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Einführung These 1 Das 20. Jahrhundert war ein „Jahrhundert der Metropolen“. Wird das 21. Jahrhundert ein „Jahrhundert der Megastädte“ sein? 1.1 Metropolisierung – ein Phänomen des 20. Jahrhunderts?
ОглавлениеDie gegenwärtig auf der Erde lebenden Generationen sind Zeugen von demographischen Vorgängen bislang nicht gekannter Dynamik, deren Folgen zur mit Sicherheit größten Herausforderung für die unmittelbar nachfolgenden Generationen werden dürften. Die Vorgänge selbst beziehen sich nicht allein auf ein bislang nicht bekanntes rasches Wachstum der Erdbevölkerung in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Deren Zahl stieg von 1950 bis 2010 von 2,5 Mrd. (1900: 1,6 Mrd.) auf 6,9 Mrd. Menschen. Diese Zunahme um fast das 2,8-fache in gerade einmal 60 Jahren muss in erster Linie von den armen Ländern, den sog. Entwicklungsländern, getragen werden – hier finden 95 % (!) des Bevölkerungswachstums statt. Ihr Anteil ist von zwei Dritteln (1950) auf über vier Fünftel (2010) angestiegen.
Abb. 1: Die metropolitane Bevölkerung der Erde 1900–1950–2010
Abb. 2: Die Metropolisierung der Erde 1900–1950–2010
Sehr viel rasanter, um mehr als das Vierfache, hat sich das Wachstum der urbanen Bevölkerung vollzogen. Hier sind die Unterschiede zwischen „Nord“ und „Süd“ noch wesentlich evidenter: Einer Zunahme um das 2,4-fache in den Industrieländern steht eine um das 7,4-fache in den Entwicklungsländern gegenüber, mithin eine mehr als dreimal so rasche Zunahme der Stadtbevölkerung in der „Dritten“ Welt.
Dabei hat Lateinamerika (Mittel- und Südamerika) bereits heute mit 74 % in Städten lebender Bevölkerung die Urbanisierungsquote der Industrieländer (Europa: 74 %, Nordamerika: 76 %) erreicht. Asien und Afrika, die um die Mitte des 20. Jh.s kaum 10 % städtische Bevölkerung aufwiesen, haben hier mit einem Anteil von 35 % bzw. 34 % stark aufgeholt.
Dieser als „Völkerwanderung in die Städte“ bezeichnete Prozess betrifft in erster Linie die Metropolen: Im besagten Zeitraum (1950–2010) ist die in den Millionenstädten lebende Bevölkerung mehr als dreimal so rasch angewachsen wie die urbane Bevölkerung insgesamt. Heute lebt bereits jeder fünfte bis sechste Mensch in einer Millionenstadt; zu Beginn des 20. Jh.s war es gerade einmal jeder Vierzigste gewesen (Abb. 1 u. 2).
Dieser Metropolisierungsprozess begann mit London, der Hauptstadt des British Empire: Als Schaltzentrale und zugleich Zentrum des seinerzeit reichsten und gleichzeitig wirtschaftlich-industriell am höchsten entwickelten Landes der Erde stieg London zur ersten Metropole und gleichzeitig ersten Weltstadt der Neuzeit auf (1801: 1,097 Mio. Einw.). Paris folgte um 1840 und war ebenfalls Steuerungszentrale eines Groß-Kolonialreiches. Hinzu kamen, ebenfalls noch vor 1850, New York, Hauptimmigrationszentrum der Erde, sowie Tokyo, Hauptstadt des aufstrebenden Japan. Als nächste folgten Wien und Berlin um 1870, ebenfalls Hauptstädte von seinerzeit europäischen Großmächten. Dann aber drehte sich die Wachstumsspirale immer schneller: Zu Beginn des 20. Jh.s gab es bereits 20 Millionenstädte, in seiner Mitte waren es 75, bis heute (2010) ist ihre Zahl auf ca. 400 angestiegen.
