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Erik Eggers/Jan Buschbom

Vergessene Wurzeln: Jüdischer Fußball in Berlin

Der Urahn, geistige Vater und Wegbereiter des Berliner Fußballs, so vermerken es jedenfalls die meisten Annalen, hieß Georg Leux. Jener Fußballpionier, der später auch als Bildhauer und Schauspieler bekannt wurde, gründete 1885 mit dem »BFC Frankfurt« den ersten Berliner Fußballverein und hob drei Jahre später die Germania 1888, den heute ältesten noch existierenden Fußballverein Deutschlands, aus der Taufe. Doch gründete Leux eben nur den ersten »deutschen« Fußballverein. Zuvor schon kickten Mitglieder des vom Engländer Tom Dutton gegründeten »Berliner Cricket-Club von 1883« auf dem Tempelhofer Feld, unter ihnen viele (deutsche) Schüler des Friedrich-Wilhelm- und Askanischen Gymnasiums, die an gleicher Stelle den Barlauf, Schlagball und andere heute vergessene Turnspiele betrieben.1 Damals beteiligten sich schon zwei Brüder, die von der offiziellen Fußballgeschichtsschreibung fortan zumeist nur deswegen nicht auf eine Stufe mit Leux gestellt wurden, weil sie in England geboren und Juden waren: die Gebrüder Manning.

Es ist insbesondere der detailversessenen Spurensuche des Bonner Anglisten und Sporthistorikers Heiner Gillmeister zu verdanken, dass die wahrlich verschlungenen Biografien dieser Fußballpioniere, die den frühen deutschen und Berliner Fußball maßgeblich prägten, inzwischen aufgehellt sind.2 Geboren wurden die Brüder Manning 1871 bzw. 1873 im Londoner Stadtteil Lewisham, wohin ihr Vater Gustav Wolfgang Mannheimer, ein ursprünglich aus Frankfurt stammender Kaufmann, übergesiedelt war. Anfang der 1880er Jahre verkaufte der Vater schließlich seine Firma und zog nach Berlin, behielt indes wie die ganze Familie den anglisierten Namen Manning. Sofort schlossen sich Vater und Söhne jenem Berliner Cricket-Club an, um das zu tun, was sie in England in ihrer Freizeit auch getan hatten: Cricket und Fußball spielen. Vor allem der ältere Friderich, der sich seit dem Londoner Aufenthalt Fred nannte und in Berlin stolz seinen exaltierten englischen Habitus weiterpflegte, avancierte seiner Spielstärke wegen bald zu einem Vorbild für alle deutschen Anfänger. Er spielte unter anderem um 1890 beim besten Berliner Klub jener Zeit, beim noblen English FC, und war außerdem Mitglied der Auswahlmannschaft des »Deutschen Fußball- und Cricket-Bundes« (DFuCB), die 1892 gegen (aus Engländern bestehende) Teams aus Leipzig und Dresden verlor. Zudem war Fred 1890 und 1891 beteiligt an den ersten (und vorerst gescheiterten) Versuchen in Berlin, den Fußball in Dachverbänden zu organisieren. 1893 kehrte er für zwei Jahre nach London zurück und arbeitete dort unter anderem als Korrespondent des anspruchsvollen Sportjournals »Sport im Bild«, das sein Freund Andrew Pitcairn-Knowles in Berlin herausgab. Zurück in Berlin, gründete er 1896 eine Firma für Sportstättenbau und gab zwischen 1904 und 1916 das Golf- und Tennis-Journal »Der Lawn-Tennis-Sport« heraus. Während des Ersten Weltkrieges wurde er wie alle Engländer Berlins im Gefangenenlager Ruhleben interniert, danach ging er zurück nach England und verdiente dort als Kaufmann sein Geld. Mit Sport indes hatte Fred Manning danach nie wieder etwas zu tun; zuletzt, zwischen 1950 und 1958, arbeitete er als Fischhändler in der Küstenstadt Portsmouth. 1960 starb er im Alter von 90 Jahren.

Ungleich bedeutender für den deutschen und internationalen Fußballsport war indessen sein Bruder Gustav Rudolf, der sich nach dem Englandaufenthalt Gus Randolph nannte. Auch er spielte in diversen Vereinen Berlins Fußballs, unter anderem seit 1893 beim VfB Pankow. Dort freundete er sich sofort mit seinem Vereinskameraden Franz John an, der im Februar 1900 einen Klub namens FC Bayern München gründen sollte. Nach seinem Abitur studierte Gus zunächst drei Semester Medizin an der Humboldt-Universität, beendete sein Studium jedoch in Freiburg/Breisgau, wo er im Dezember 1897 den Freiburger FC aus der Taufe hob. Seit 1898 als Assistent an der Universität Straßburg tätig, war der Doktor, da er die einflussreichen süddeutschen Vereine vertrat, die alles entscheidende Figur bei der Konstituierungsdebatte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) 1900 in Leipzig.3 Den formalen Antrag zur DFB-Gründung stellte übrigens sein Bruder Fred, als Delegierter des VfB Pankow.

Gus Manning trieb den Ausbau der notwendigen Strukturen innerhalb des DFB energisch voran, indem er, immer das englische Modell zum Vorbild nehmend, unter anderem die ersten DFB-Statuten ausarbeitete. 1905 emigrierte er aus beruflichen Gründen in die Vereinigten Staaten und wurde dort 1913 Gründungsvorsitzender des amerikanischen Fußballverbandes. Als 1950 beim FIFA-Kongress in Rio de Janeiro die Wiederaufnahme des DFB in den Weltverband verhandelt wurde, gehörte Gus Manning, der mittlerweile als Vertreter der USA in der FIFA-Exekutive saß, zu den stärksten Befürwortern des schließlich angenommenen Antrags. Ohne Manning, hat Gillmeister diesen Vorgang einmal süffisant kommentiert, wäre Deutschland 1954 also womöglich nicht Weltmeister geworden.4 Manning selbst hat diesen ersten deutschen WM-Triumph nicht mehr erleben dürfen, denn am 1. Dezember 1953 starb er in seinem Wohnort New York, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag.


