Lockerungen in den Amateurbestimmungen. Einen regelrechten Profibetrieb in Deutschland lehnte er jedoch ab – weniger aus ideologischen denn aus ökonomischen Gründen: Er befürchtete, dass im krisengeschüttelten Deutschland die Sportvereine ein solches Experiment nicht überleben könnten.

Auch in anderen großen Streitfragen des deutschen Fußballbetriebes argumentierte Bensemann zumeist zwar mit polemischer Feder, aber in der Sache selbst mit Pragmatismus und ohne ideologische Scheuklappen. Als Verfechter von sportlichen Einheitsorganisationen beispielsweise lehnte er separate Arbeitersportvereine ebenso ab wie konfessionelle Verbände. An den Aktivitäten der Arbeitersportler kritisierte er deren (partei-)politische Agitation und klassenkämpferischen Implikationen. Zugleich übersah er nicht, dass es in ihrer Betonung des Fair Play und des Internationalismus wesentliche Berührungspunkte mit seinem eigenen Sportverständnis gab. In diesem Sinne berichtete er über größere Veranstaltungen der Arbeitersportbewegung zuweilen ausführlich und freundlich, bescheinigte einer Arbeitersportzeitung »echten Pioniergeist, wie er uns früher beseelte«,26 oder erwähnte lobend die erste deutsch-französische Nachkriegsbegegnung, die durch die »Arbeitersportkartelle« zustande gebracht wurde.27

In seiner Kritik an den jüdischen Separatverbänden argumentierte er ebenso moderat und mit jener Einstellung, die den assimilierten Teil der deutschen Juden prägte: »Die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes ist genau wie die der ersten Christen oder die der ersten Protestanten ein Schandfleck der Geschichte. Allein sie sollte dazu führen, Humanität und Toleranz als Prinzipien gelten zu lassen. Neben den vielen hochgebildeten Israeliten, die sich in der Nation, von der sie einen Bestandteil bilden, akklimatisiert hatten und die zum Teil als Philantropen und Förderer der Künste über den Rahmen ihres Landes hinaus gewirkt haben, gibt es eine ganze Reihe von Staatsbürgern derselben Konfession, die nur durch eine intensive soziale Vermischung mit Andersgläubigen gewinnen kann. Warum also etwas Trennendes in eine Bewegung hineinschaffen, welche die Einigkeit als obersten Grundsatz pflegt?«28

Sein Hinweis allerdings, eigene jüdische Sportvereine seien nur dann gerechtfertigt, »wenn die großen Sportverbände Antisemitismus trieben und Israelis nicht aufnähmen«, greift ein wenig kurz. Ohnehin ist auffällig, dass sich Bensemann in aller Regel zu antisemitischen Tendenzen nicht explizit äußerte, jedenfalls nicht öffentlich.

»Tüchtige Teutsche« und »Mausefallenhändler«

Der Antisemitismus, der auch nach der formellen Gleichstellung der jüdischen Bürger nicht verstummt war und sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in scharfen rassistischen Attacken geäußert hatte, fand in der Weimarer Republik erneut seinen Nährboden – vor allem dann, wenn für die politischen Nachwehen des verlorenen Krieges oder für ökonomische Krisenerscheinungen wie Inflation oder Arbeitslosigkeit Sündenböcke gesucht wurden. Als Außenminister Rathenau beispielsweise die schwierigen Reparationsverhandlungen mit den Alliierten zu führen hatte, wurde er von der politischen Rechten als »Erfüllungspolitiker« geschmäht und unter Freikorps-Angehörigen und rechtsextremen Studenten kursierte der Knittelvers: »Knallt ab den Walther Rathenau / die gottverfluchte Judensau!« Eine Aufforderung, die 1922 durch ein Attentat mörderische Realität wurde.29

