Читать книгу Im Westen ist Amerika - Dirk Möller - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Stiefelgetrampel. – Der blonde Junge fuhr herum.
Ein greller Blitz zuckte durch seinen Schädel. Er entfesselte eine Fontäne Blut, die aus der Nase schoss. Roter Nebel zog auf.
Der Sommersprossige warf ihn gegen die Mauer. Pickelgesichts Knie rammte in seine Magengrube. Der blonde Junge ging zu Boden, krümmte sich. Ein Stiefel krachte gegen sein Kinn. Er schmeckte Eisenspäne.
Er wollte sich aufrappeln, aber Jakob war schon über ihm. »Na warte, dir werd’ ich’s zeigen. Kommst in die Stadt, um zu klauen, hä?« Die engstehenden Wildschweinaugen des Fettwansts funkelten. Er spie dem blonden Jungen ins Gesicht, eine Faust donnerte hinterher. Dann packte er den blonden Schopf und hämmerte ihn auf den Kopfstein. »Dreckiger Bastard!« Aus Jakobs Mund lief Speichel. Und wieder knallte der Kopf auf den Boden – mit einem Geräusch, als zerbräche ein Ei.
Jakob sah sich zu seinen Kumpanen um. Das Unbehagen in ihren Gesichtern stachelte ihn noch an. Dass sich sein Opfer nicht mehr rührte, registrierte er nicht. In ihm war nur noch wilde Raserei. Er holte aus.
»Es reicht, Jakob!« Pickelgesicht ging im letzten Moment dazwischen. »Der Bastard hat genug.«
Jakob blitzte ihn an. Widerworte waren ihm fremd. Seine Faust stand in der Luft – er ließ sie sinken. »Halts Maul! Mach dich lieber nützlich und filze ihn!«
Pickelgesicht parierte. »Kein Heller«, meldete er nach ergebnisloser Suche.
»Hä? Alle sagen, er hat der ollen Piepenbrink den Geldbeutel geklaut. Bis du blöde?«
Pickelgesicht lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber der Blick des Sommersprossigen war Warnung genug. Mit Jakob war nicht zu spaßen. Mit seinem Vater, dem Oberforstmeister des Niederwaldischen Distrikts, erst recht nicht.
»Scheiße! Muss ich alles allein machen?«, schimpfte Jakob weiter. Aber auch er fand nichts. »Das Lumpenpack ist gerissen. Er hat das Geld versteckt. Garantiert.«
»Und jetzt?«, fragte der Picklige. »Dem sind die Lichter ausgegangen, wette, der wacht so schnell nicht auf.«
»Lasst uns abhauen«, sagte der Sommersprossige. »Der krepiert vielleicht.«
Jakob wischte sich den Rotz aus dem Gesicht.
»Wenn er abkratzt, möchte ich nicht in der Nähe sein«, insistierte Sommersprosse.
»Na gut, weg mit ihm.«
Die Flügel der Dielentür knarzten. Ein Mann betrat das Haus. Der rauchige Muff kitzelte in seiner Kehle, und er musste husten. Er räusperte sich und spuckte Schleim, der die Farbe des Lehms hatte, auf dem er landete.
»Es ist spät«, begrüßte ihn seine Frau mit einem matten Lächeln. Dass der Husten ihres Gatten gar nicht aufhören wollte und so hässlich rasselte, vertrieb das Lächeln von ihrem Gesicht – ein schmales Gesicht mit einer schlanken Nase, dunklen Augenbrauen und hohen Wangenknochen, das einmal schön war und zu dem langen Hals und den zierlichen Schultern passte. Aber das Leben in Paderborn war hart und ließ Anmut schnell verblühen, und so hatten sich in das Antlitz Falten gegraben, die eine Sechsunddreißigjährige nicht haben sollte. Mit dem Grau ihrer zu einem Knoten gebundenen Haare und den schlaff herabhängenden Mundwinkeln zeichneten sie das Bild einer vom Leben enttäuschten Frau.
Johanna legte das Hemd, das sie gerade flickte, beiseite. Sie hängte den Kessel ein paar Kerben tiefer über das Feuer und rührte in der Suppe. In der klaren Brühe schwammen ein Streifen Schwarte und glibberige Fleischbrocken. Sie produzierten riesige Fettaugen.
Conrads Holzschuhe kratzten über den Dielenboden. Er hüstelte. Beim Feuer war die Luft noch schlechter, da sich dort der Rauch staute und schwerfällig über den Dachboden abzog. Er tätschelte seine Frau am Arm und schlurfte gleich weiter in die Stube. Die Eichenbohlen ächzten, als er auf einen Stuhl sackte. Er zog den anderen heran und legte sein lädiertes Bein auf die Sitzfläche. Keine Minute später fielen ihm die Augen zu.
