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Kapitel 5

Der zweite Juni 1790 versprach, ein schöner Frühsommertag zu werden. An einem wolkenlosen Himmel zeigten sich die Vorboten einer Morgenröte, die schon bald die Felder von Gut Weystedt in ein betörendes Blau tauchen würde – der Flachs stand in voller Blüte. Dazu wehte ein lauer Südwestwind, der das gute Wetter nach Paderborn trug. Als könnte er nicht abwarten, dass die Sonne endlich ihr Tageswerk aufnahm, schmetterte der Hahn ein leidenschaftliches ›Kiie-ker-iie-kiie‹. Auf sein Kommando begannen die Vögel, ihre Parts zu intonieren. Ein schläfriges Schnattern hier, ein zaghaftes Piepen da, dann schwangen sie sich zu einem vielstimmigen Crescendo empor.

Johannes liebte das Gezwitscher. Wie die milde Luft, die nach Rosenblüten und Lilien duftete. Nach Sommer. Er wischte seine Hände am taufeuchten Gras ab und zog die Hose hoch. Auf dem Weg zurück ins Bett bemerkte er eine Gestalt, die sich dem Haus näherte. Sie kam vom Wald und war vor dessen dunkler Kulisse noch nur ein Schattenriss.

Er duckte sich hinter den Rosenbusch.

Ein Dieb? – Er musste Vater wecken!

Da hörte er es: ein Hüsteln. Und zog nicht die Person das linke Bein ein wenig nach? Johannes fiel ein Stein vom Herzen: Das war sein Vater. Aber was hatte er nachts im Wald zu suchen? Und wieso trug er einen Sack?

Conrad stapfte über die Wiese mit den Obstbäumen. An den Sonnenblumen und Johannas Kräuterbeet vorbei ging er zum Schuppen. Er legte den Sack ab und nestelte an dem Schloss herum. Die Tür quietschte, und er sah sich verstohlen um.

Johannes zog den Kopf ein. Aber die Neugier siegte. Er trat hinter dem Busch hervor. »Gehst du schon aufs Feld, Vater?«

Conrad fuhr herum. »Johannes! Was hast du hier mitten in der Nacht zu suchen?«

»Ich musste mal.«

»Verschwinde, sonst …« Conrad hob die Hand – das tat er sonst nie.

Johannes war fast fünfzehn. Er hatte Respekt vor seinem Vater, aber keine Angst. »Was ist in dem Sack?«

Conrad ließ die Hand sinken. Er rang um Worte. Sein Gesicht nahm einen resignierten Ausdruck an. Er drehte seinem Sohn den Rücken zu und ging in den Schuppen.

Johannes ließ sich nicht lange bitten.

»Mach die Tür zu.«

Conrad entfachte eine von einem trüben Schirm eingefasste Lampe. Zu dem Geruch brennenden Öls tauchte sie den Raum in ein gelbes Schummerlicht. Johannes sah sich um. Ein Pflug, ein Dreschflegel. Die Schubkarre, der das Rad fehlte – sie gab es noch? An der Wand hing eine Sense. Noch mehr Werkzeug, für das im Haus kein Platz war.

Sein Vater griff in den Sack und holte zwei Hasen heraus. Es waren gewöhnliche Feldhasen, wie man sie auf Wiesen und Waldlichtungen und zu mancher Leute Verdruss auch in Gemüse- und Kräuterbeeten fand. Ohne ein Wort der Erklärung hängte er einen Kadaver an eine Hakenkette. Er zog sein Messer an einem Lederriemen ab und entfernte Kopf und Läufe. Ein Schnitt quer über den Rücken, ein Griff ins Fell, und die Decke ging ganz leicht vom Fleisch. Conrad brach den Kadaver auf und pulte die Eingeweide heraus, die mit einem schmatzenden Geräusch auf die Arbeitsfläche plumpsten. Zuletzt zerlegte er die Stücke und verstaute sie in einem Beutel.

Er wollte schon an den zweiten Hasen gehen, hielt dann aber inne und stemmte die Hände auf die Werkbank. Mit einem tiefen Seufzer entwich die Luft aus seinen Lungen, gefolgt von einem leisen Hüsteln. »Niemand darf davon erfahren, hörst du, Junge?«

»Ja, Vater.«

»Es ist strengstens verboten. Man kommt in den Kerker oder an den Schandpfahl.« Conrad drehte sich zu seinem Sohn um, und der Lampenschein zuckte über die Ringe unter seinen Augen. »Was ist, wenn ich es nicht tue? Was sollen wir essen? Das Schwein ist noch nicht fett genug. Vor Martini können wir es nicht schlachten. Das verstehst du doch?« Es klang bittend, beinahe flehentlich.