Auch der Fußball blieb von antisemitischen Vorfällen nicht verschont; vereinzelt wurden solche Geschehnisse auch in Bensemanns Sportzeitung erwähnt. Der Wiener Sportjournalist Willy Meisl (ein Bruder des österreichischen Verbandskapitäns Hugo Meisl) zitiert im »Kicker« ein Beispiel aus dem österreichischen »Volksblatt«. Darin wird behauptet, der Fußball werde »von jüdischem Gelde erhalten…, um die Leidenschaften der Massen aufzupeitschen und die rohen Instinkte der Menschen zu wecken«. Meisl, der selber jüdischer Herkunft war, kommentierte: »No also, bitte! Ist er nicht an allem Schuld? – Wer? – Blöde Frag’: der Jud!«30

Entsprechenden Konflikten im deutschen Sport wich Bensemann in seinen »Glossen« eher aus. Zwar veröffentlichte er zuweilen Leserbriefe oder Presseberichte, die antisemitische Stimmungen in der Turnerschaft kritisierten, doch kommentierte er sie zurückhaltend mit den Worten: »Zu einer Diskussion (dieser Berichte) kann ich nicht schreiten, da der ›Kicker‹ sich mit der Turnerei in keiner Beziehung abgibt. Ich habe genug damit zu tun, die Politik vom Sport fernzuhalten.«31

Und als die linke Zeitschrift »Arbeitersportler« behauptete, »das bürgerliche Sportpublikum (stelle) die Kerntruppen für Naziversammlungen«, während »der ›Kicker‹ krampfhaft die Augen davor zudrückt«, antwortete Bensemann mit einem Hinweis auf die parteipolitische Neutralität der Sportbewegung: »Wir haben uns niemals die Mühe gegeben, die politischen Anschauungen unserer Zuschauer zu erforschen; selbst unseren Mitgliedern steht ihre Parteizugehörigkeit völlig frei.«32

Auch ein eklatanter antisemitischer Vorfall in Bensemanns direktem Umfeld blieb von ihm unkommentiert: Im August 1932 verließ der langjährige ungarische Trainer des 1. FC Nürnberg, Jenö Konrad, über Nacht Deutschland und übersiedelte nach Österreich. Anlass waren Attacken des in Nürnberg erschienen Hetzblattes »Der Stürmer« gegen den Trainer, über den es u.a. hieß: »Ein Jude ist ja auch als wahrer Sportsmann nicht denkbar. Er ist nicht dazu gebaut mit seiner abnormen und missratenen Gestalt.«33 Obwohl Bensemann mit Konrad gut bekannt war und ihn im »Kicker« sowohl vor wie auch nach diesem Vorfall als hervorragenden Trainer lobte, schwieg er zu dem Eklat. Möglicherweise schien es ihm gerade als Juden unpassend, Angriffe auf jüdische Bürger zu thematisieren.

Verständlicher wird diese Haltung, wenn man berücksichtigt, dass Bensemann selbst mit (unausgesprochenen) antisemitischen Klischees gegen seine Person konfrontiert war. Dies galt vor allem für seinen langjährigen Streit mit dem Westdeutschen Spielverband (WSV) bzw. dessen Zentralorgan, dem »Fußball und Leichtathletik« (»FuL«). Diese Fehde war in Schwung gekommen, nachdem der »FuL« im Frühjahr 1924 ein Traktat veröffentlicht hatte, dessen Inhalt durch die Überschrift im Grunde hinreichend wiedergegeben wird: »Die drei scharfen T des WSV«, nämlich »Teutsch, Treu, Tüchtig«. Verfasser war Josef Klein, Vorsitzender des WSV-Jugendausschusses und späterer Reichstagsabgeordneter der NSDAP.34 Klein ging es um ethische Grundsätze, die für Sport und Nation gleichermaßen eine prägende Kraft entwickeln sollten. Ziel der sportlichen wie der gesellschaftlichen Erziehung waren für Klein »in und für Deutschland brauchbare Menschen«, die die »Lebenskräfte des deutschen Volkstums« retten sollten. Seine rigorose Ablehnung galt dem »schwachsinnigen Traum von sportlicher Weltverbrüderung«.


Für das erste Spiel zweier Spitzenmannschaften der verfeindeten Nachbarn Ungarn und Tschechoslowakei setzte der »Kicker« nach dem Ersten Weltkrieg einen »Friedenspokal« aus.

