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ОглавлениеKapitel 7
Carl Adrian v.d. Asseburg empfing für gewöhnlich keinen Besuch am Morgen. Der Geheimrat beliebte, lange zu schlafen – wenn es sein musste, allein, vorzugsweise aber am Busen eines seiner Dienstmädchen. Deren Qualifikationen im Haushalt interessierten ihn nur peripher, gab es doch genügend alte Jungfern, die sein Stadthaus im Schildern, einen Steinwurf vom Dom, in Schuss halten konnten. Er fand, es käme einem Verbrechen gleich, junge Dinger für derlei niedere Dienste zu verschwenden.
Als Neffe von Wilhelm Anton v.d. Asseburg, bis 1782 Fürstbischof von Paderborn, gehörte der Geheimrat einem verzweigten und unverschämt reichen Adelsgeschlecht an. Auch sein persönliches Vermögen war beachtlich und gestattete einen vergnüglichen Lebenswandel. Dazu passte, dass er in seiner Position als Dirigent der Landespolizei selten in Aktion treten musste. Lästige Dienstgeschäfte ließen sich im Allgemeinen delegieren. So hatte er Kraft für nächtliche Streifzüge, die ihn in die ›Weiße Lilie‹ oder den ›Cöllnischen Hof‹ am Marienplatz führten. Dort labte er sich an bestem Wein und ging auf Tuchfühlung mit der holden Weiblichkeit.
Am Morgen des siebten Oktobers 1792, einem Sonntag, riss ihn ein Hämmern aus süßen Träumen – pures Gift für seinen Brummschädel! Er vergrub sein geplagtes Haupt unter einem Satinkissen, doch der Krach hörte nicht auf. Jemand klopfte mit gemeiner Beharrlichkeit gegen die Tür seines Schlafgemachs.
Der Geheimrat hockte sich auf die Bettkante, erbrach in den Nachttopf und stützte den Kopf in die Hände. »Ruhe verdammt, ich komme ja schon!«
Endlich verstummte das Klopfen.
Er quälte sich hoch und stand. Ziemlich wackelig zwar, aber immerhin. So blieb er, bis sich der Schwindel legte. Er zog einen seidenen Schlafrock über, schlüpfte in seine Pantoffeln und betrachtete sich im Spiegel. Trotz der schweren Bürde, die ihm der Alkohol an diesem Morgen auferlegte, sah er im Prinzip gut aus, fand er. Nicht gerade taufrisch, aber immer noch gut. Nur die Lockenröllchen saßen nicht. Das Kopfkissen war schonungslos. Es hatte die vornehmen Kringel malträtiert wie ein Plätteisen. Nicht einmal seine Perücke konnte ihn retten; die Lockenpracht wartete darauf, gepudert zu werden.
Er schlurfte zur Tür, bereit die freche Göre über das Knie zu legen, die es gewagt hatte, ihn in seiner Morgenruhe zu inkommodieren. Bei dem Gedanken an den delikaten Anblick ihres Hinterteils besserte sich seine Laune, und er drückte die Klinke mit neuem Elan.
Kaum war die Tür auf, wich seine Vorfreude frostiger Ernüchterung. Nicht Anna, die goldblonde Magd, präsentierte sich mit holdem Unschuldsblick, sondern Ludwig v. Hashagen. Jener Ludwig, der stets aussah wie ein schlecht gelaunter Bär. Heute ganz besonders.
Und Meister Petz kam unverzüglich zur Sache. »Zieh dich an, Carl! Du musst mir helfen!«
Der Geheimrat kämpfte mit einem Schluckauf. Er wollte sich empören, aber etwas in der Miene des Mannes, der ihn einst durchs Studium manövriert hatte, verriet, dass nicht der richtige Zeitpunkt für Prinzipienreiterei war. Der Überfall musste einen triftigen Grund haben. »Wie wäre es mit ›Guten Morgen‹? Und was willst du mitten in der Nacht?«
Der Oberforstmeister rümpfte die Nase wegen der Fahne, die ihm Carl Adrian entgegenschleuderte. »Jakob ist tot.