»Ja, Vater. Weiß es Mutter?«

»Sie hasst es.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Aber dann, wie aus heiterem Himmel, donnerte Conrads Faust auf die Werkbank – so heftig, dass etwas von dem Jagdabfall herunterfiel.

Johannes zuckte zusammen.

»Die hohen Herren schießen die Tiere zum Zeitvertreib, lassen sie im Wald verderben, während wir für sie schuften und hungern. Was sind das für Menschen? Sie treten uns mit Füßen, sehen auf uns herab von ihren goldenen Thronen. Das war schon immer so, und nichts wird sich daran ändern.« Conrad Bargfelds Stimme bebte. »Wenn wir uns nicht selbst helfen, verhungern wir. Aber nicht mit mir! Ich werde tun, was ich für richtig halte. Und nichts und niemand wird mich davon abhalten. Schon gar nicht die reichen Pinkel oder die gelackten Pfaffen.« Der Wutanfall war noch nicht vorbei. Die Verachtung, all die Bitterkeit, die in Conrad Bargfeld gor, quoll wie Eiter aus einer entzündeten Wunde. »Die Pfaffen predigen Demut und Bescheidenheit, aber halten sich selbst nicht daran. Sie haben immer Fleisch auf dem Tisch, ihre Krüge sind voll mit den edelsten Weinen. Verlogenes Pack!«

Johannes hielt den Atem an – wenn das jemand hörte! Er fühlte eine tiefe, nie erlebte Zuneigung. »Seit wann machst du das, Vater?«

»Seit langem.« Conrad brach den zweiten Hasen auf.

»Und was jagst du?«

»Hasen. Manchmal einen Fasan. Oder ein Reh. Hin und wieder ein Wildschwein.«

»Aber womit? Ich habe keinen Schuss gehört.«

Sein Vater wischte das Messer an seinem Rock ab und legte es beiseite. Er hob den Sack auf und nahm einen etwa eine Elle langen zylindrischen Behälter heraus. Darin verstaut war eine Armbrust. Sie maß etwa dreißig Zoll. Ihre Wurfarme waren zu einer gebauchten Säule beigeklappt, wodurch sie sehr kompakt war.

Conrad breitete die Wurfarme aus und fixierte sie, indem er Metallhülsen über die Gelenke zog. »Das ist eine besondere Waffe. Es gibt ganz wenige, die man einklappen kann. Ein Meisterwerk.«

»Von wem hast du sie?«, fragte Johannes.

»Mein Vater hat sie gemacht. Dein Großvater Gustav. Er ist kurz vor deiner Geburt am holländischen Fieber gestorben, wie du weißt. Sieh nur!« Am Ende der Säule war eine Backe, die das Anlegen erleichterte. In das unauffällig gemaserte Nussholz waren die Initialen ›G.B.‹ geritzt. »Willst du sie halten?«

Johannes wog die Waffe in den Händen. Sie war überraschend leicht. »Aber wieso eine Armbrust?«

»Sie ist so gut wie lautlos. Und trotzdem ist ihre Durchschlagskraft gewaltig. Mit einem einzigen Schuss kann man einen Hirsch erlegen.«

Johannes sah seinen Vater ungläubig an.

»Doch, mein Junge. Ein guter Schütze trifft auf fünfzig Schritt. Mit Übung schafft man zwei Schuss in der Minute, drei, wenn man sehr schnell ist. Glaube mir, für die Jagd ist das noch immer eine feine Waffe. Bloß erinnert sich niemand mehr daran.«

»Wie zielt man?«

»Hinter dem Bolzenhalter ist ein Visier. Man kann es aufklappen. Es geht ganz leicht.«

»Wann kann ich sie ausprobieren, Vater?«

»Nicht heute. Geh jetzt ins Haus! Und kein Wort zu Mutter, hörst du!«

»Ich habe etwas zu sagen.«

Conrad legte den Löffel aus der Hand. Endlich redete sie. Da musste die Milchsuppe warten.