Bensemann druckte den Artikel nach und ließ ihn durch – überwiegend ablehnende – Gastbeiträge kommentieren. Ein Vorgehen, das ihm seitens des »FuL« den Vorwurf einbrachte, er habe »das ganze Heer« seiner »Spottjournalisten aufgeboten, um Herrn Dr. Klein lächerlich zu machen und seine Gedanken als die Ausgeburt eines nationalistischen Gehirns zu verdummteufeln«.35 Danach verging kaum eine Ausgabe des »Kicker« oder des »FuL« ohne wechselseitige Sticheleien, und der Streit eskalierte, als im Frühjahr 1925 Guido von Mengden Redakteur des »FuL« wurde. Auch er warf Bensemann vor, er mache »sehr viel in Sportpolitik, allerdings nicht in deutscher«, und fügte dieser Kritik bald einen unüberhörbaren antisemitischen Unterton bei. Beispielsweise rechnete er den »Kicker«-Herausgeber zu jenen Menschen, »die Krämer und Geschäftemacher mit Volksseele und Volksgemüt sind«36 und schrieb von einem »Mausefallenhändler«, der »aus den Ländern um Galizien« stamme. Letzterer Vorwurf war zwar gegen Hugo Meisl gerichtet, den (jüdischen) Verbandskapitän in Österreich, zielte aber gleichzeitig auf Bensemann, der mit Meisl eng befreundet war. Vor allem diese Formulierung veranlasste den »Kicker«-Herausgeber, den Streit zwar nicht inhaltlich zu vertiefen, aber formal eine Etage höher zu hängen: Er drohte mit dem Austritt des Süddeutschen Verbandes aus dem DFB, sofern der »FuL« seine Tonlage nicht mäßigen würde.37

Auch wenn Bensemann mit dieser Drohung seine Kompetenzen vermutlich weit überschritt, so verweist der Vorgang doch darauf, dass es sich bei dem Streit keineswegs um die Privataffäre zweier verfeindeter Zeitungsleute handelte. Der »Kicker« war seit 1924 das Zentralorgan des Süddeutschen Fußball-Verbandes, der »FuL« das des Westdeutschen, und ihre Fehde war durchaus repräsentativ für die politische Konfliktlage im DFB. Bensemann verfolgte in den wichtigsten sportpolitischen Fragen (wie Profitum, Verhältnis zum Arbeitersport, Beziehungen zum Ausland) einen Kurs des Ausgleichs, des Pragmatismus und der Verständigung. Dagegen dominierte beim »FuL« eine aggressive deutschnationalistische Ideologie. Klein und von Mengden formulierten in pointierter Form lediglich eine Position, die im DFB längst Mehrheitsmeinung war. Wie der Streit beweist, hätte der DFB in der Weimarer Zeit die Option auf eine andere politische Entwicklung gehabt, ohne dabei seine bürgerliche Grundhaltung aufgeben zu müssen. Aus freien Stücken wählte er einen Weg, der ihn 1933 schließlich in die Arme der Nationalsozialisten führen musste.

Guido von Mengden, Bensemanns Gegenspieler, sollte übrigens noch eine bemerkenswerte Karriere durchlaufen. Im Juni 1933 wurde er Pressewart des DFB, im April 1935 Pressereferent des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen, 1936 Generalreferent des Reichssportführers von Tschammer und Osten. In dieser Funktion wirkte der SA-Sturmbannführer als »Generalstabschef« des deutschen Sports (so der Sporthistoriker Hajo Bernett). Nach 1945 begann er eine zweite Karriere als Sportfunktionär, wurde 1951 Geschäftsführer der Deutschen Olympischen Gesellschaft, 1954 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sportbundes und 1961 Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees – kurzum, die »graue Eminenz« (Bernett) des bundesdeutschen Sports.38 Eine wahrhaft deutsche Karriere.