Tot, verstehst du?« Seine Stimme schwoll an. »Ermordet. Heute Nacht. Wir wissen, wer es war. Müssen ihn schnappen, bevor er über alle Berge ist.«
Ob des verbalen Gewitters wich der Geheimrat einen Schritt zurück. Hatte er das richtig verstanden? Oder spielte ihm der Alkohol einen Streich? Aber nein – da stand Ludwig. Mit Leib und Seele und einem Ausdruck im Gesicht, wie er ihn bei dem alten Knaben noch nie gesehen hatte. Mit einem Schlag war er wach. »Grundgütiger! Jakob? Was ist geschehen?«
»Wir waren auf Patrouille, um den gottverdammten Wilderer zu schnappen. Erwischen ihn auf frischer Tat. Jakob ist am schnellsten. Er legt auf ihn an. Doch der Teufel zückt eine Armbrust und … oh Gott …« Die Stimme des Oberforstmeisters versagte. Mit einem Ärmel seines Jagdrocks strich er sich durchs Gesicht. »Dieser Bargfeldbengel. Einer von Weystedts Leuten.«
Carl Adrian konnte nicht glauben, was er hörte. »Er hat was gezückt?«
»Eine Armbrust. Eine gottverdammte Armbrust. Jakob ging mit einem Pfeil im Kopf zu Boden. Das Ding … es steckt noch in seiner Stirn«, sagte der Oberforstmeister. »Wir waren ihm auf den Fersen, aber der Mistkerl hat uns abgeschüttelt. Er hockt irgendwo im Wald. Du musst mir helfen, Carl! Das bist du mir schuldig.«
Der Geheimrat war wie vom Donner gerührt. Jakob war kein Unschuldslamm, ganz gewiss nicht, aber dass man ihn kaltblütig ermordet hatte – furchtbar! Und dann auch noch auf so barbarische Weise. »Selbstverständlich, Ludwig. Du kannst auf mich zählen. Hast du mit v. Weystedt geredet? Und habt ihr die Familie in die Mangel genommen?«
»Ja, natürlich. Wir haben dem Pack Feuer gemacht, aber nichts aus ihnen rausgekriegt. Sie schwören Stein und Bein, sie wissen nicht, wo ihr Bastard steckt.«
»Wir kriegen ihn. Keine Sorge. Wir knöpfen uns die Sippe noch mal vor. Ach, und mein herzlichstes Beileid.«
Ludwig v. Hashagen schnäuzte sich. »Gut. Ich gehe wieder, um Jakobs Leiche zu … er muss vorzeigbar werden. Bitte lass mich nicht im Stich.«
»Natürlich nicht.« Carl Adrian begleitete Ludwig zur Tür und reichte ihm die Hand. Er schlurfte zurück ins Arbeitszimmer, fiel in seinen Lieblingsfauteuil und betrachtete die Stuckrosetten an der Decke. Wie schön sie doch waren! Er seufzte und läutete nach Anna, der goldblonden Magd mit den hübschen Titten.
Johanna hob den Kopf – soweit es die Schnüre erlaubten, die tief ins Fleisch schnitten. Sie wollte zeigen, dass sie stark war, den Blicken standhielt. Blicken, die nach einem Zeichen von Schwäche forschten, nach Signalen des Zusammenbruchs. Sie schwor sich, tapfer zu sein, der Meute nicht den Gefallen zu tun und zu klagen. Trotz der Demütigungen – man hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen, um ihren Stolz zu brechen, und sie an den Schandpfahl vor dem Brunnen gebunden, um den sich die v. Weystedtschen Kotten in einem Halbkreis gruppierten.
Sie stöhnte nicht.
Kein Laut kam über ihre Lippen.
Mitleid hatte niemand. Die Ereignisse der Nacht hatten sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, nun wollte man sehen, wie es der Bargfeldhure, aus deren Leib der Mörder stammte, an den Kragen ging. Das Heuerlingsdorf glich einem Bienenhaus, in dem nach Zerstreuung gierende Menschen durcheinander wuselten, sich drängelten und reckten, um etwas von dem Schauspiel zu sehen.
Drei vorwitzige Jungen mit erhitzten Gesichtern hatten die besten Plätze. Sie hockten auf dem Hühnerstall. Einer richtete sich auf: Anton, der Sohn von Wilhelm Breitenbach, dem Stellmacher. Er warf etwas in Richtung der Gefesselten. Entweder war der Lausebengel ein begnadeter Werfer oder ein Riesenglückspilz, denn er traf genau ihre Brust. ›Platsch‹ machte es, als das faule Ei platzte, und sich die stinkende Masse unter großem Beifall und lautem Gejohle über Johanna Bargfelds Körper ergoss.
Nach diesem Vorspiel betrat der Zeremonienmeister die Bühne. In seiner Rechten glitzerte ein Messer. Er kam Johanna so nahe, dass seine Gürtelschnalle ihren Bauch berührte. Ein kleiner Ritzer und ein Faden Blut lief an ihrer Wange herunter.
Alles an ihm war zum Fürchten: die Selbstsicherheit, mit der er durch die Arena stolzierte, die Nonchalance, die die Gaffer in den Bann zog. Das süffisante Lächeln. Der hellgraue Mantel, den er trotz der Wärme trug. Sein schlechter Atem. Vor allem aber sein Aussehen. Falls er Haare hatte, verbarg er sie unter einem Hut, den er in das bartstoppellose Gesicht gezogen hatte. Seine Haut war glatt und blass wie straff aufgezogenes Pergament, und durch die fadendünnen Lippen schien kaum Blut zu fließen. Dafür war im rechten Auge, neben der eisgrauen Iris, ein roter Fleck.