Pionier in Berlin: Gustav R. Manning

Auch von weiteren zumeist jungen Pionieren im Berliner Fußballsport ist bekannt, dass sie Juden waren. Walter Bensemann etwa, der an anderer Stelle dieses Buches ausführlich gewürdigt wird, war 1898 aktiv für den Klub Britannia und organisierte von Berlin aus die beiden berühmten internationalen Begegnungen in Paris und außerdem die so genannten »Ur-Länderspiele«. Zu diesem Kreis gehört auch der deutschstämmige John Bloch, der in Birmingham aufgewachsen war und wie die Manning-Brüder beim »Berliner Cricket-Club 1883« spielte. Bloch wurde im Januar 1891 gar zum ersten Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Fußballspieler gewählt, zog aber nach offenbar schweren, leider nicht en detail nachvollziehbaren Auseinandersetzungen mit seinem deutschnationalen Konkurrenten Georg Leux zurück. Dieser wollte das Fußballspiel unbedingt so deutsch wie möglich gestalten; er gab dem Spiel deutsche Regeln, wählte deutsche Spielausdrücke und achtete vor allem darauf, dass in der Leitung des Bundes nur Deutsche saßen. Bloch indes stand schon kurze Zeit später dem Konkurrenzverband Deutscher Fußball- und Cricket-Bund (DFuCB) vor, in dem beinahe alle englischen respektive anglophilen Fußballer vertreten waren. Auch wenn sich beide Verbände bald wieder auflösten, so gelten diese Dachorganisationen dennoch als wichtige Vorläufer des DFB. Die Figur Bloch ist außerdem interessant, da er wie Fred Manning zu den ersten, an Ideen wahrlich nicht armen deutschen Sportpublizisten gehörte. Bereits 1891 gab er die Zeitschrift »Spiel und Sport« heraus, die zum wichtigsten Forum im noch jungen Berliner Fußball avancierte, vor allem aber ein unverzichtbares Kommunikationsinstrument bedeutete. Zudem zählten diese frühen sportjournalistischen Blätter zu den ersten Versuchen in Deutschland, mit Sport auch Geld zu verdienen. Die meisten Projekte indes endeten mit großen finanziellen Verlusten.

»Kolonisatoren des Fortschritts«

Es war keineswegs Zufall, dass junge Juden wie die Mannings, Bloch oder Bensemann in Berlin sich ausgerechnet dem Fußballspiel widmeten – und es wäre keineswegs überraschend, wenn sich noch bei weiteren Pionieren eine jüdische Konfession herausstellen würde. Am Ende des 19. Jahrhunderts nämlich wohnten überproportional viele deutsche Juden in der Reichshauptstadt, die sich bald als Wiege des deutschen Fußballsports erweisen sollte. Vor allem zwei Faktoren befeuerten in dieser Pionierzeit das damals ausschließlich großstädtische Phänomen Fußball. Zum einen die Immatrikulation englischer Studenten an deutschen Hochschulen, die sich um eine geeignete Freizeitgestaltung bemühten und angewiesen waren auf deutsche Mitspieler. Und zum anderen verbreitete der rege deutsch-englische Austausch in vielen kaufmännischen und technischen Bereichen allmählich dieses neue Spiel.5 Bald stießen zahlreiche ältere, gut gebildete Schüler zu den neuen Fußballvereinigungen, und darunter eben viele Juden. Schließlich stellte diese (zugegeben äußerst heterogene) Gruppe um die Jahrhundertwende in Berlin ein Viertel der Gymnasiasten und ein Drittel der Schüler an Realgymnasien.6 Die Gebrüder Manning stellten insofern geradezu einen Prototyp des englisch-deutschen Fußballpioniers dar; sie wohnten und arbeiteten zuweilen in England, sie besuchten eine höhere Schule und die Universität. Vor allem aber waren sie, wie ihre Biografien zeigen, stets hochmobil, ebenfalls ein Kennzeichen der in jener Zeit neu entstehenden Schicht der Angestellten, aus der die Fußballklubs um die Jahrhundertwende ebenfalls viele Mitglieder rekrutierten.

Doch das Fußballspiel war auch aus anderen Gründen attraktiv für die diskriminierte jüdische Bevölkerungsgruppe. Zunächst existierten in vielen Turnvereinen, auch in denen Berlins, antijüdische und antisemitische Ressentiments, so dass eine Aufnahme in diese etablierten Organisationen mindestens mit Problemen behaftet war, zuweilen sogar unmöglich schien. Nicht zu vergessen ist, dass der deutsche Antisemitismus-Streit 1879/80 von Berlin ausging. Mit dem Hofprediger Adolf Stoecker saß in Berlin einer der Protagonisten dieser Debatte, die noch Anfang der 1890er Jahre 16 Abgeordnete aus explizit antisemitischen Parteien in den Reichstag spülte7 und die gerade in Berlin zu immer neuen Antisemitismus-Wellen führte. Die nichtjüdische Gesellschaft machte sich seinerzeit ein Bild von den Juden, das sich an den Merkmalen der modernen, kapitalistischen Gesellschaft orientierte. Demnach waren »die Juden« geografisch äußerst mobil, besaßen weitläufige Kontakte, und sie wiesen aufgrund ihrer Bildungsvoraussetzungen eine überproportionale Aufwärtsmobilität auf. Adorno und Horkheimer beschreiben sie in ihrer »Dialektik der Aufklärung« als »Kolonisatoren des Fortschritts«. In der kulturpessimistischen Gesellschaft des Kaiserreichs indes wurden sie allzu oft zu Sündenböcken für die enormen Probleme während der ersten Industrialisierung reduziert, etwa als »Geschäftemacher« diffamiert.


Das 1913 eingeweihte Deutsche Stadion in Berlin war die erste große Sportanlage im Deutschen Reich. 1920 spielte hier die Berliner Stadtauswahl gegen Basel. Links Schiedsrichter Peco Bauwens (der spätere DFB-Präsident), rechts neben ihm Simon Leiserowitsch.

Nicht selten blieb deswegen jüdischen Kommilitonen auch der sonst übliche Gang in elitäre Studentenverbindungen verwehrt. Der Eintritt in Fußballvereine war nun eine Möglichkeit, diesen Makel auszugleichen. Denn diese neuartigen Vereinigungen eiferten dem sozialen Status der angesehenen Studentenverbindungen nicht nur in der Namensgebung nach (etwa mit »Alemannia«, »Markomannia« oder »Germania«), sie kopierten auch weitgehend deren gesellschaftliche Gepflogenheiten. Heftige Besäufnisse, Kommers genannt, waren an der Tagesordnung, und auch die Gesänge der Fußballer entsprachen den Usancen der studentischen Verbindungen. Beispielhaft dafür steht das frühe Vereinsleben der am 9. April 1902 gegründeten »Berliner Tennis- und Ping-Pong-Gesellschaft Borussia«, die sich alsbald in Tennis Borussia Berlin umbenannte. Wehmütig erinnerte sich Klubgründer Dr. Jacques Karp 1927 in der TeBe-Festschrift an Zeiten, »da ein Kamke und ein ›Bumm‹ nach sportlichem Tun die ›Fide-litas‹ der Borussentafel mit studentischem Brauch führten und selbst die hartnäckigsten Philister zum Mitmachen veranlassten. Alte Burschenherrlichkeit war es, wenn Kamke als ›Präside‹ statt des sonst gewohnten Rapiers seinen neu erstandenen echten Manilarohr-Spazierstock auf die Kneiptafel schmetterte, ›Silencium‹ oder ›In die Kanne‹ gebot. Nachher glich sein guter Stock einem Besen, von oben bis unten in einzelne Fasern aufgesplittert. Nach jedem Spiel – ob es nun in den Zeiten des Schönhauser ›Exers‹, des Niederschönhausener Wirkens oder nach dem Sport auf dem Platze in der Moabiter Seydlitzstraße war – entstand eine solche Tafelrunde. Die Gaststätten um den ›Exer‹ herum, das Vereinsheim Schlegel, der ›Patzenhofer‹, ›Pfefferberg‹ und manches andere Lokal des Schönhauser Viertels könnten ein Stück dieser Geselligkeit erzählen.«