Die Vertreibung

Wenige Monate vor der nationalsozialistischen Machtübernahme stellte sich Bensemanns Situation merkwürdig zwiespältig dar. Auf internationalem Parkett zeigte ihn der FIFA-Kongress 1932 in Stockholm auf dem Höhepunkt seines Ansehens. Unter den FIFA-Granden wandelte er inter pares, Gastgeber Johanson, der schwedische Verbandspräsident, pries den »Kicker« öffentlich als »das beste Sportblatt des Kontinents«,39 und zwei seiner engsten deutschen Freunde wurden in hohe FIFA-Ämter gewählt: Jugendfreund Ivo Schricker wurde FIFA-Generalsekretär, der renommierte Kölner Schiedsrichter Peco Bauwens gelangte in den Exekutiv-Vorstand.

In scharfem Kontrast dazu stand Bensemanns Situation in Deutschland. Im Streit um eine internationalistische Ausrichtung des Sports war er immer stärker in die Defensive geraten. Seine Gesundheit war stark angeschlagen und seine finanzielle Situation denkbar schlecht. Nicht zuletzt der Eklat um den »Club«-Trainer Jenö Konrad dürfte ihm klar gemacht haben, welche Zukunft jüdische Bürger in einem nationalsozialistisch regierten Deutschland zu erwarten hatten.

Zudem hatte der »Kicker« inzwischen seine Selbstständigkeit verloren. Offensichtlich hatte selbst die enge Anlehnung an den Süddeutschen Fußballverband die ökonomische Situation des Blattes nicht gefestigt. Mit dem Nürnberger Verleger Max Willmy kam ein Partner ins Boot, der Bensemanns autokratische Position im »Kicker« bald infrage stellte und offenbar auch dessen persönlichen Reiseetat zusammenstrich.40 In einem letzten Akt des Trotzes und persönlicher Eitelkeit ließ Bensemann sich anlässlich seines 60. Geburtstags über mehrere Seiten im »Kicker« als verdienstvollen Pionier feiern. Danach resignierte er offenbar. Zwar enthielt sich der »Kicker« unter seiner Regie jeglichen positiven Kommentars zu Hitlers frischer Kanzlerschaft – aber auch jeglicher direkten Kritik.

Anfang April 1933 reiste Bensemann in die Schweiz, aus der er nicht mehr zurückkehren sollte. 1934 weilte er – von der Krankheit gezeichnet – noch als Gast bei der Fußballweltmeisterschaft in Italien, wo ihn deutsche Journalisten als Mahner vor der faschistischen Gefahr in Erinnerung behielten.41 Auch in Briefen an deutsche Freunde bekundete er seine Ablehnung des Hitler-Regimes. Doch öffentliche Äußerungen von ihm sind nicht mehr bekannt. Bensemann starb am 12. November 1934 in Montreux, wo er zuletzt im Hause seines Freundes Albert Mayer gewohnt hatte.

Es war ihm nicht erspart geblieben, die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft mitzuerleben – und die fatale Anpassung von Leuten, die einst seine Weggefährten waren. Hans-Jakob Müllenbach, sein journalistischer Schüler seit 1920 und Nachfolger im »Kicker«, ließ in dem Blatt über »Asphaltliteraten« herziehen, die »das deutsche Wesen so verunglimpft« und »teilweise allerdings nun die Flucht ergriffen« hätten.42 Bereits einige Tage zuvor, am 9. April 1933, hatten die großen süddeutschen Fußballvereine, mit denen Bensemann über lange Zeit enge Beziehungen gepflegt hatte, in einer gemeinsamen Erklärung versichert, sie würden die Maßnahmen der NS-Regierung »mit allen Kräften« mittragen, »insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen«.43 Zu den unterzeichnenden Klubs gehörten der Karlsruher FV, den Bensemann gegründet hatte, der 1. FC Nürnberg, zu dem er bis 1933 besonders freundschaftliche Kontakte unterhalten hatte, sowie Eintracht Frankfurt und der FC Bayern, deren Vorläufervereine er mitgegründet hatte. Kurze Zeit später proklamierte auch der DFB, an dessen Spitze seit einigen Jahren Felix Linnemann stand, er halte »Angehörige der jüdischen Rasse … in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine nicht für tragbar«.

