Читать книгу Im Westen ist Amerika - Dirk Möller - Страница 14
ОглавлениеKapitel 9
Johannes sprang von der Ladefläche des Erntewagens. Er schob einen Türflügel auf und lugte durch den Schlitz. Es dämmerte – endlich. Der gnadenlose Feuerball verzog sich und machte der Nacht Platz, der Komplizin aller Verfolgten. Höchste Zeit zu verschwinden, denn die Scheuer taugte nicht als Versteck. Sie gehörte zu Tiedemeyers Hof, einem Meierhof in Salzkotten, und stand am Rande eines abgeernteten Roggenfeldes. Allein auf weiter Flur und einen Steinwurf vom Wewerschen Samtholz entfernt lud sie geradezu zu einer Durchsuchung ein. Aber außer ein paar Krähen, die über die blassgelben Roggenstängel hüpften, um aus den Ähren gefallene Körner zu picken oder Regenwürmer aus der vom Regen getränkten Erde zu ziehen, hatte sich niemand blicken lassen.
Trotz des abgeklungenen Gewitters war die Luft schmierig feucht. Im Osten türmten sich Wolken – Vorboten des nächsten Regens. Irgendwo dort musste das Gebirge sein, vor dem Antonius Kalhof, der Schulmeister, der eigentlich Küster war, mit bebender Stimme gewarnt hatte. Das er als die unwirtlichste und gottloseste aller Gegenden bezeichnet hatte. Wohin kein braver Mann ging.
Ludwig v. Hashagen befand sich in einem hochlabilen Zustand. Er pendelte zwischen ungezügelter Wut, die sich in eruptiven Tobsuchtsanfällen entlud, und tiefer Trauer, die er mit geradezu irrationalem Aktionismus zu bekämpfen suchte. Nachdem sie gegen Nachmittag nur mit der Leiche von Tobias zurückgekehrt waren, ließ er das ganze Dorf auf dem Kirchplatz zusammenrufen.
Wewer zählte an die siebenhundert Seelen, und es dauerte zwei Stunden, bis alle angetreten waren. Nun warteten sie, und man konnte an ihren schmalen Gesichtern ablesen, wie unwohl ihnen zumute war.
Der wuchtige, Wehrhaftigkeit demonstrierende Turm der Kirche St. Johannes Baptist, unter dem sich die Leute versammelt hatten, war die richtige Kulisse für die donnernde Ansprache, die Ludwig v. Hashagen folgen ließ. »Männer und Frauen aus Wewer, Johannes Bargfeld hat zwei Menschen auf dem Gewissen. Meinen Sohn Jakob und Tobias, den wir alle schätzen … äh … den ihr alle kennt.« Wie sollte man den tragischen Tod des allseits gemiedenen, furchtbar stinkenden Gerbersohns in pietätvolle Worte kleiden? Vielleicht war es besser, gleich auf den Punkt zu kommen. »So hört gut zu: Wer dem Mörder Unterschlupf gewährt, wird im Kerker verrotten bis ans Ende seiner Tage. Wer etwas verheimlicht, das zu seiner Ergreifung dienlich sein könnte, dem blüht das Gleiche.«
Die schmalen Gesichter wurden noch schmaler.
Der Oberforstmeister war noch nicht fertig. »Vierzig Silbertaler aber für den, der einen entscheidenden Hinweis liefert. Und eine gesunde Kuh.«
Das saß. Ein Murmeln ging durch die Reihen.
Vierzig Taler. Mehr als der doppelte Jahresverdienst eines Großknechts. Etwa das Dreifache, das eine Magd bekam. Dazu eine Milchkuh, die allein zehn Taler wert war. Vielleicht zwölf. Ludwig v. Hashagen hatte soeben ein kleines Vermögen ausgelobt.
Immer zwei Mann. Immer hundert Schritt in entgegengesetzte Richtungen. Zackig und synchron. Dann machten sie kehrt und trafen sich bei der Kontrollstation wieder, deren rotweiß gestreifter Schlagbaum den Hellweg überspannte.
Den verkniffenen Gesichtern der Soldaten war abzulesen, dass sie wenig begeistert waren, so spät Dienst zu schieben. Erst recht nicht bei dem Sauwetter. Der Regen peitschte über die Felder, und der Wind rüttelte an den Bäumen. Das nächste Gewitter brachte sich in Stellung.
