Читать книгу Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis - Страница 21
4. „Katholisch“ im Zuge der Spaltungen der Catholica
ОглавлениеHeute blicken wir auf eine geschichtlich gewachsene Pluralität von christlichen Konfessionen zurück, die allesamt Katholizität für sich beanspruchen, die Begriffe „katholisch“ bzw. „Katholizität“ jedoch unterschiedlich mit Inhalt füllen und gewichten. In Westeuropa beheimatete Christen werden, wenn von Konfessionen die Rede ist, vor allem an die katholische Kirche denken, zu denen die weniger geläufigen unierten Ostkirchen hinzuzurechnen sind, ferner an die traditionellen evangelischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mitsamt der Anglikanischen Kirche, an die evangelischen Freikirchen sowie an die Altkatholische Kirche; manchen wird noch die große, aber wenig vertraute Gemeinschaft der (byzantinisch-)orthodoxen Kirchen einfallen. All diese Kirchen und kirchliche Gemeinschaften entwickelten sich auf dem geographischen Gebiet des alten Römischen Reiches. Daneben gibt es noch weitere christliche Kirchen, deren Wurzeln gleichermaßen bis zu den Aposteln zurückreichen, die jedoch am Rande bzw. außerhalb des geographischen Gebiets des alten Römischen Reiches eine je eigene Geschichte entwickelt haben und folglich westlich geprägten Christen kaum bis gar nicht im Bewusstsein stehen: die Gemeinschaft der altorientalischen Kirchen. In konfessionskundlicher Hinsicht unterscheidet man hierbei nochmal zwischen der Assyrischen Kirche des Ostens, deren Wurzeln außerhalb des alten Römischen Reiches liegen, und den orientalisch-orthodoxen Kirchen, zu denen die syrisch-orthodoxe, die koptisch-orthodoxe, die äthiopisch-orthodoxe, die armenisch-apostolische, die erithreische sowie die malankarisch-orthodoxe Kirche gerechnet werden.81 Sowohl diese „vorchalkedonischen“ altorientalischen Kirchen als auch die uns mehr vertrauten sogenannten „chalkedonischen“ Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften auf dem Gebiet der alten Reichskirche bekennen sich zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche des Nizäno-Konstantinopolitanums, ein Bekenntnis, das älter ist als alle späteren historischen Aufspaltungen der ursprünglich einen Catholica.
Zur ersten Spaltung der einst ungeteilten Catholica kam es mit dem Schisma des fünften Jahrhunderts. Im Zuge der christologischen Streitigkeiten um das Verhältnis von wahrem Menschsein Jesu und seiner wahren Gottheit in der Einheit der Person (Zwei-Naturen-Lehre) trennten sich die orientalisch-orthodoxen Kirchen von der alten Großkirche ab, da sie vor allem die christologische Entscheidung des Konzils von Chalcedon (451) nicht mittragen konnten. Bereits zuvor hatte sich parallel zur Reichskirche außerhalb des geographischen Gebiets des römisch-byzantinischen Reiches die Assyrische Kirche des Ostens herausgebildet, die an den reichskirchlichen Konzilien nicht beteiligt war, deren Beschlüsse aber – mit Ausnahme der Bestimmungen des Konzils von Ephesus (431) – nachträglich übernahm. Dem Bruch der orientalisch-orthodoxen Christen mit der Reichskirche folgte mit dem Schisma zwischen Rom und den östlichen Patriarchaten (1054) eine weitere Aufspaltung der Catholica, aus der die (byzantinisch-)orthodoxen Kirchen hervorgegangen sind. Durch die Konfessionalisierung im Zuge der Reformation des 16. Jahrhunderts auf dem geographischen Gebiet der weströmischen Kirche verselbständigten sich schließlich die traditionellen evangelischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sowie die Anglikanische Kirche, später die evangelischen Freikirchen. Im 19. Jahrhundert ging aus der (römisch-)katholischen Kirche schließlich die Altkatholische Kirche hervor; bis heute entwickeln sich auf allen Kontinenten selbständige kirchliche Gemeinschaften.
Dieser vereinfachte konfessionskundliche Abriss vermag veranschaulichen, dass sich in der zweitausendjährigen Kirchengeschichte immer wieder neue Denominationen ausbildeten, mit denen verschiedene, konfessionell geprägte Bedeutungsvarianten der Begriffe „katholisch“ und „Katholizität“ einhergehen. Denn jede Konfession meint nicht immer dasselbe, wenn sie das Attribut „katholisch“ für sich in Anspruch nimmt. Diese verschiedenen Bedeutungsvarianten sind von dem für Kirche typischen Spannungsverhältnis Einheit–Vielfalt je unterschiedlich geprägt und betonen einmal mehr die qualitative oder die quantitative Dimension des Begriffs „katholisch“. Bevor wir in dieser Studie herauszuschälen versuchen, wie die (römisch-)katholische Kirche beide Begriffe mit Inhalt füllt und was sie eigentlich meint, wenn sie von der „katholischen Kirche“ spricht, seien im Folgenden Grundzüge nichtkatholischer Auffassungen von Katholizität grob skizziert, ohne damit den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
Bei einer solchen Darstellung müsste, was die Kirchen des Ostens anbetrifft, strenggenommen zwischen altorientalischem und orthodoxem Katholizitätsverständnis unterschieden werden. Da dies jedoch zu vielen Überschneidungen und unnötigen Wiederholungen führen würde, soll das Katholizitätsverständnis der Ostkirchen insgesamt in den Blick genommen und nur dort differenzierter werden, wo es aus Warte dieser Untersuchung nennenswerte Besonderheiten anzumerken gibt. Ähnliches gilt für die kaum überschaubare Gruppe der evangelischen Freikirchen. Diese werden, um den Rahmen dieser Studie nicht zu sprengen, nicht gegliedert nach einzelnen freikirchlichen Traditionen, sondern allgemein in den Blick genommen. Dass bei der gesamten nun folgenden Darstellung mit Unschärfen und Ungenauigkeiten zu rechnen ist, versteht sich von selbst. Diese genauer zu analysieren, könnte Gegenstand einer eigenen Studie sein.