Der Weg der Tennis Borussia

Hervorgegangen war dieser Verein aus der »Kameradschaftlichen Vereinigung ›Borussia‹« und der »Berliner Tennis- und Ping-Pong-Gesellschaft«, deren zwölf aus Oberschülern und Studenten bestehenden Gründungsmitglieder sich bei Spielen des Fußballklubs »Rapide« kennen gelernt hatten.8 Die Einzelheiten dieser Gründung sind nicht ganz klar, in der ersten Festschrift heißt es lediglich, die Gründung sei nach einer »patriotischen Anwandlung« geschehen. Die schwarz-weißen Vereinsfarben sprechen dafür, schließlich imitierten sie die Farben Preußens. Aber war eventuell auch Antisemitismus im Spiel? Diese Frage muss Spekulation bleiben. Fakt ist aber, dass sich etwa mit Jacques Karp und dessen Bruder Leo auch einige Juden unter den Gründern befanden und Tennis Borussia sich bis 1933 zu demjenigen Berliner Verein entwickeln sollte, dem der höchste jüdische Mitgliederanteil nachgesagt wurde.

Personifiziert wurde der kometenhafte sportliche Aufstieg des Klubs durch den Juden Alfred Lesser, ebenfalls Klubgründer und bis 1933 die zentrale Figur des Vereinslebens. Geboren am 23. Mai 1882 in Guben, hatte Lesser 1903 im Verein das Fußballspiel angeregt. Es ist unbekannt, welche schulische und berufliche Ausbildung Lesser genoss, auf jeden Fall brachte er es bald zu einer lukrativen Teilhaberschaft in der Firma Lesser & Masur, die vor dem Ersten Weltkrieg mit Melasse handelte, und wohnte inmitten des Hansa-Viertels in Tiergarten. Obwohl dieser Stadtteil von einer wohlhabenden jüdischen Mittelschicht geprägt wurde, war es doch kein jüdisches Ghetto, als welches etwa das Londoner East End betrachtet wurde, auch dann nicht, wenn es kaum ein Haus gab, in dem nicht mehrere jüdische Familien lebten. Die meisten verdienten als selbstständige Kaufleute ihr Geld, und wenn sie politisch und jüdisch interessiert waren, gehörten sie in den 1920er Jahren überwiegend der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens an. Der größte Teil der Juden indes war, so beschreiben es jedenfalls Zeitzeugen, säkularisiert und besuchte die Synagoge meist nur zu besonderen Anlässen.

Lesser nutzte seinen beträchtlichen Wohlstand schon bald zu einem ve-ritablen Mäzenatentum. 1912 stiftete er während seiner ersten Amtszeit als Vorsitzender dem Verein die 27.000 m2 Grundfläche fassenden Sportplätze in Niederschönhausen, die Basis für die weitere Entwicklung des Vereins. (1928 konnte das Grundstück, als der Verein nicht liquide war, mit einer Hypothek über 12.000 Mark belastet werden.) Gleichzeitig war damit der Weg vom Tennis- zum Fußballverein weitgehend besiegelt, da die Anlagen für Fußball ausgelegt waren. Vor allem Lesser war dafür verantwortlich, dass der Klub sich in den 20er Jahren zum zweitbesten Fußballklub nach Hertha BSC entwickelte. Er, der 1925 außerdem zum Vizekonsul von Honduras avancierte, finanzierte Anfang der 20er Jahre aus seinem Privatvermögen viele Auswärtsfahrten, lockte außerdem ruhmreiche Mannschaften wie Hakoah Wien oder Cardiff City zu Gastspielen in das Poststadion. Als der Verein 1925, weil mit Carl Koppehel ein bezahlter Geschäftsführer eingestellt werden sollte, eine Unterdeckung im Etat befürchtete, übernahm Lesser gemeinsam mit einem weiteren Gönner kurzerhand das Gehalt für ein Jahr.

Auf ähnlichem Wege finanzierte der Verein übrigens auch Spitzenspieler wie Sepp Herberger, dessen (wegen des Amateurparagrafen illegales) Gehalt zwischen 1926 und 1930, als er während seines Studiums in Berlin bei TeBe spielte, über den Umweg eines Bankangestelltenvertrages bezahlt wurde.9 Zur Aufklärung: Die beiden Inhaber des betreffenden Geldinstituts, Michaelis und Berglas, waren ebenfalls Mitglieder bei TeBe. Lesser belebte außerdem mit großem Einsatz 1926 die Boxabteilung, die bald zu den besten in Berlin gehörte und mit dem Juden Erich Seelig sogar einen mehrfachen deutschen Meister stellte. Aber Lesser entsprach nicht allein dem antisemitischen Stereotyp eines jüdischen Impresarios und »Schiebers hinter den Kulissen«, sondern er war eben auch mit Leib und Seele Sportler; lange spielte er, der berüchtigt war wegen seines Ehrgeizes, Fußball in der ersten Mannschaft, später bei den Alten Herren.

Bereits im Kaiserreich haftete dem Verein, der 1910 erstmals in die höchste Berliner Klasse aufstieg, durch Mitglieder wie Lesser ein nobles Image an, er besaß zweifelsohne eine Sonderstellung unter den Berliner Vereinen im Norden. Die »innere Struktur des Clubs« um 1910, erinnerte sich Trainer Richard Girulatis in der Festschrift des Vereins anno 1952, war schließlich »bestimmt durch eine ganze Anzahl wohlhabender Mitglieder«. Beleg dafür ist auch ein Bonmot, das seinerzeit die Runde machte. Als die Borussia in einem entscheidenden Spiel um die Klassenmeisterschaft den Rivalen Weißenseer FC 1900 mit 6:1 vom Feld schickte, sprach der Volksmund davon, »dass jetzt die feinen Leute schon die Arbeiter verhauen«. Wie elitär der Klub war, zeigte auch die Abteilung »Akademikersport«, die zur gleichen Zeit von den älter gewordenen Mitgliedern der ersten Generation ins Leben gerufen wurde.