Einen bemerkenswerten Nachtritt leistete sich Otto Nerz gegenüber Walther Bensemann. Der aus Süddeutschland stammende Nerz war in den zwanziger Jahren häufiger Kolumnist des »Kicker« gewesen und genoss als Reichstrainer zwischen 1926 und 1933 die uneingeschränkte publizistische Unterstützung des »Kicker«-Herausgebers. Am 4. Juni 1943 schrieb Nerz im Berliner »12 Uhr Blatt« über die Sportjournalisten der Weimarer Zeit: »Die besten Stellen bei den großen Zeitungsverlagen waren in jüdischen Händen. Die Journalisten trieben von ihrem Schreibtisch eine rein jüdische Politik. Sie unterstützten die zersetzende Arbeit ihrer Rassengenossen in den Verbänden und Vereinen und setzten die Sportführung unter Druck, wenn sie ihnen nicht zu Willen war.«44

Ivo Schricker, der für die Nazis unangreifbar in der FIFA-Zentrale saß, sowie dem Schweizer Albert Mayer blieb es vorbehalten, Bensemanns Andenken zu wahren. Am Abend nach dessen Beerdigung in Montreux beschlossen sie gemeinsam mit anderen Freunden, ein internationales Fußballjugendturnier ins Leben zu rufen und dem Pionier zu widmen.45 1937 fand in Genf das erste »Tournoi international de Football-Juniors pro memoria Walter Bensemann« statt, mit Beteiligung namhafter Vereine aus der Schweiz, der Tschechoslowakei, aus Frankreich und Italien. Weitere Turniere folgten 1938 und 1939 in Straßburg und Zürich, bis der Weltkrieg dieser Idee ein vorläufiges Ende setzte. 1946 wurde das Turnier dann wieder ausgetragen, 1951 erstmals auch in Deutschland (Karlsruhe). Die UEFA unterstützte das Projekt, das nach 1962, dem Todesjahr Schrickers, zum »Internationalen Turnier p.m. Walter Bensemann – Dr. Ivo Schricker« umbenannt wurde. Vorsitzende des Organisationskomitees waren bis 1961 Ivo Schricker als FIFA-Generalsekretär, danach IOC-Mitglied Albert Mayer, DFB-Präsident Peco Bauwens sowie FIFA-Präsident Sir Stanley Rous. Das letzte Turnier wurde 1991 vom Karlsruher FV durchgeführt, danach löste das Komitee sich auf, weil die UEFA ihre finanzielle Bürgschaft zurückgezogen hatte.

Größere Jugendturniere in Deutschland heißen heutzutage Nokia- oder McDonalds-Cup und stehen eher im Zeichen der Globalisierung als des Internationalismus.