Johannes wartete auf den richtigen Moment.
›Trapp, trapp – trapp, trapp – trapp, trapp‹, hämmerten die Stiefel auf das vor Urzeiten verlegte Pflaster und hielten wie von einem Metronom geleitet Takt. Ein Paar schwenkte nach links, das andere nach rechts, und schon drehten sie ihm den Rücken zu.
Der Soldat, der am Schlagbaum stand, beäugte seine Stiefel. Oder schlief er im Stehen?
Es war ein Kinderspiel, die Straße zu überqueren.
»Ich will mehr Kontrollen. An allen Kreuzungen. Und in allen Ämtern«, fauchte Ludwig v. Hashagen. Seine Wut näherte sich dem Siedepunkt, was nicht zuletzt an der verunglückten Aktion in Wewer lag. Trotz der himmelhohen Belohnung, und obwohl alle Welt die Bargfelds hasste, gab es nicht den geringsten Hinweis auf den Mörder. »Hier, hier und hier. Soldaten und Kontrollstationen mit Schlagbäumen.« Sein Zeigefinger tanzte über die Karte, die den Tisch des Konferenzzimmers bedeckte. »Und macht den gottverdammten Amtmännern Beine. In Delbrück und Boke. Und Wünnenberg. Sollen ihre Leute zusammentrommeln und jedes Haus auf den Kopf stellen. Vergesst nicht die Straßen. Schickt Reiter los. Alarmiert sie. Ich will, dass die Leute befragt werden. Quetscht sie aus. Geht von Tür zu Tür, und macht ihnen Feuer unter dem Hintern!«
Anton v. Eichenfeld, ein altgedienter Hauptmann, und sein blutjunger Leutnant nickten eifrig. Fehlte nur, dass sie die Hacken zusammenschlugen und salutierten.
Dass sich der Oberforstmeister des Niederwaldischen Distrikts als Kommandeur der Stadtwache gerierte, war von Amts wegen ein Ding der Unmöglichkeit, wurde aber von Carl Adrian v.d. Asseburg toleriert. Der Geheimrat ließ seinem Freund freie Hand, um nicht selbst die Initiative ergreifen zu müssen.
Die Besprechung im Attelner Spieker, einer Außenstelle des Amts Lichtenau, dauerte schon zwei Stunden und noch immer erweckte der Mann im grauen Mantel den Eindruck, dass ihn das alles nicht interessierte. Er stand am Fenster, das zur Straße ging. An der Scheibe rann der Regen herunter, und man fragte sich, was er in dem verschwommenen Bild eines schlafenden Dorfes zu entdecken hoffte.
Der Geheimrat unterdrückte ein Gähnen. Mit vorrückender Stunde fiel es ihm immer schwerer, den hektischen Direktiven von Ludwig zu folgen. Außerdem schlich ein goldblondes Naturwunder namens Anna durch seine Gehirnwindungen.
Otto v. Stellingen, der Bezirksvogt, räusperte sich. »Versteht mich nicht falsch, Herr Oberforstmeister«, begann er umständlich. »Der Verlust Eures Sohnes … das ist … ich will sagen, es …«
Ludwig v. Hashagen nahm den Schmächtling mit dem schwindelerregend hohen Haaransatz aufs Korn. »Kommt zur Sache, Mann! Stottert nicht herum wie ein Blödian.« Er fletschte die Zähne.
V. Stellingen zuckte zusammen. »Wir haben nicht genug Männer für … für eine … für eine Aktion dieser Größenordnung.« Um Beistand heischend suchte er Blickkontakt mit dem Geheimrat.
Dieser ignorierte den Hilferuf mit unbewegter Miene. In seinen Augen war der Siebenundfünfzigjährige ein farbloser Schreibtischhengst ohne Esprit und Fantasie. Mit anderen Worten: ein Langweiler.
»Dann sorgt gefälligst dafür, dass sich das ändert. Ist mir schnurzpiepegal, was dafür nötig ist. Wehe, Ihr stellt Euch quer!« Ludwig v. Hashagens Faust donnerte auf den Tisch.
Carl Adrian v.d. Asseburg nippte an seinem Chablis. Beinahe tat ihm der Vogt leid, der mehr und mehr auf seinem Stuhl zusammensank. Und das nur, weil er nicht das Glück hatte, ein Studienfreund der grauen Eminenz der Paderborner Exekutive zu sein. So wenig der Geheimrat von dem Waschlappen hielt: Bei nüchterner Betrachtung kam man nicht um die Frage herum, ob der ganze Aufwand gerechtfertigt war. Schließlich zogen sie nicht in den Krieg, sondern jagten einen siebzehnjährigen Bengel.