Dabei wird der von Morse (1965: 46) bereits vor 40 Jahren als „Naturereignis“ bezeichnete Vorgang in erster Linie von den Ländern der „Dritten“ Welt getragen: Hier hat sich die metropolitane Bevölkerung zwischen 1950 und 2010 von 72 Mio. auf 873 Mio. mehr als verzwölffacht, während sie sich in den Industrieländern gerade einmal um gut das Dreifache (von 118 auf 392 Mio.) erhöht hat. Innerhalb von 50 Jahren hat sich somit die Metropolisierungsquote (MQ) im Verhältnis der Industrie- zu den Entwicklungsländern von 62,2 % zu 37,8 % (1950) auf heute 32,2 % zu 67,8 % (2010) mehr als umgekehrt.
Fazit:
Die eigentliche Bevölkerungs „explosion“ fand in den Metropolen statt. Anstelle von Urbanisierung, von Schöller (1983: 25) zu Recht als einen der tiefgreifendsten Wandlungsprozesse in der Geschichte der Menschheit bezeichnet, sollte man in der „Dritten“ Welt deshalb zutreffender von Metropolisierung sprechen.
Das in diesem Zusammenhang jüngste Phänomen ist das der Großmetropolen oder Megastädte, hier als Stadtagglomeration mit über 5 Mio. Einw. und über 2000 Einw./km2 Bezugsfläche verstanden. Wenn man von „jüngster“ Erscheinung spricht, dann bezieht sich diese Aussage fast ausschließlich auf die „Dritte“ Welt: Bis 1940 waren die fünf existierenden Megastädte ausschließlich in der „Ersten“ Welt lokalisiert: Tokyo, New York, London, Paris, Osaka-Kobe. Mit seinerzeit 4,2 bzw. 3,6 Mio. Einw. waren Buenos Aires und Shanghai die größten Städte in der „Dritten“ Welt: Sie rangierten damit hinter Berlin, Chicago und Moskau erst an 9. bzw. 10. Stelle. 1950 passierte Shanghai als erste Megastadt eines Entwicklungslandes die 5-Mio.-Grenze. Bis heute ist die Zahl der Megastädte in der „Dritten“ Welt auf 40 explodiert; in der „Ersten“ Welt ist sie dagegen ungleich langsamer auf insgesamt 13 angestiegen.
Die Dynamik dieses demographisch beispiellosen Vorganges sei an einigen Fakten verdeutlicht: In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s war Chicago die am schnellsten wachsende Metropole der Erde. In der nachfolgenden ersten Hälfte des 20. Jh.s nahm Los Angeles diesen Platz ein. Dann aber sprengte die im Zuge der Bevölkerungsexplosion in der „Dritten“ Welt einsetzende metropolitane/megapolitane Revolution sämtliche bis dahin gekannte Maßstäbe: Während im 20. Jh. Tokyo immerhin noch um mehr als das Sechsfache, New York und Chicago um mehr als das Dreifache sowie Paris um das 2,3-fache anwuchsen, und London als einzige Megastadt (und mit Wien als einzige Metropole der Erde) heute weniger Einwohner zählt als zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, explodierte die Bevölkerungszahl Seouls als der am schnellsten wachsenden Megastadt des 20. Jh.s um mehr als das 70-fache, São Paulo, Jakarta, aber auch Los Angeles um mindestens das 60-fache, Delhi um mehr als das 50-fache sowie Manila, Bangkok und Cairo immerhin noch gut das 20-fache (Tab. 1).
Einige absolute Zahlen mögen diese gegensätzliche Entwicklung verdeutlichen: So wuchs die Bevölkerung von London, der bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges größten Megastadt der Erde, von 1800 bis 1940 zwar immerhin um stattliche 7,5 Mio., Seoul brauchte dafür jedoch gerade einmal 20 Jahre: Von 1960 bis 1980 nahm seine Bevölkerung um 8 Mio. zu. Die Einwohnerzahl von New York wuchs im Zeitraum von 1800 bis 1940 sogar um 11 Mio., Seoul aber übertraf dieses Wachstum in gerade einmal 30 Jahren: Von 1960 bis 1990 explodierte sie um über 13 Mio. (!).