Johannes sah seine Mutter an. Dieses Funkeln in ihren Augen – was bedeutete es? Eher nichts Gutes.

»Es ist gefährlich, dass Johannes es weiß. Das hatte ich nie gewollt, denn es bringt ihn in Gefahr. Und jetzt soll er dich auch noch begleiten.«

Conrad fragte sich, ob das Gespräch wieder im Streit enden würde. Er hasste das, war aber auch ihre ewigen Vorwürfe leid. Wie lange sollte das noch so gehen? »Johanna, bitte. Seit einer Woche …«

»Ich will nicht mehr streiten, Conrad«, unterbrach sie ihn. Ihr Ton hatte an Schärfe verloren. »Ich weiß, wie du dich mit deinem Bein quälst.«

Conrad starrte auf seine Hände, die wie zum Gebet gefaltet auf dem Tisch lagen. Wie oft hatte er den Krieg verflucht? Den Scheißkrieg, der sein Bein zerstört hatte! Der ihn zum Krüppel degradiert hatte. Das Zucken der Mundwinkel verriet seine Anspannung.

»Nimm ihn mit. Aber wehe, ihm passiert was.«

Sie streiften durch den Henckenbusch. Das auf der anderen Seite der Alme, östlich des Guts gelegene Waldstück war das Revier von Domdechant v. Canstein. Dort durften sie nicht sein. Schon gar nicht, um zu jagen. Aber sie taten es trotzdem, denn sie waren Wilderer.

Am Rande einer Lichtung hielten sie an. Conrad war ein erfahrener Jäger. Er warf einige Blätter hoch – sie mussten das Wild gegen die Brise aus Südost angehen, damit ihr Geruch sie nicht verriet.

Der Wind stand günstig.

Sie legten sich ins Gras. Das nasse Grün benetzte Johannes’ Gesicht und verscheuchte das letzte Fitzelchen Müdigkeit. Bald drang die Bodenfeuchte durch seine Kleider. Das störte ihn nicht. Es dämpfte die Aufregung.

Vorbei die Zeit der Übungsschüsse. Endlich war es soweit! Endlich durfte er zeigen, was er gelernt hatte. Und was er von Anfang an konnte – zu seines Vaters Erstaunen und zu seinem eigenen. Die Armbrust im Anschlag, einen zweiten Bolzen griffbereit, streifte er den Rand der Lichtung ab. Aber da war nichts.

Sein Nacken schmerzte. Er hob den Kopf. Ein, zwei Zoll nur, doch Conrad hieb ihn gleich unsanft in die Seite. Reumütig ging er wieder in Deckung.

Da – am südlichen Ende der Lichtung! Zweige knackten. Laub raschelte.

Dann wieder Stille. Nur der Wind flüsterte.

Johannes hörte seinen Herzschlag. Ob er die Tiere vertrieb? Ein schneller Blick nach links.

Sein Vater legte einen Finger auf die Lippen.

Plötzlich wechselte ein starker Bock auf die Lichtung. Ein herrliches Exemplar mit rostrotem Fell, einer weißen Blesse über der Nase und drei Sprossen an jeder Stange. Stünde der Wind günstig, könnte das Tier seine Jäger wittern, doch die Natur versagte ihm diesen Dienst. Damit verhängte sie sein Todesurteil. Der Bock senkte den Kopf und begann zu äsen.

Rauschen in den Ohren.

Vater nickte.

Die Schussbahn war frei, das Wild stand im perfekten Winkel auf fünfzig Schritt. Johannes hob die Armbrust. Er atmete flach, hielt die Luft an und zielte. Ohne Visier, wie immer. Er peilte das Ziel über den Schaft an.

Er streichelte die Abzugsstange.

Der Bolzen zischte los.

Als das todgeweihte Tier das auf sich zurasende Flugobjekt bemerkte, war es schon passiert. Das Geschoss schlug hinter dem Schulterblatt ein. Es zerstörte Herz, Lunge und Aorta. Der Bock bäumte sich auf und sprang mit gesenktem Haupt davon. Am Ende der Lichtung stieß er gegen einen Baum, brach zusammen und verendete.

Ein kurzer Todeskampf.

Conrad nickte – so war es gut.

Die Jäger liefen zu dem Kadaver. Der Bolzen war bis zur Befiederung eingedrungen. Er saß punktgenau.

Ein Meisterschuss.

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