Anmerkungen

1 In der Literatur finden sich zu Bensemanns familiärem Hintergrund eher unklare Äußerungen. Sein Vater wird in der Geburtsurkunde als »Banquier« bezeichnet, der »zur Religionsgemeinschaft der Juden gehörig« sei. Ob die Mutter, wie später von Weggenossen Bensemanns beschrieben, die »Tochter eines reichen Fabrikbesitzers aus Breslau« gewesen war, konnte nicht verifiziert werden. Über seine verwandtschaftlichen Kontakte nach Schottland (über einen Vetter Bob Davy bzw. einen Neffen Walter Davy) berichtete Bensemann selbst zuweilen im »Kicker«. Die im Weiteren zitierte Aussage, die Familie Bensemanns gehöre zu denjenigen jüdischen Bürgern, die eher kosmopolitisch und kulturell interessiert eingestellt seien sowie den jüdischen Glauben nicht oder nur verhalten praktizierten, stammt von Dr. Fritz Weilenmann, den der Autor 1998 befragen konnte. Er hatte noch als Kind Walther Bensemann kennen gelernt, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in der Redaktion des »Kicker« und zählte zu seinem Bekanntenkreis einige Persönlichkeiten, die Bensemann gut gekannt hatten (z.B. Dr. Peco Bauwens, Dr. Friedebert Becker oder Dr. Georg Xandry). Weilenmann berichtete auch von den kulturellen »Salon-Aktivitäten« der Mutter Bensemanns.
2 Ruth Gay: Geschichte der Juden in Deutschland, München 1993, S. 178
3 »Der Kicker«, Nr. 27/1929. Weitere Angaben zu jener Zeit finden sich u.a. in den Heften 43/1931 und 12/1922.
4 »Spiel und Sport« vom 20. Januar 1900, S. 39
5 »Spiel und Sport« vom 13. Januar 1900, S. 24
6 Die später so genannten »Ur-Länderspiele« waren: am 23.11.1899 in Berlin (2:3, 1.500 Zuschauer), am 24.11.1899 wiederum in Berlin (2:10, 500 Zuschauer), am 25.11.1899 in Prag (0:8, 4.500 Zuschauer) sowie am 28.11.1899 in Karlsruhe (0:7, 2.000 Zuschauer). Den vereinbarten Rückspielen gingen wiederum längere Querelen zwischen Bensemann und dem Süddeutschen Verband voraus, die erst beigelegt wurden, nachdem Bensemann den Vorsitz im Organisationskomitee niedergelegt und der englische F.A.-Sekretär Frederick Wall den DFB-Bundesvorsitzenden Hueppe kontaktiert hatte. Die Spiele in England waren: am 21.9.1901 in London (12:0-Sieg einer englischen Amateurauswahl) sowie am 25.9.1901 in Manchester (10:0-Sieg einer englischen Profiaus wahl).
Über den Stellenwert dieser »Ur-Länderspiele« hieß es 1914 rückschauend in einer Festschrift des Torball- und Fußball-Club Viktoria Berlin: Es war »die größte Sensation des alten Jahrhunderts: das Erscheinen der ersten repräsentativen englischen Mannschaft in Berlin mit den glanzvollsten Namen englischer Fußballgeschichte. (…) Sie offenbarte uns eine ganz neue Kunst, das genaue flache Zuspiel, das Zuspiel an den Hintermann, das exakte Stoppen des Balles usw., Eigenschaften, die man damals bei dem guten hohen alldeutschen Spiel absolut nicht kannte.«
7 »Der Kicker«, Nr. 11/1920
8 Ebenda
9 »Der Kicker«, Nr. 34/1930
10 »Der Kicker«, Nr. 52/1921
11 »Der Kicker«, Nr. 9/1925
12 »Der Kicker«, Nr. 25/1920
13 Phil Wolf: Neue Ausgrabungen aus der Steinzeit des Frankfurter Fußballs, Frankfurt / M. 1930, S. 12
14 Zit. nach Peter Seifert: Walther Bensemann als Sportpublizist (Diplomarbeit), Köln 1973
15 Richard Kirn: Große Namen der deutschen Sportjournalistik, in: Internationale Sport-Korrespondenz, Lechfelden-Echterdingen, Juli 1977
16 »Der Kicker«, Nr. 3/1920; vgl. beispielsweise auch Nr. 4/1921
17 »Der Kicker«, Nr. 5/1921
18 »Der Kicker«, Nr. 6/1921
19 »Der Kicker«, Nr. 7/1921
20 »Der Kicker«, Nr. 16/1923
21 »Der Kicker«, Nr. 5/1922
22 »Der Kicker«, Nr. 13/1921
23 Boas und Mayer halfen dem »Kicker« 1922 auch finanziell, als die Zeitung während der Inflation in wirtschaftliche Probleme geriet. Dies trug Bensemann den Vorwurf ein, sein Blatt werde von ausländischem Kapital finanziert und betreibe »systematische Auslandspropaganda« (vgl. Nr. 4/1923).