Johannes rannte durch den Regen, der die Reste des Wildscheinkots von seinem Gesicht wusch. Er lief über Felder, Brachland und Wiesen. Ein scharfer Wind, der über die karge Hochebene im Süden ins Paderborner Land fegte, schlug ihm entgegen. Am Rande des Hochlands lag Alfen. Grau und still kauerte es in einem flachen Tal. Einzig der Turm von St. Walburga schimmerte im Mondlicht und wies den Weg durch das Dorf. An dessen Ende führte ein Pfad auf eine Anhöhe, den Stemberg. Unten floss die Alme.
Um seine Spuren zu verwischen, lief er durch das Flussbett, das wegen der Gewitter der letzten Tage Wasser führte; sonst versickerte der Regen im porösen Karst, und die Alme fiel trocken. Kalkscherben schnitten in seine Füße. Als die Schmerzen übermächtig wurden, lief er querfeldein weiter.
Nach Osten öffnete sich das Almetal mit Ackerflächen und Wiesen, auf denen Schafherden grasten. Sie gehörten zu dem weiter nördlich gelegenen Klinkenhof der v. Imbsen. Von dem mit Bruchsteinmauern eingefassten Adelsgrund hielt sich Johannes fern. Er bog nach Südosten ab. So musste er auf die Altenau stoßen. Sie entsprang in dem Gebirge, in das er wollte.
Wiesenschaumkraut pinselte seine Beine, hin und wieder kreuzte ein verblühter Fingerhut seinen Weg. Er lief durch Brennnesseln und kniehohes Gras und irgendwann über einen Teppich aus tellergroßen Blättern. Welke Stängel stachen wie abgebrannte Fackeln daraus hervor: die Pestwurz. Sie wuchs in der Nähe von Gewässern. Endlich schlängelte sich ein Streifen Schilfgras durch die Flussniederung – er hatte die Altenau gefunden.
Johannes folgte ihr, bis sie bei einer Kapelle zu Ehren der heiligen Lucia scharf nach Süden abknickte und auf Etteln zulief. Neben dem Wallfahrtsort verlief ein Pilgerweg. Er führte in den finsteren Nonnenbusch. Bald lichtete sich der Wald und machte Feldern Platz, die im September abgeerntet waren – vor wenigen Wochen stand auf ihnen noch die Sommergerste. Sie gehörten zu Atteln.
Das Dorf empfing ihn, wie alle Dörfer im Paderborner Land Fremde empfingen: mit Gestank und Verfall. Mit Armeleutekotten, die wie Schmeißfliegen auf dem Dreck klebten. Ein Haus aber war beleuchtet.
Flieg nicht wie eine Motte ins Licht, warnte eine innere Stimme. Aber die Felder boten keine Deckung.
Es war gefährlich, doch er wollte es wagen.
Links war eine kohlrabenschwarze Gasse. Er setzte einen Fuß hinein, und schon schlug ein Hund an. Der Vierbeiner knurrte und zerrte an seiner Kette, die wie tausend Säbel rasselte. Zum Glück beruhigte sich der eifrige Revierwächter wieder. Alles blieb dunkel.
Vor einem zurückgesetzten Kotten stand ein Kastanienbaum. Johannes hockte sich hinter den Stamm. Schräg gegenüber war das beleuchtete Haus. Eine Elle über der Tür steckte eine Fackel, von der Pech vor die Schwelle tropfte. Sie erhellte ein fächerartiges Ornament mit roten und grünen Stäben auf goldenem Grund – in einem Dorf wie Atteln eine extravagante Verzierung. Hinter dem Fenster des Obergeschosses verschwammen die Konturen von Personen.
Die Tür ging auf. Ein Mann. Er schlug den Kragen hoch.
Johannes stockte der Atem – der unheimliche Fremde.
Der Mantelträger spazierte auf und ab. Blieb stehen. Sogar im Fackelschein wirkte sein Gesicht kalt und leblos.
Johannes packte die Angst.