»Conrad, das Essen ist fertig.« Johanna rüttelte ihren Mann an der Schulter. Sie setzte ihm einen Teller Suppe und einen Becher Milch vor und stellte eine Lampe daneben. Von der Funzel ging ein ranziger Geruch aus, der sie jedes Mal ärgerte. Ob sie sich mal eine von den schönen Bienenwachskerzen aus ihrer eisernen Reserve gönnen durfte? – Conrad wäre bestimmt dagegen.
Dieser hob den Kopf und rieb sich die Augen. Er fing an zu löffeln. So hastig, dass etwas Suppe aus den Mundwinkeln über das Kinn rann und auf sein Hemd tropfte.
Draußen war es fast ganz dunkel. Das Schummerlicht im Haus schuf eine beklemmende Atmosphäre, in der die Eheleute Bargfeld kein Wort wechselten. Abgesehen von Conrads Schlürfen und einem gelegentlichen Rascheln, wenn der Wind durch die Dachritzen fuhr und mit dem Heu in den Hillen spielte, herrschte Stille.
Als der Teller leer war, leckte ihn Conrad ab. Er wischte mit einem Ärmel über den Mund und rülpste.
»Möchtest du mehr?«
Conrad dachte an die Mettwürste, die über dem Feuer im Rauch baumelten – unter einem Drahtkorb, damit die Mäuse und Ratten nicht an sie herankamen. Aber er schüttelte den Kopf, denn sie waren kostbar. »Was hast du gemacht?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen.
»Ausraufen, was sonst? Du doch auch.«
»Hm.« Conrads Augen wurden kleiner. Er war kurz davor, wieder einzunicken.
»Johannes ist noch nicht da. Der Herr hat ihn in die Stadt geschickt. Post austragen, glaube ich.«
»Hast du die Kuh gemolken?«
Johanna nickte. »Er kennt sich in der Stadt nicht aus.«
Conrad wischte ihre Besorgnis mit einer Handbewegung weg. »Ach was, der Junge ist siebzehn, kein Kind mehr. Der wird schon kommen. Hauptsache, er ist pünktlich auf dem Feld. Sonst gibts ein Donnerwetter.«
Es regnete nicht mehr, war aber kühl. Wolken jagten über das Firmament, an dem ein Hauch Dunkelblau an den Tag erinnerte. Immer wieder verdeckten sie den Halbmond.
Was war geschehen? – Er konnte sich nicht richtig erinnern. Ein paar Bruchstücke, ein paar lose Enden, mehr förderte sein Hirn, das im Schneckentempo arbeitete, nicht zutage. Konkret waren einzig die Schmerzen. Immer wieder brandeten sie heran und schlugen über ihm zusammen. Am schlimmsten war das scharfe Stechen, das von den Wangenknochen ausging und über die Nase, die sich wie Haferbrei anfühlte, in die Stirn zog.
Er wollte aufstehen, aber etwas pikste sein Gesicht, und er zuckte zusammen. Überall Blätter und stachelige Zweige, die er zur Seite bog, bevor er es wieder probierte. Im Stehen traf ihn das Wummern in seinem Kopf mit voller Wucht. Er erbrach so heftig, dass er Sterne sah.
Allmählich ließ der Schwindel nach. Er versuchte, sich zu orientieren: Büsche und hohes Gras. Tintenschwarze Pfützen, die der Wind kräuselte. Weiter hinten reflektierte der Sandstein der Stadtmauer das Mondlicht, darüber ragten in konturlosem Einheitsgrau die Dächer der Südstadt. Ganz rechts fiel der Widerschein der Fackeln am Spiringstor auf den düsteren Klotz des ehemaligen Wachturms, und in der anderen Richtung flackerten die immer brennenden Opferkerzen der Libori-Kapelle.
Man hatte ihn in den Stadtgraben geworfen.
Der war gefährlich, besonders nachts. Tollwütige Hunde streunten herum, suchten nach Abfällen. Nach irgendetwas Fressbarem. Er musste weg. Sofort.
Schritt für Schritt schleppte er sich vorwärts. Ein Schafskopf lag im Weg, er rutschte aus, schlug hin. Der Matsch stank nach Fäkalien. Er streifte den Kot an seiner Hose ab und stand wieder auf.
Nach Süden stieg die Senke an. Sie endete an einer Allee aus Kastanien und Pappeln. Ein smaragdgrünes Augenpaar huschte über die mit Schotter ausgelegte Promenade, die zwischen den Bäumen verlief. Ein Hund heulte den Mond an. Ein anderer stimmte ein. Ihr Klagen erfüllte die Nacht.
Johanna starrte die Decke an. Sie konnte nicht schlafen. Nicht, weil Conrad schnarchte, dass sich die Balken bogen. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. Sie machte sich Sorgen, denn Johannes war nicht da. Endlich raffte sie sich auf und schlug die Decke zurück. Sie kletterte über ihren Ehemann und tapste barfuß in die Diele.
Die Rotbraune schien auch der Meinung zu sein, dass etwas nicht stimmte. Das sonst so gemütliche Tier stampfte auf der Stelle und scheuerte sich an der Wand. Es wusste, dass der Bettkasten über dem Stall leer war.