24 »Der Kicker«, Nr. 22/1931
25 »Der Kicker«, Nr. 9/1925
26 »Der Kicker«, Nr. 5/1925
27 »Der Kicker«, Nr. 42/1924
28 »Der Kicker«, Nr. 43/1921
29 Vgl. dazu Ruth Gay, a.a.O., S. 230f
30 »Der Kicker«, Nr. 49/1923
31 »Der Kicker«, Nr. 4/1925. Bensemann erhebt m.W. im »Kicker« nur einmal den Vorwurf des Antisemitismus, und zwar gegenüber einem Straßburger (also französischen) Leserbriefschreiber, der sich als »ehrlicher Arbeiter« bezeichnet und bestimmten Fußballerkreisen »Krämergeist« vorwirft. Bensemann antwortet in Heft 2/1924: »Ihr Brief bekundet einen offensichtlichen Antisemitismus, den man in Arbeiterkreisen eigentlich nicht erwartet. Lassalle, Marx und Rosa Luxemburg haben doch stets bei der werktätigen Schicht die allergrößte Verehrung genossen.«
32 »Der Kicker«, Nr. 39/1931
33 Vgl. dazu Bausenwein / Kaiser / Siegler: 1. FC Nürnberg – Die Legende des Club, Göttingen 1996, S. 75ff
34 Dr. Klein, der im Mai 1933 zum neuen »Führer« des WSV gewählt werden sollte, saß zwischen 1932 und 1936 für die NSDAP im Reichstag. Später geriet er in Widerspruch zum nationalsozialistischen System, insbesondere zu dessen zentralistischen Tendenzen. 1942 wurde er verhaftet und für sechs Monate in einem KZ inhaftiert. Er starb 1952. Vgl. dazu auch: Arthur Heinrich: Der deutsche Fußballbund. Eine politische Geschichte, Köln 2000, Erik Eggers: Fußball in der Weimarer Republik, Kassel 2001; schließlich: Westdeutscher Fußballverband e.V. (Hg.): 100 Jahre Fußball im Westen, Kassel 1998
35 »Fußball und Leichtathletik«, Nr. 27/1925
36 Zit. nach »Der Kicker«, Nr. 14/1928. Dass Bensemann die Verwendung solcher Begrifflichkeiten mit Antisemitismus gleichsetzen musste, beweist seine in Fußnote 31 geschilderte Reaktion.
37 »Der Kicker«, Nr. 47/1928
38 Vgl. dazu: Hajo Bernett: Guido von Mengden – »Generalstabschef« des deutschen Sports, Berlin/München/Frankfurt/M. 1976
39 »Der Kicker«, Nr. 22/1932
40 Dr. Max Willmy war Besitzer einer Großdruckerei sowie eines Zeitungsverlages in Nürnberg. Seine Eingriffe in den »Kicker« waren möglicherweise nicht nur dadurch motiviert, Ordnung in ein Unternehmen zu bringen, an dem er finanziell beteiligt war.Willmy arrangierte sich ab 1933 verdächtig schnell mit den Nazis und druckte einige ihrer Blätter, ab 1934 auch den »Stürmer«, der bald eine wöchentliche Auflage von 2,5 Millionen erreichte. Es ist zu vermuten, dass Willmy frühzeitig ein Interesse daran hatte,den »Kicker« politisch in ein neues Fahrwasser zu lotsen und den starrsinnigen (zudemj üdischen) Herausgeber loszuwerden. 1948 wurde Willmy wegen seiner Beziehungen zu dem Nazi-Regime zu zwei Jahren Sonderarbeit verurteilt, sein Vermögen wurde zu 50% eingezogen. Auf fünf Jahre wurde ihm das Wahlrecht entzogen sowie die Berufsausübung als Verleger verboten.
41 Vgl. beispielsweise: Friedebert Becker: Walter Bensemann, Porträt eines Idealisten, in: DFB-Jahrbuch, Frankfurt 1953; Richard Kirn: Aus der Freiheit des Herzens, in: »Der Kicker« vom 7.12.1953; schließlich: Paul Laven: Fußball-Melodie, Erlebtes und Erlauschtes, Bad Kreuznach 1953
42 »Der Kicker«, Nr. 16/1933. Er erschien am 11. April, also etwa zehn Tage nach Bense manns Ausreise.
43 Vgl. »Der Kicker«, Nr. 15/1933
44 Zit. nach Jürgen Leinemann: Sepp Herberger, ein Leben, eine Legende, Hamburg 1998 (S. 266)
45 Vgl. zu Entstehung und Geschichte des Turniers: Karlsruher Fußballverein (Hg.): 90 Jahre Karlsruher Fußballverein, Karlsruhe 1981; sowie derselbe (Hg.): 100 Jahre Karlsruher Fußballverein, Karlsruhe 1991.
Davidstern und Lederball

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