Den sportlichen Erfolg des Vereins verkörperten in erster Linie Spieler wie Simon Leiserowitsch (auch er ein Jude), die Brüder Walter und Oskar Lutzenberger und Fritz Baumgarten, die oft als »Repräsentative« für Berliner Auswahlmannschaften zum Einsatz kamen. Und Fritz Baumgarten stand im Tor, als Deutschland 1908 zu seinem ersten Länderspiel in Basel antrat und dort mit 3:5-Toren der Schweiz unterlag. Fast selbstverständlich wirkten TeBe-Mitglieder auch sportpolitisch im Dachverband. Theodor Sachs etwa, auch er ein jüdisches Gründungsmitglied des Vereins, arbeitete 1905 als Obmann des Verbandes Brandenburgischer Ballspielvereine (VBB) im Mel-deausschuss. 1915 fasste TeBe etwa 200 Mitglieder und war damit einer der größten Berliner Sportvereine; wie überall aber stellte der Erste Weltkrieg auch in diesem Klub eine tiefe Zäsur dar: 55 gefallene Mitglieder beklagte der Verein 1918. Viele von ihnen hatten sich freiwillig gemeldet, denn auch bei TeBe hatten Patriotismus und Kriegsbegeisterung um sich gegriffen.

In der Weimarer Republik behielt der Verein sein elitäres Image, bestärkt noch durch vermehrte internationale Kontakte. So war es alles andere als ein Zufall, dass ausgerechnet dieser Klub, vermutlich angeregt durch Außenminister Stresemann, mit einer heiklen außen- und sportpolitischen Mission beauftragt wurde. Im Oktober 1924 spielte Tennis Borussia als erster deutscher Fußballverein aus dem Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA), dem Dachverband des bürgerlichen Sports, nach dem Ersten Weltkrieg gegen eine Elf des französischen »Erzfeindes«.10 Sowohl das Hinspiel in Paris gegen den »Club de Francaise« (3:1 für TeBe) wie auch das Rückspiel in Berlin (5:1) einen Monat später verlief nach den Wünschen des Außenministers, der von 1924 an die Verständigungspolitik mit Frankreich favorisierte. Wie der Kontakt zwischen Politik und TeBe zustande kam, ist zwar nicht en detail belegt, liegt aber auf der Hand. Denn TeBe-Mitglied Ernst Lemmer saß seit 1924 als Abgeordneter im Berliner Reichstag (und wurde übrigens in den 50er und 60er Jahren für die CDU Bundesminister in verschiedenen Ressorts) – für die DDP, die Partei des Außenministers.


Die Mannschaft von Tennis Borussia Berlin in den 1920er Jahren. Ganz links Simon Leise-rowitsch, ganz rechts sein Bruder Fritz, in der Mitte Otto Nerz, der spätere Reichstrainer.

Im Vorfeld dieser heiklen Begegnungen wurde die Wahl TeBe’s von vielen Fußballfunktionären noch scharf kritisiert, da Tennis Borussia noch nicht zu den stärksten Klubs des Landes zählte. Bald aber stießen die Fußballer in die Spitze vor, bedingt nicht allein durch das Mäzenatentum, sondern auch durch exzellente Trainingsarbeit. Vor allem die Schule Otto Nerz’ wurde in diesem Zusammenhang viel gerühmt. Nerz, der an der nahe gelegenen Deutschen Hochschule für Leibesübungen Fußball dozierte, probierte erfolgreich neueste trainingswissenschaftliche Erkenntnisse im Verein aus, auch wenn diese Praxis von der Konkurrenz oft belächelt wurde. Überhaupt profitierte der Klub vom Austausch mit der ersten Sportuniversität der Welt, denn viele neue Studenten wie Herberger waren aktiv bei TeBe. Zwischen 1925 und 1933 wurde dort der zweitbeste Klubfußball Berlins gespielt, diverse »Veilchen« spielten in regionalen Auswahlteams, Eschenlohr, Lux, Martwig, Schröder und Schumann sogar in der Reichsauswahl, die von 1926 an von ebenjenem Otto Nerz trainiert wurde. Dass Nerz im Juni 1943 in drei antisemitischen Zeitungsartikeln im auflagenstarken Berliner »12 Uhr Blatt« ein »judenfreies Europa« forderte, gehört zu den verwirrenden Aspekten dieser Beziehung zwischen Nerz und seinem ehemaligen Verein. Noch seltsamer wirkt es aus heutiger Sicht, dass die Festschrift zum 50. Jubiläum Tennis Borussias einen historischen Text aus der Feder genau jenes Trainers ziert, der neun Jahre zuvor die Vernichtung des jüdischen Sports geistig vorzubereiten geholfen hatte.

Dass Tennis Borussia in den 1920er Jahren viele jüdische Mitglieder besaß, ist unbestritten. Bereits der englische Sozialwissenschaftler Mike Ticher war in seiner bislang unpublizierten Studie davon ausgegangen, dass weit über zehn Prozent der TeBe-Mitglieder jüdisch waren.11 Für die »Spitze des Klubs«, wie er sich ausdrückt, vermutet er das Doppelte oder gar Dreifache. »Im Allgemeinen«, so Ticher wörtlich, »scheint es, dass bei Tennis-Borussia Juden eine Rolle hinter den Kulissen spielten. Als Verwalter, Funktionäre und Finanziers waren sie deutlich einflussreicher denn als Spieler.« Eine Mitgliederliste, die in den »Clubnachrichten« von 1927 publiziert worden ist und kürzlich als Quelle zugänglich gemacht wurde, lässt einen Aufschluss über die soziale Struktur des Klubs zu.12 Rund 42,8% der Mitglieder verdienten ihren Lebensunterhalt mit kaufmännischen Tätigkeiten (»Kaufmann«), 17,4% arbeiteten in manuellen Berufen (Handwerker und Techniker), darunter zahlreiche Handwerksmeister, aber nur ein »Arbeiter«. Als kleine und mittlere Angestellte (»Reisender«, »Hausdiener«) verdienten sich 6,5% der damaligen Mitglieder ihr Brot, exakt ein Zehntel der Mitglieder befanden sich in akademischen Berufen bzw. in universitärer Ausbildung (z.B. Ärzte, Lehrer und Studenten), und 8,5% waren im Bankgewerbe tätig. 7,5% der Mitglieder absolvierten als Schüler oder Lehrlinge noch ihre Ausbildung, und 3% werden nicht näher als »Fabrikant«, »Direktor« oder Ähnliches bezeichnet. Schließlich arbeiteten 3% in der Publizistik (»Journalist«, »Redakteur«). Offenbar hatte sich, wenn überhaupt, die soziale Struktur des Vereins seit dem Kaiserreich nur unwesentlich verschoben.

Gleichzeitig notierten die »Clubnachrichten« bei Neuaufnahmen auch immer die Geburtsdaten. Nach Auswertung dieser Rubriken, der 403 Mitglieder umfassenden Liste aus den »Clubnachrichten« sowie neuer Datenbanken (das Bundesarchiv etwa stellt seit kurzem eine Datenbank zur Verfügung, in der rund 411.000 Datensätze über »Juden und jüdische Mischlinge im Deutschen Reich« aus der Volkszählung vom 17. Mai 1939 erfasst sind) lassen sich indes – nimmt man die bereits als Juden bekannten Mitglieder hinzu – lediglich knapp acht Prozent als »jüdisch« belegen. Da von vielen Mitgliedern die Konfession nicht geklärt werden kann, dürfte inklusive Dunkelziffer der von Ticher geschätzte Wert von 15 Prozent in etwa stimmen. Das entspräche ungefähr 60 Mitgliedern. Damit läge der jüdische Anteil am Verein immer noch überproportional hoch, denn nur drei Prozent der damaligen Berliner Bevölkerung waren jüdisch.