Was allerdings das absolute Wachstum anbelangt, so rangiert Tokyo mit 28,2 Mio. (1900–2000) einsam an der Spitze, gefolgt von Seoul (20,1 Mio.), Mumbai (17,3 Mio.) sowie São Paulo und Mexico City (je 17,0). Nach Jakarta, Delhi, Cairo, Manila und Calcutta nehmen Los Angeles und New York hier nur den 11. bzw. 12 Rang ein. Die Umkehr der Verhältnisse, sprich des Hochwachstums der Metropolen Europas und Nordamerikas im 19. und beginnenden 20. Jh. hin zu den „Dritte“-Welt-Metropolen nach 1950, symbolisieren stellvertretend für viele andere London und Chicago: Beide zählen heute (2010) nicht mehr zu den 25 größten Megastädten der Erde, während Seoul, die bis 2000 zweitgrößte Stadt der Erde, noch 1940 nicht einmal unter den größten 40 Metropolen rangierte (Angaben ohne den im Jahre 2000 neu hinzugekommenen Ballungsraum Perlflussdelta – s. Kap. 2 & Kasten 6).
Als Ergebnis dieses historisch so kurzen Prozesses ist die Metropolisierung – hier zunächst nur im demographischen Sinne verstanden – heute zu einem weltumspannenden Phänomen geworden. 100 der 132 Staaten mit über 3 Mio. Einw., die über 99 % der Weltbevölkerung (2010) repräsentieren, weisen zumindest eine Millionenstadt auf; in 81 dieser Länder lebt zumindest bereits jeder zehnte Bewohner in einer Metropole (s. These 5).
Demgegenüber kann man im Falle der Megastädte (> 5 Mio. Einw.) bzw. von einer Megapolisierung demographisch bis heute nur in eingeschränktem Sinne von einem weltweiten Phänomen sprechen. Immerhin wurden bis 2010 bereits 30 Staaten mit zusammen 53 Megastädten hiervon erfasst; nur 50 Jahre zuvor hatten lediglich deren fünf existiert: Tokyo, New York, London, Paris und Shanghai.
Alle diese Prozesse sind nicht zu erklären aus der Bevölkerungszunahme der Stadt, wie sie um 1800, ja auch um 1900 bestanden hat. Das exorbitante Großstadtwachstum des 19. und (weit mehr noch) des 20. Jh.s konnte nur aufgrund von Verlagerungen der Bevölkerung und Funktionen aus der (eigentlichen) Stadt, der „Kernstadt“ in das „Umland“ erfolgen, ein Prozess, der eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Umstrukturierung des gesamtstädtischen Siedlungsgefüges zur Folge hatte (s. These 6).
Ohne Zweifel stellt bereits die demographische Dominanz der Metropolen und der Megastädte, noch dazu durch ihre für die „Dritte“-Welt-Länder so charakteristische Dynamik, ein ganz wesentliches Raumstrukturelement dieser Länder dar.
Tab. 1: Wachstum der größten Megastädte (> 10 Mio. E.) 1900–2010
Die bloße Bevölkerungszahl kann jedoch kein alleiniges Kriterium für die metropolitane Bedeutung einer Stadt sein. Im Hinblick auf die Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik der Länder der „Dritten“ Welt eindeutig gravierender ist die zweite wesentliche Komponente, die gegenüber der demographischen Primacy noch ungleich ausgeprägtere funktionale Dominanz der Metropolen. Mit dieser als funktionale Primacy (Bronger 1984) bezeichneten hegemonialen Stellung ist der entscheidende Aspekt des Phänomens „Metropolisierung“ bzw. „Megapolisierung“ formuliert (s. These 7).
Dieser Befund mündet ein in zentrale Fragestellungen nicht nur für die Metropolisierungsforschung, sondern darüber hinaus für die Regionalforschung, aber auch für die Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik: Welche Rolle spielen die Metropole und die Metropolisierung im Entwicklungsprozess eines Staates? Fördern sie die Entwicklung der übrigen Landesteile oder wirken sie eher entwicklungshemmend (These 8)? Bei der Beantwortung dieser – im Hinblick auf die Position dieser Städte für die Landesplanung und -politik sicherlich entscheidenden – Fragen ist mit einzubeziehen, dass die Großstädte, erst recht die Megastädte (überall auf) der Erde die Gesellschaft in besonderer Weise polarisieren. Mit dieser Feststellung sind das Ausmaß und die Dynamik der innerurbanen Disparitäten angesprochen. In einer Gegenüberstellung von Städten in Ländern unterschiedlichen Entwicklungsstandes soll dieser Frage am Beispiel von Chicago und Manila nachgegangen werden (s. These 9).