Draußen blökte ein Schaf, und der Westwind fegte durch die Obstbäume. Johanna spürte den Luftzug an ihren nackten Beinen. Sie öffnete einen Flügel der Dielentür und erschrak: Eine kaninchengroße Ratte streifte ihre Wade.
Als die nur mit einem Nachthemd bekleidete Frau vor die Tür trat, umfing sie Finsternis. Alles schlief, einzig eine Fledermaus, die unter dem vorkragenden Dachgiebel gehangen hatte, flatterte herum. Johanna wartete, bis das Tier im Nachthimmel entschwunden war und machte sich auf den Weg. Die gemeinschaftlich genutzte Backstube, aus der es noch nach dem vor zwei Tagen gebackenen Roggenvollkornbrot duftete, ließ sie ebenso rechts liegen wie den Hühnerstall. Das Schweinegehege stank wie eh und je, deshalb grenzte es an die Alme.
Auf einer Holzbrücke gelangte sie auf die andere Seite des Flusses, wo sie dem Fuhrweg folgte, der vom Oberen Hof in Nordborchen über Wewer nach Paderborn führte. Von den Pferdegespannen und Ochsenkarren zerfurcht, die Feldfrüchte in die Hauptstadt brachten, noch dazu vom Regen aufgeweicht, war der Boden wie Schmierseife. Sie glitt einige Male aus. Bei der Kreuzung mit dem Hellweg hielt sie sich rechts, und endlich schälte sich der Kirchturm von Wewer aus dem Dunkel. Sie ging noch ein paar Schritte weiter, um bei der als Allmende genutzten Gemeindeweide stehenzubleiben. Das Dorf war jetzt ganz nah.
Sie zögerte. Sähe man sie barfuß und im Nachthemd auf der Straße, wären ihr Hohn und Spott gewiss. Aber die Sorge um Johannes war stärker. Sie schüttelte den Gedanken ab und ging weiter.
Wenige Schritte später blieb sie wieder stehen und spähte in die Dunkelheit. Aber da war nichts. Nur die Nacht, die wie ein nasser Lappen über dem Land lag. Sie sog die nach Regen und Kuhdung riechende Luft ein und schmeckte die Tränen, die über ihre Wangen rannen.
Warum nur ist es so dunkel, wer hat den Mond entführt?
Endlich zog das Wolkenband vorüber, das sich minutenlang vor den milchig-blassen Halbkreis geschoben hatte, und die Sicht wurde etwas besser. Sie kniff die Augen zusammen. Lag da etwas auf dem Weg? Ladung, die ein Wagen verloren hatte? Ein Fuchs, der unter die Räder gekommen war?
Oder aber … Ihre Beine produzierten Schritte. Erst ganz langsam und mechanisch. Dann schneller, immer schneller. Schließlich rannte sie wie vom Teufel gejagt. Der Matsch spritzte in alle Richtungen, sprenkelte ihr Hemd und das Gesicht, aber das spürte sie nicht.
Dann war sie da und hatte Gewissheit: Es war Johannes. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen – sie schlug die Hände vors Gesicht, unterdrückte einen Schrei. Aber er atmete. Schnell und flach. Seine Stirn glühte.
Wewer war nah. Doch die Leute schliefen, und wer würde ihr helfen, ausgerechnet ihr, der ›Scheißbargfeldhure‹?
Nein, sie musste es allein schaffen.
»Conrad … ein Unglück … Johannes!« Johanna rüttelte ihren Mann an der Schulter.
Der grunzte mürrisch und drehte sich um.
Da platzte ihr der Kragen. »Los, aufstehen! Sofort!« Sie verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
Das wirkte. »Bist du verrückt geworden, Weib?«
»Johannes … er ist verletzt.«
Bis Conrad kapierte, dauerte es einen Moment, der Johanna wie eine Ewigkeit vorkam. Dann aber sah er die Erschöpfung und Verzweiflung in ihrem Gesicht, schleuderte das Oberbett weg und eilte in das Flett. Dort saß Johannes in eine Decke gehüllt am Feuer. Er zitterte, und sein Gesicht war wachsbleich. »Meine Güte, Junge!« Plötzlich war Conrad wie verwandelt. »Warmes Wasser. Tücher. Schnell, Johanna!«
Johanna eilte los.
Bald kehrte sie mit einem Krug Heißwasser und frischen Laken zurück, und sie säuberten und verbanden die Wunden. Sie packten Johannes in die wärmsten Decken, die im Haus waren, doch seine Zähne klapperten immer noch.
»Ein Backstein. Leg einen Backstein ins Feuer!«
Johanna tat wie ihr geheißen.
Der Stein wurde schnell warm. Sie stellten Johannes’ Füße darauf, und endlich hörte der Schüttelfrost auf. Johanna flößte dem Jungen eine Unze Laudanum ein, und er fiel in einen unruhigen Dämmerschlaf.