Aber wirkte sich dies überhaupt in irgendeiner Form aus? Fungierte der Klub als ein »Vorzeigeverein« dahingehend, dass hier Juden und Nichtjuden zusammen Sport betrieben? War überhaupt so etwas wie eine jüdische Identität zu erkennen? Auf den ersten Blick ist das zu verneinen. Denn wie alle bürgerlichen Vereine in der Weimarer Republik legte auch Tennis Borussia allergrößten Wert auf politische und konfessionelle Neutralität. Der Aufsatz »Die Parität im Sportsverein«, der im Jahre 1928 in den »Club-Nachrichten« erschien, darf in dieser Hinsicht als programmatisch verstanden werden. Autor Ernst Roßkopf grenzte sich darin scharf ab von den Vereinen des Arbeitersports, und das einzige Mal zwischen 1924 und 1932 wurde hier auch in einem Text die Frage der Konfessionen angeschnitten. »Auch der Konfessionsstreit«, heißt es wörtlich, »darf im Sportsverein keinerlei Rolle spielen. Im Sport und im Spiel entscheidet immer nur der bessere Kämpfer, die bessere Mannschaft.« Diese Sätze waren gleichzeitig als ganz ausdrückliche Kritik an katholischen (DJK), evangelischen (Eichenkreuz) und eben auch jüdischen Sportvereinen (Makkabi) zu verstehen, die das neue Gesellschaftsphänomen Sport als Plattform für die Verbreitung des jeweiligen Glaubens betrachteten und als politisches Instrument nutzten.

Von antisemitischen Vorfällen während der Spiele berichtet das Kluborgan nichts, jedenfalls nicht explizit. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, antisemitische Äußerungen vom sportlichen Gegner oder deren Zuschauern hätten nicht stattgefunden – diese sind sogar wahrscheinlich. Schließlich kam es beim Fußball in der Weimarer Republik bereits zu schweren Ausschreitungen. Im Fall von TeBe fanden laut »Clubnachrichten« die meisten Zusammenstöße mit dem Erzrivalen Weißenseer FC 1900 statt. Im Januar 1924 etwa kam es während eines Spiels zu Schlägereien zwischen den Zuschauern, zehn Monate später, als es wieder gegen Weißensee zu »Randale« und Polizeieinsatz gekommen war, schlug das Kluborgan vor, nach dem Vorbild Wiens (in dem antisemitische Provokationen zum Alltag gehörten) Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszutragen. Im September 1924 kam es im Spiel gegen Union 92 zu einem »bisher in Berlin noch nicht gehörten Sportsruf auf unsere Mannschaft«. Aber auch Zuschauer wie Spieler des Vereins verhielten sich offenbar nicht immer vorbildlich, jedenfalls wurde nicht selten an die Umgangsformen im Sport und an den gehobenen Status des Vereins erinnert. »Vergessen Sie nicht«, appellierte die Klubführung im Frühjahr 1924, »dass Sie Mitglieder von Tennis-Borussia sind, die auch auf dem Sportplatz ein ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechendes Wesen zur Schau tragen sollen.«

In den Zeitungen kam es nicht zu offenen antisemitischen Hetzen, wie es etwa in Wien der Fall war – der Antisemitismus im Berliner Fußball äußerte sich versteckter, hinterlistiger. Als Tennis Borussia anno 1927 seinen 25. Geburtstag feierte, kommentierte der »Fußball« neidisch die »kapitalistische Periode«, die nach der Inflation über den Verein hereingebrochen sei, wie folgt: »Eine Bombenmannschaft wurde aus allen Winden zusammengeholt und wird noch fortgesetzt durch Zuzug verstärkt. Leider kamen auch einige Kreise in den Klub, die man trotz Autos und Bankkonten lieber nicht gesehen hätte. Die Preußen, heute immer noch Berlins vornehmster Verein, haben weit weniger Villenbesitzer in ihren Reihen als Tennis-Borussia. Die Vornehmheit liegt nicht im Gelde, sondern in der sportlichen Gesinnung.« Schlimmer noch polemisierte Ernst Werner, Chef der »Fußball-Woche«, als er nach dem FIFA-Kongress 1928 den österreichischen Teamchef Hugo Meisl charakterisierte: »Im Plenum ist Hugo Meisl, der Wiener Jude, mit der Geschmeidigkeit seiner Rasse und ihrem zersetzenden Sinn einer der größten Kartenmischer. Er und der deutsche Fußballführer Felix Linnemann – zu Hause ein geschätzter Kriminalist – sind die stärksten Gegensätze, die man sich denken kann. Der eine ein Vertreter des krassen Geschäftema-chens mit Fußball, der andere ein Apostel des Amateurismus.«13

Die meisten Zeitgenossen indes hätten es abgelehnt, im Fall von Tennis Borussia von einem spezifisch »deutsch-jüdischen« respektive »berlinischjüdischen Beitrag« zur Sportkultur in der Weimarer Republik zu sprechen. Auch die Vereinsmitglieder selbst hätten sich vermutlich die Frage nach einer Verbindung zwischen Sportbetrieb und jüdischem Glaubensbekenntnis verbeten. Und so geben auch die »Club-Nachrichten« keinen ausdrücklichen Hinweis auf eine derartige Motivation. Vielmehr wurden viele jüdische Mitglieder erst im Jahre 1933 zu solchen erklärt, als sie ihrer Konfession wegen ausgeschlossen oder zum Rücktritt bewegt wurden. Fraglos besaßen jüdische Sportler und Funktionäre große Verdienste um den Klub, doch erwarben sie sich diese – und darauf hätten sie selbst großen Wert gelegt – nicht als deutsche Juden, sondern eben als Sportler und Funktionäre. Es erscheint daher abwegig, in diesem Verein einen speziellen Ort »jüdischer Identitätsstiftung« zu erblicken, so wie es die Mitglieder der zionistischen Klubs fraglos taten. Dieser Verein propagierte all diejenigen Ideale, die in anderen Sportvereinen des bürgerlichen Lagers ebenso offensiv vertreten wurden: Sport diente als Instrument, er sollte unter anderem Jugendliche zu guten Staatsbürgern erziehen und die, wie sie damals bezeichnet wurde, Volksgesundheit stärken.