Ein weiterer wichtiger, erst in jüngerer Zeit in die wissenschaftliche Diskussion eingegangener Aspekt ist die Frage, ob nicht im Zuge der rasant zunehmenden Globalisierung der Weltwirtschaft mit ihrer weltweiten Vernetzung des Wirtschafts- und Finanzwesens (welches wiederum von einem Verbund vornehmlich in den Megastädten ansässigen transnationaler Großkonzerne und internationaler Finanzplätze dirigiert wird) zu Beginn des 21. Jh.s funktional bereits von einer Megapolisierung der Erde gesprochen werden kann (s. These 10).
Dieser Gedanke macht einen kurzen historischen Rückblick notwendig: Sind Global Cities als die Entscheidungs-, Steuerungs- und Kontrollzentralen der globalen Ökonomie und (zumeist gleichzeitig auch) der Politik wirklich erst eine Erscheinung der Neuzeit? War nicht im Altertum Rom als Hauptstadt eines sich über drei Kontinente erstreckenden Weltreiches bereits vor 2000 Jahren eine Weltstadt? Und trifft diese Einschätzung nicht auch weitere 600 Jahre früher für Babylon zu, wo doch insbesondere ihr wirtschaftlicher und kultureller Einfluss bis nach Ägypten und zum Indus reichte?
Tatsache ist, dass spätestens seit Mitte des 19. Jh.s Europa das Kraftzentrum der Erde war und dabei stets die großen Städte Ausgangspunkt der politischen und wirtschaftlichen Macht bildeten – tatsächlich rangierten London und Paris seit 1825 auch auf Platz 1 und 2 unter den Großstädten der Erde (s. Tab. 11). England und Frankreich hatten die halbe Welt unter sich aufgeteilt, und die beiden Großmetropolen waren die Hauptprofiteure, was noch heute am prächtigen Stadtbild der beiden „core cities“ abzulesen ist. Gegen Ende des 19. Jh.s gesellte sich Nordamerika als weiteres Kraftzentrum hinzu. Demographischer Ausdruck dieser beginnenden weltwirtschaftlichen Verschiebung (oder: Dekonzentration) war der kometenhafte Aufstieg von drei nordamerikanischen Städten unter die „Top Ten“ zu Beginn des 20. Jh.s. (s. Tab. 12). Noch bis zur Jahrhundertmitte scheint sich obige These von den Megastädten als Synonym für Prosperität und Macht zu bestätigen: Die „Großen Vier“, Tokyo, New York, London und Paris, hatten sich fest etabliert, Japan war als weiteres Kraftzentrum der Weltwirtschaft hinzugekommen. Heute haben sich jedoch die (demographischen) Größenordnungen radikal „zugunsten“ der „Dritte“-Welt-Länder verschoben. Aber: Entspricht ihre überragende funktionale Primacy auf nationaler Maßstabsebene einer solchen auf internationaler (globaler) Ebene? Die Fragestellung „Megastädte = Global Cities?“, vor allem aber die sich aus der Antwort ergebenden weltpolitischen Folgen werden diskutiert (s. These 11).
Der Einkommensabstand (BSP/Einw.) zwischen den zehn ärmsten und den zehn reichsten Ländern hat sich seit 1952 um das Zehnfache, von 1971 bis 2000 immerhin noch Fünffache vergrößert (Bronger 1999: 142; WEB 2002: 232f.). Dieses ausgeprägte Einkommensgefälle besteht jedoch nicht allein zwischen „Nord“ und „Süd“: „Die wirtschaftliche und soziale Polarisierung findet ihre extremste Form innerhalb der Megastädte: Wie unter einem Brennglas treten die Gegensätze hier in räumlich unmittelbarer Konzentration wie nirgendwo sonst am schärfsten zutage“ (Bronger 1996: 77f.).
Aber ist die These von der Megastadt als Synonym für kulturellen und sozialen Fortschritt, geistige Innovation, als wirtschaftlicher und politischer Dirigent Realität? Gibt es überhaupt die Megastadt? Entspricht „die Megastadt von USA bis Nigeria“ (so: Grigsby 1995) der Wirklichkeit? Diesem letztlich entscheidenden Aspekt, der Lebenssituation der Menschen in den Megastädten unterschiedlichen Entwicklungsstandes einschließlich ihrer Dynamik ist das letzte Kapitel gewidmet (s. These 12).