Er rammte Johanna ein Knie in den Unterleib. Ein harter, geübter Stoß.
Sie hing in ihren Fesseln und japste.
Eine blitzschnelle Bewegung brachte ihr einen Schnitt bei, der vom linken Lid über die Nase zum rechten Mundwinkel verlief. Blut sickerte aus der Wunde, die sie für immer entstellen und auch die letzte Ahnung ihrer verblühten Schönheit ausradieren würde.
In Johannas Kehle formte sich ein Schrei. Sie schluckte ihn herunter. Sie war stark.
Die ehrbaren Leute aus Wewer hielten den Atem an. Einige bekreuzigten sich. Kinder sahen zu ihren Müttern auf. Eine knisternde Spannung lag in der Luft. Sogar Tölpel, die ewig kläffende Promenadenmischung der Schönbecks, gab Ruhe. Nur die Hühner gackerten unverdrossen weiter.
»Raus mit der Sprache! Wo ist dein Sohn?«, brüllte Ludwig v. Hashagen. »Wo ist der Teufel?«
Johanna brachte keinen Ton heraus wegen des Leders an ihrem Hals. Sie röchelte.
Der Oberforstmeister zog an dem Riemen, damit er nicht mehr so hart auf den Kehlkopf drückte. »Wo ist er, Satansfotze?«
»Ich … ich … weiß es nicht.«
V. Hashagen ging zu Conrad, der in einer Lache aus Blut und Erbrochenem lag. Er trat ihm ins Gesicht. Nase und Oberkiefer brachen mit einem grässlichen Knacken.
Johanna gewährte dem Mob nicht mehr als ein unspektakuläres Ächzen.
Die Leute antworteten mit ›Ahs‹ und ›Ohs‹.
Der Oberforstmeister drehte sich zu seinem Freund um, aber der Geheimrat verfolgte die Szene mit verschränkten Armen. Er machte nicht die geringsten Anstalten, irgendetwas zu unternehmen. Es war nicht seine Art, sich die Hände schmutzig zu machen. Dafür gab es Spezialisten.
Der Mann im grauen Mantel übernahm wieder. Er betrachtete sein Werk. Wie ein Maler, der mit etwas Abstand zur Staffelei jeden noch so kleinen Makel sucht, irgendeine Unvollkommenheit, ruhten seine Augen auf der Gefesselten. Er genoss den Augenblick. Dass sich alle Augen auf ihn, den Maestro, richteten. Dass sich jeder fragte, welchen Pinselstrich er als Nächstes anbringen würde. Und er allein die Antwort kannte und verstand, welche Nuancen fehlten für ein vollkommenes Arrangement. Er schlug Johanna ins Gesicht und riss an ihren Haaren. Alle sollten sehen, wie der rote Lebenssaft aus ihrer gebrochenen Nase pulsierte.
Das Publikum goutierte es.
Der Meister ließ die Haare los, und Johannas Kopf kippte nach vorn. Eine Strähne strich Blut über Kinn und Lippen. Mit durchgestrecktem Rücken, das Kinn angehoben, umkreiste er den Schandpfahl. »Hübsch bist du, Teuerste«, flötete er. »Ach, so hübsch.« Verbale Interaktion war wichtig. Sie schuf eine Verbindung zwischen Künstler und Werkstück und erhöhte die Dramatik.
Ganz Wewer hing an seinen Lippen.
»Wie sie dich angaffen, die Lüstlinge. Du bist ja fast nackt. Ich wette, sie würden dich am liebsten … na, lassen wir das. Es sind Frauen und Kinder anwesend.«
Als niemand damit rechnete, hieb er seinen Dolch in Johannas Arm. Der Stich durchtrennte die Bizepssehne und zerstörte den Muskel.
Bevor Johanna schreien konnte, spielte ihr Körper seinen letzten Trumpf aus: Sie verlor das Bewusstsein.
Ende der Präsentation.
Die Mundwinkel des Meisters zuckten. Wenige Sekunden später gefror sein Gesicht wieder zur Maske. Er hielt der Frau den Dolch an die Kehle und sah sich zu seinen Auftraggebern um.
Atemlose Stille.
›Töte sie!‹ ›Los, stich die Bargfeldschlampe ab!‹ ›Die Ketzerin hat es nicht besser verdient!‹
Anton Breitenbach verlor das Gleichgewicht. Zu seinem Glück landete er in einem Misthaufen.
Tölpel kläffte.
Alles gierte nach dem Höhepunkt.
Da trat der Geheimrat vor. »Wir sind hier fertig. Schafft sie in die Stadt, und legt sie in Ketten, bis sie etwas ausspucken.«
Die Menge grummelte. Man hatte sich mehr erhofft.
Carl Adrian warf einen genervten Blick auf seine Uhr. Er winkte den Soldaten herbei, der sein Pferd hielt. Höchste Zeit für die schönen Dinge des Lebens.
Anna, die goldblonde Magd, wartete.