Doch sind die Motive der sportlichen Betätigung deutscher Juden in bürgerlichen Vereinen damit wohl kaum ausreichend beschrieben. Der deutsche Jude und Historiker Peter Gay, der in jenen Jahren in Berlin aufwuchs, erblickte in seinem Fan-Dasein im Nachhinein für sich eine Art Überlebensstrategie, die von der Geschichtswissenschaft bislang kaum gewürdigt worden ist. Der Schriftsteller beschreibt den Sport als Feld der Selbstbehauptung und Assimilation, in einem ansonsten als bedrohlich wahrgenommenen Alltag gaben ihm die Sportereignisse wenigstens einen Schein von Normalität. Von 1933 an, schreibt Gay in seinem Buch »Meine deutsche Frage«, sei er ein Fußballfan gewesen (wohlgemerkt nicht von TeBe, sondern von der Hertha), »weil der Sport mir als Schutzschirm diente, der die bedrückende Welt Nazideutschlands von mir fern hielt. Mit ihrem gleichbleibenden Wochenrhythmus sorgte die Fußballsaison in einer Zeit, in der wir gleichsam von einem Tag zum andern, von einer NS-Verordnung zur nächsten, lebten, für eine gewisse Kontinuität.«14 Diente der bürgerliche Verein Tennis Borussia Berlin den assimilierten Juden ebenfalls als geeignete Rückzugsmöglichkeit, als Oase, in der Konflikte, die eine jüdische Konfession ansonsten in vielen Bereichen der Weimarer Republik zweifellos mit sich brachte, keine Rolle spielten? Es spricht viel für dieses Motiv. Selbstverständlich handelte es sich bei den deutschen Juden um eine äußerst heterogene Bevölkerungsgruppe, die nach Ansicht des israelischen Historikers Moshe Zimmermann »ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft, keine Enklave oder Exklave innerhalb dieser Gesellschaft, war und deren Angehörige sich in ihrer Gesinnung und Einstellung als deutsche Bürger begriffen«.15 Im Sport aber suchte ein Teil dieser Gruppe offenkundig ein von Konfessionen weniger berührtes Feld der Freizeitbeschäftigung und Assimilation. Kurz: einen Alltag ohne jeden Antisemitismus.

Bei Tennis Borussia scheint dieser Versuch bis 1933 recht erfolgreich gewesen zu sein; unabhängig von Konfession und weitgehend unbelästigt von antisemitischen Auswüchsen bot dieser Verein offenbar seinen jüdischen Mitgliedern eine ideale Plattform der Assimilation. Die »Machtergreifung« im Januar 1933 beendete jäh dieses Modell. Bereits am 11. April 1933 wurde bei Tennis Borussia eine außerordentliche Mitgliederversammlung wie folgt protokolliert: »Die stark besuchte Versammlung, 158 Mitglieder, wird von Herrn Rüdiger eröffnet, der in seiner Rede darauf hinweist, dass die Politik nunmehr auf den Verein Einfluss bekommen hätte und nicht nur die Herren jüdischer Konfession ihre Vorstandsämter zur Verfügung gestellt haben, sondern auch der größte Teil unserer jüdischen Mitglieder ihren Austritt erklärt haben. Er bedauert dies, da sich unter diesen auch einige sehr verdienstvolle Mitglieder befinden.« Zwangsläufig waren einige Gründungsmitglieder des Vereins unter den faktisch Ausgeschlossenen, darunter Alfred Lesser, die Gebrüder Karp und Theodor Sachs. Bereits einen Monat später, am 22. Mai 1933, initiierten einige von ihnen den neuen Klub »Berliner Sportgemeinschaft 1933«. Auf der ersten Generalversammlung im Juni 1933 wählten die rund 200 Mitglieder Alfred Lesser zu ihrem Präsidenten, zu seinem Vize den Bankier Georg Michaelis, Theodor Sachs und Vereinsarzt Dr. Wisotzki wurden in den Spielausschuss gewählt.

Die Makkabi-Bewegung in Berlin

In Berlin konstituierten sich bald weitere Sportvereine, deren Mitglieder sich aus den Verstoßenen des bürgerlichen Sports rekrutierten, etwa der »Verein ehemaliger Schüler« und der »Verein Kaffee König«. Der Wettkampfverkehr mit Vereinen aus dem bald umformierten NS-Sportverband war nun de facto nicht mehr möglich; fortan konnten Lesser und seine alten Weggenossen nur gegen Vereine antreten, deren Mitglieder Juden waren bzw. nach NS-Rassenverständnis als Juden ausgewiesen wurden. Wenn auch nur zögerlich, kam es so zu Kontakten mit Klubs aus der frühen jüdischen Sportbewegung. Grob zusammengefasst, handelte es sich bei ihr um zwei zerstrittene Gruppierungen. Unter dem Dachverband »Schild«, der Sportgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF), waren diejenigen Klubs organisiert, die sich auch anhand sportlicher Aktivitäten gegen eine, wie es in der Satzung des RjF hieß, »Herabsetzung ihres vaterländisches Verhaltens im Kriege« wehrte; ein jüdischer Abwehrverein assimilierter deutscher Juden. Die sportlichen Aktivitäten beschränkten sich zumeist auf Kampfsportarten wie Jiu-Jitsu, Fußball wurde kaum betrieben. Die zweite, zweifellos größere Säule jüdischen Sports bereits in der Weimarer Republik waren die Klubs im zionistischen »Makkabi«-Verband. Dieser sah im Sport ganz ausdrücklich ein Mittel zur körperlichen Ertüchtigung, um sich so auf den zu gründenden Staat Israel vorzubereiten.

Während der Weimarer Republik waren aber die wenigsten sportlichen Juden in diesen ausdrücklich jüdischen Sportverbänden und -vereinen aktiv. So zog anno 1929 etwa der deutsche Makkabi, der Dachverband der zionistischen Sportbewegung, eine ernüchternde Bilanz. In der Juni-Ausgabe seines Zentralorgans »Makkabi« wurde festgestellt, dass mit den rund 5.000 organisierten Mitgliedern in 26 Vereinen nur ein Prozent der jüdischen Bevölkerung erreicht worden waren. »Besonders ungünstig«, hieß es weiter, »liegt das Prozentverhältnis in Berlin, wo nahezu die Hälfte der jüdischen Bevölkerung lebt, wo aber der Bar Kochba mit rund 1.300 Mitgliedern nur 0,4 Prozent der jüdischen Bevölkerung umfasst.« Als Grund nannte der Kommentar unter anderem, »dass sich außerordentlich viele Juden noch in den großen paritätischen Turn- und Sportorganisationen«, sprich in konfessionell ungebundenen, »normalen« Sportvereinen betätigten. Wie viele genau, das vermochte keiner zu sagen. Eines aber stand fest: Nirgendwo betrieben so viele deutsche Juden Sport wie in Berlin, und nirgendwo widmeten sich mehr dem beliebtesten Sport, dem Fußball.