Da erwachte der Kotten in seinem Rücken – auch das noch! Die Dielentür quietschte, eine Lampe schwankte aus dem Haus und erhellte den Vorplatz. »Was lungerst du hier rum? Runter von meinem Grundstück! Oder ich mach dir Beine!«, brüllte ein Mann mit Nachthemd und einer Mütze, deren Zipfel über die Stirn baumelte. Weniger lachhaft waren die Mistgabel in der einen und die Bullenpeitsche in der anderen Bauernpranke.
Die Peitsche knallte.
Johannes schüttelte den Schrecken ab. Im Nu war er auf den Beinen und wich dem nächsten Hieb aus. Flüche verfolgten ihn.
Hinter dem Haus war ein verwilderter Garten. Er stolperte über die Deichsel eines Karrens und landete in einer Pfütze, die nach Fäkalien stank. Er rappelte sich auf und setzte über einen Zaun. Ein Haken nach links. Einer nach rechts. Dann eine Gasse. Aus den vom Regen aufgeweichten Misthaufen lief Jauche.
Befehle wurden gebrüllt.
Ein Mann riss ein Fenster auf: Der Teufel sollte alle Störenfriede holen!
Überall gingen Lichter an. Das Dorf erwachte. Geisterhafte Schatten flogen über schwarz-weißes Fachwerk.
Johannes rannte eine Häuserzeile entlang. Dicht an dicht standen die Kotten, sie boten kein Schlupfloch. Ein scharf gemachter Hund kratzte an einer Tür. Er knurrte.
Schräg vorne, über den Dächern, die Kirchenspitze. Und St. Achatius flüsterte: ›Komm in meine Obhut! Ich nehme dich auf, du armer Sünder!‹ Die Kastanienschalen auf dem Kirchplatz stachen in die Füße, aber das spürte Johannes nicht. Er riss die Tür auf. Warf sie hinter sich zu. Unter den gütigen Augen einer von Strahlen umkränzten Madonna, die über dem Mittelschiff hing, eilte er dem Altar entgegen. Ihn bedeckte ein violettes Tuch, das bis zum Boden fiel.
»Ihr beiden, mitkommen! Die anderen gehen von Haus zu Haus.« Der Oberforstmeister teilte die Handvoll Männer ein, die er hatte. »Und Ihr nehmt Euch die Kirche vor.«
Keine Reaktion.
»Habt Ihr nicht verstanden?«
Noch immer stand der Mantelträger einfach da.
Was geht im Kopf dieses Bastards vor, fragte sich Ludwig v. Hashagen nicht zum ersten Mal. Am liebsten hätte er ihn ungespitzt in den Boden gerammt.
Auf einmal kam Bewegung in den Sonderling. Als wäre der Befehl erst jetzt zu ihm vorgedrungen. Er verbesserte den Sitz seiner Handschuhe und marschierte los.
Wenigstens hat er begriffen, was ich will, dachte v. Hashagen. Er rauschte davon, um im Spieker auf die Berichte seiner Männer zu warten.
Ein gekiester Vorplatz, gestutzte Büsche links und rechts. Warum waren die Gottessklaven so eitel?
Er zögerte.
Das alte Unwohlsein. Wie ein aus einem Zauberschlaf erwachender Drache regte es sich.
Er legte die Hände gegen die Kirchentür. Als wollte er sie mit Gewalt aufstoßen. Doch das tat er nicht. Ganz langsam drückte er die geschwungene Klinke.
›Kommt herein, ihr Gläubigen! So kommt doch!‹, schrien die Engelschöre. Ihre Klauen griffen nach ihm. Zerrten an seiner Kleidung. Rissen an seinen Haaren. Alles in ihm widersetzte sich. Er wollte die Sirenenrufe überhören.
Die Tür sprang auf.
Kerzen brannten und weichten die Finsternis doch kaum auf. Harte, gedrungene Bänke, in denen man keinen Trost fand, kauerten zu beiden Seiten. Links lauerte eine Nische mit einer Marienfigur. Ihr gegenüber klemmte der Beichtstuhl an dem bleichen Gemäuer. Vorn der Opfertisch.
Kirchen – sie waren zum Fürchten. In ihnen wohnte etwas Großes. Etwas Gefährliches.
Die Stiefel klackten auf dem Steinfußboden. Jeder Schritt kostete Überwindung. Kalt hallte es von Wand zu Wand. Eine Madonna starrte auf ihn herab. Ihr Blick war tadelnd. Er klagte an.
Und seine Lippe blutete.