Der bereits 1898 in Berlin gegründete Verein »Bar Kochba« gehörte ebenfalls zur »Makkabi«-Bewegung. Eine Fußballabteilung existierte darin vorerst nicht, wie in anderen jüdischen Vereinen wurde zunächst geturnt. Auch in den frühen 20er Jahren wurde Fußball zunächst nicht angeboten, wie bei vielen Makkabi-Klubs auch mit dem Argument einer falschen »Spezialisierung«. Wie ablehnend die jüdischen Turner der Popularisierung des Fußballs gegenüberstanden, illustrierte der polemische Artikel »Die ›neu-tralen‹ Fußballvereine« im Verbandsorgan »Makkabi« aus dem Jahre 1923, der ein Jahr später im gleichen Wortlaut nochmals gedruckt wurde. Der Autor, ein Dr. Erich Moses, kritisierte darin vor allem die Tatsache, dass viele deutsche Juden in konfessionell ungebundenen Vereinen wie Tennis Borussia aktiv seien und so ihre jüdischen Wurzeln verraten würden. »Kritiklose Nachahmung, gedankenlose Assimilation an alles, was man gerade vorfindet«, sei das Kennzeichen jener Juden, schimpfte Moses, »Assimilation ist eben Trumpf und so übernimmt man die ungeistige Einstellung von Ballklotzern ebenso unüberlegt und leichtfertig wie die Namen, die uns als Sinnbild unserer Erziehungsarbeit vorleuchten.« Nichts an diesen Vereinen sei jüdisch, so Moses, der anschließend die Motivation jener assimilierten jüdischen Sportler geißelt: »Vielleicht glauben sie dem Judentum und der jüdischen Ehre besonders nützlich zu sein, weil sie den Nichtjuden beweisen, dass die Juden auch Fußball spielen können, mindestens so gut – oder vielleicht besser? –, dass man also die Juden auf körperlich-technischem Gebiet als gleichwertig bezeichnen muss. Wozu sonst jüdische Namen? – Ich glaube nicht, dass es der Sinn des Judentums ist, Akrobaten großzuziehen. Aber es ist eine alte assimilantische Methode, dass man den Nichtjuden zeigen will, dass wir auch alles können und dass für sie das Wesen des Judentums darin liegt, zu beweisen, dass z.B. die Juden nicht mehr Wucherer haben wie jedes andere Volk; zu beweisen, dass die Juden im Kriege sich nicht gedrückt haben, zu beweisen, dass die Juden keine Betrüger sind und dass sie Fußball spielen können. Trotzdem ist der Antisemitismus nicht geringer geworden.«

In dem Bekenntnis der Vereine des Dachverbandes DRA zur politischen und konfessionellen Neutralität erblickte Moses einen Akt zur Diskriminierung. »In den Statuten unserer Fußballklubs«, hieß es in seiner Polemik, »darf das Wort ›Jude‹ nicht vorkommen, weil es in diesem Fall unmöglich sein würde, in einem großen Ballspielverband aufgenommen zu werden. Nach den Statuten sind die Fußballklubs also Vereine, die die Pflege des Fußballsports treiben, weiter nichts. In Wirklichkeit sagt man uns immer wieder, man kann natürlich in diesem Fußballklub jüdisch arbeiten, ohne dass es andere zu wissen brauchen. Erstens: Man kann, wenn man will, aber man will ja gar nicht. Zweitens: Ohne dass Außenstehende es merken. (…) Haben wir es nötig, des Fußballes wegen ein ghettohaftes Leben zu führen? Heraus aus den Verbänden, die sich scheuen, Vereine aufzunehmen, die sagen, dass sie Juden sind und sich jüdisch betätigen wollen, da alles andere Verhalten einer Würdelosigkeit gleichkommt.« Es war indes nicht allein die Gefährdung der jüdischen Sache, die diese Polemik provozierte, sondern auch die unbestrittene Tatsache, dass der Fußball in den 20er Jahren dem Turnen viele Mitglieder abwarb, auch den jüdischen Turnvereinen – und Moses turnte in Dresden.

In Berlin entstand unterdessen am 17. Mai 1924 mit dem S.C. Hakoah ein Verein, der sich vorwiegend dem Fußball widmete. Das Datum dieser Genese entsprang keineswegs dem Zufall, denn kurz zuvor war die weltberühmte Wiener Hakoah zu zwei Gastspielen nach Berlin gekommen (im März erreichte Tennis Borussia ein 3:3-Remis, im Mai gewann Hertha BSC 4:3). Ein Jahr später hatte der Verein bereits 400 (meist Fußball spielende) Mitglieder gewonnen, 1928 konnte der Vereine mit doppelter Mitgliederzahl sogar größere Sportanlagen finanzieren. Doch die jüdische Erziehungsarbeit in Klubs dieser Prägung schien Turnern wie Erich Moses immer noch nicht zu reichen. »Auffallend ist, dass die Mitglieder der Fußballklubs sich zu 99% aus Ostjuden rekrutieren«, schrieb Moses in besagtem Text, »wenn die jüdischen Fußballklubs nur deutsche Juden als Mitglieder hätten, könnte man die ajüdische Einstellung verstehen, da sie es von Haus aus nicht besser verstehen. Oder glauben unsere ostjüdischen Brüder, dass sie es nicht mehr nötig haben, sich mit jüdischen Dingen zu beschäftigen?« Auch im Fußball spiegelte sich mithin der Konflikt der jüdischen Gemeinden: der große Konflikt zwischen etablierten, assimilierten und just immigrierten Juden.

Der S.C. Hakoah Berlin jedenfalls entwickelte sich zu dem größten jüdischen Fußballklub Deutschlands, und seine Mitgliederstärke bewog den etablierten Klub »Bar Kochba« 1930 sogar zur Fusion mit der Hakoah. Was der Makkabi-Verein damit bezweckte, verriet die letzte Sitzung vor dem Zusammenschluss. Ein Vorstandsmitglied glaubte, so steht es im Protokoll, das in der Zeitschrift »Makkabi« veröffentlicht wurde, »dass man den Enthusiasmus der Ostjuden für den Fußballsport auf das Gebiet des Zionismus leiten könne. Wenn der Hakoah auch nichts mitbringe als diesen Enthusiasmus, so liege es nur an uns, diesen in die richtigen Weg zu leiten.« Sportlich indes waren die Ha-koahner mitnichten so erfolgreich wie ihre Wiener Vorbilder, 1928 reichte es zum Aufstieg in die Kreisliga, der zweithöchsten Klasse Berlins. Dennoch waren in ihr einige bekanntere Spieler aktiv, so etwa der ehemalige TeBe-Repräsentative Hanne Reiff, der allerdings seinen sportlichen Zenit bereits überschritten hatte, als er Ende der 20er Jahre zu Hakoah kam. Aus der eigenen Jugend kam dagegen Paul Kestenbaum, der nicht nur 1932 im deutschen Team an der 1. Makkabiade in Palästina teilnahm, sondern auch für Palästina die zwei Qualifikationsmatches zur WM 1934 gegen Ägypten bestritt.


Vereinsemblem SC Hakoah Berlin

Nach 1933: Scheinblüte und Vernichtung

Zu den Umständen des jüdischen Fußballs in Berlin nach 1933 ist wenig Genaues bekannt. Sporthistoriker sprechen aufgrund der höheren Mitgliederzahlen zwischen 1933 und 1938 von einer »Blüte des jüdischen Sports«, aber er blühte eben nur zum Schein.16 So wie in anderen Orten auch, kam es zu großen Konflikten zwischen den zionistischen Vereinen und den 1933 entstandenen Vereinen über ideologische Fragen; diejenigen Juden jedenfalls, die schon vor 1933 eine Assimilation im Sport abgelehnt hatten, dürften nach der »Machtergreifung« ihre Überzeugung bestätigt gesehen haben, dass das Modell der jüdischen Assimilierung auch im Sport zum Scheitern verurteilt war. Die Aufarbeitung der Schicksale des jüdischen Fußballs im »Dritten Reich« jedenfalls steht noch aus, Berlin bildet da keine Ausnahme. Nur von den wenigsten Persönlichkeiten ist der weitere biografische Weg bekannt. Das TeBe-Gründungsmitglied Dr. Jaques Karp emigrierte wie sein Bruder Leo offenbar 1937 in die britische Küstenstadt Hov; Julius Guth starb im litauischen KZ Kovno, so wie sich die allermeisten Spuren der jüdischen Fußballer Berlins in der Apokalypse des Zweiten Weltkrieges verlieren. Dem Gründer, Vorsitzenden und langjährigen Mäzen Tennis Borussias, Alfred Lesser, gelang 1939 die Flucht in die Vereinigten Staaten. Wie sehr Männer wie Lesser unter dem Ausschluss aus ihren Vereinen und den Diskriminierungen gelitten haben müssen, zeigt ein Brief aus den USA im Jahre 1952. Immer noch lege sie, schrieb Lessers Witwe Tutti in einem Beitrag für die Festschrift zum 50. Jubiläum der Tennis Borussia, lila-weiße Blumen auf das Grab ihres Mannes, »Tennis Borussia gehörte doch so sehr zu seinem Leben!«

Nie wieder hat sich der jüdische Sport vom Holocaust wirklich erholt, nie wieder haben in Berlin so viele Juden Fußball gespielt wie in den 20er und 30er Jahren. Die weiterhin elitäre Tennis Borussia hatte zwar seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Showmaster Hans (»Hänschen«) Rosenthal und dem Musikproduzenten und vormaligen Fußballprofi Jack White wiederum jüdische Vereinspräsidenten, doch nie wieder – auch nicht in den erfolgreichen 50er Jahren – besaß der Verein einen vergleichbaren Status wie in jenen Jahren der Weimarer Republik. Nach den Auflösungen aller jüdischen Klubs 1938 existiert seit dem 26. November 1970 mit dem TuS Makkabi Berlin heute wieder ein jüdischer Verein mit über 600 Mitgliedern. Er betrachtet sich als legitimer Nachfolger des 1898 gegründeten Vereins »Bar Kochba«, im Vordergrund steht der Breitensport. Es existiert auch eine etwa 240 Mitglieder umfassende Fußballabteilung, die momentan in der Bezirksliga spielt. Nach Auskunft des Vereins sind antisemitische Pöbe-leien während der Spiele in den letzten Jahren weniger geworden.

Der jüdische Fußball besaß nicht nur seine Wurzeln in Berlin, er beein-flusste auch von Berlin aus maßgeblich die Entwicklung des gesamten deutschen Fußballsports. Die Gebrüder Manning gerieten zu großen Vorbildern der ersten Berliner Fußballgeneration, ganz zu schweigen von ihren (vergessenen) Verdiensten bei der Gründung des DFB und bei seiner Wiederaufnahme in die FIFA nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die fußballpublizistischen Gehversuche eines John Blochs waren wegweisend, in ihnen darf man die ersten zarten Schritte zu einer Kommerzialisierung erblicken, die notwendig waren zur qualitativen Verbesserung des Spiels. Tennis Borussia Berlin schließlich verkörperte ein zunächst erfolgreiches Modell des assimilierten jüdischen Fußballs in Kaiserreich und Weimarer Republik, ganz zu schweigen von den außenpolitischen Verdiensten des Klubs im Auftrage Gustav Stresemanns.

Auch wenn die jüdischen Ahnen des Berliner Fußballs weitgehend in Vergessenheit geraten sind (oder präziser: bewusst vergessen wurden), schmälert das doch ihre Verdienste nicht. Eines jedenfalls steht fest: Wer über die Genese des Fußballs in Deutschland redet, darf über den wichtigen jüdischen Beitrag im Berliner Fußball nicht schweigen.

Anmerkungen

1 Koppehel, Carl: Geschichte des Berliner Fußballsports. 60 Jahre VBB, Berlin 1957, S. 12-14.
2 Die biografischen Angaben für die jüdischen Fußballpioniere sind entnommen bei Gillmeister, Heiner: »English Editors of German Sporting Journals at the Turn of the Century«, in: »The Sports Historian«, 13 (Mai 1993), S. 38-40; Ders.: »The Tale of Little Franz and Big Franz: The Foundation of Bayern Munich FC«, in: »Soccer and Society« 1(2000), Heft 2, S. 80-106; Ders.: »Jüdische Fußball- und Olympiapioniere an der Wende des 20. Jahrhunderts«, in: Bertke, E. / Kuhn, H. / Lennartz, K.: Olympisch bewegt. Festschrift zum 60. Geburtstag von Manfred Lämmer, Köln 2003, S. 85-98.
3 Vgl. dazu den Text über den DFB in diesem Band.
4 So in seinem Vortrag bei der Tagung »Juden im europäischen Sport« im Mai 2002 in München.
5 Vgl. Eisenberg, Christiane: »English Sports« und deutsche Bürger. Eine Gesellschafts-geschichte 1800-1939, Paderborn u.a. 1999, 178-193.
6 Volkov, Shulamit: Die Juden in Deutschland 1780-1918, München 2000, S. 54.
7 Dazu im Überblick: Ebenda, S. 49-51.
8 Ausführlicher dazu: Buschbom, Jan / Eggers, Erik: »›So wird ein guter Sportsmann gewöhnlich auch ein guter Staatsbürger sein…‹ Über jüdischen Sport in den bürgerlichen Sportvereinen der Weimarer Republik – Das Fallbeispiel Tennis Borussia Berlin«, in: »SportZeiten« (i. Dr.).
9 Kehl, Anton (Hrsg.): »Ich war ein Besessener.« Sepp Herberger in Bildern und Dokumenten, München 1997, S. 26.
10 Ausführlich dazu: Buschbom, Jan / Eggers, Erik: Ehrenwertes und nobles Auftreten, in: »Tagesspiegel« vom 7. April 2002.
11 Ticher, Mike: Jews and Football in Berlin, 1890-1933.
12 Ausführlicher bei Buschbom/Eggers 2002.
13 Franta, R. / Pögl, A.: Hugo Meisl, in: »Libero« 33 (2001), Heft 2, S. 48.
14 Gay, Peter: Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin. 1933-1939,2000,124f.
15 Zimmermann, Moshe: Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S. XIf.
16 Bernett, Hajo: Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938, Schorndorf 1978.
Davidstern und Lederball

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