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Freitag, 9. Juni 1989

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Glatte See bei grauem Wetter. Agathe betrachtet das kleine Auditorium, hermetisch abgeschlossener Raum, graue Wände, graue Sitze, in dem die PAMA-Hauptversammlung tagt. Drei- bis vierhundert Aktionäre in dunklen Anzügen, dumpfes Stimmengewirr zahlreicher leise geführter Gespräche. Die PAMA verwaltet Milliarden, sie ist eins der größten französischen Unternehmen. Doch offenbar sehen die Teilnehmer der Hauptversammlung schon im kleinsten Farbfleck, im kleinsten Klangsplitter eine Gefahr für die bestehende Ordnung.

Seit zwei Jahren leitet Agathe die Konzernkommunikation der PAMA. Heute sitzt sie ganz oben im Halbrund, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Neben ihr langweilt sich Nicolas Berger, Freund aus Kindertagen und treuer Assistent, schon jetzt zu Tode.

Die Mitglieder des Aufsichtsrats kommen geschlossen herein. Der Saal verstummt.

»Ich bin immer wieder überrascht, dass sich die Aktionäre beim Eintreten des Kapitäns und seiner Besatzung nicht erheben, so wie wir früher am Gymnasium für unsere Lehrer«, bemerkt Nicolas.

Keine Antwort. Agathe greift in ihre Handtasche, holt eine Zigarette heraus, taucht hinter den Sitzen ab, nimmt drei schnelle Züge, tritt sie dann mit dem Absatz aus.

Die Aufsichtsratsmitglieder haben auf dem Podium Platz genommen. Der Präsident lässt den Blick durch den Saal schweifen. Ein alter Mann, unnachgiebig, kalt. Ein einsamer Wolf in der Steppe der Finanzwelt, sagen manche. Er zwingt sich zu lächeln, feine Risse überziehen das Gesicht, er klopft gegen sein Mikro, erklärt die Hauptversammlung in freundlichem Ton für eröffnet. Die hohe Kunst der Verstellung. Dann fasst er mit monotoner Stimme den Geschäftsbericht zusammen. Die PAMA ist ein Mischkonzern, der praktisch alle Wirtschaftszweige abdeckt, eine Diversifikation, die Risiken mindern und Stabilität gewährleisten hilft. Ein Unternehmen, das seit langem in der französischen Finanzlandschaft etabliert ist. Und so gibt sich der Präsident keine Mühe, zu begeistern oder zu überzeugen. Er ahnt nichts, denkt Agathe, schließt die Augen, faltet die Hände im Schoß und zwingt sich, ruhig zu atmen. Nicolas lässt seinen Gedanken freien Lauf und träumt vor sich hin.

Xavier Jubelin hat ganz außen am Podium Platz genommen. Er hört konzentriert zu, macht sich sogar hin und wieder Notizen. Vor zwei Jahren leitete er ein dynamisches mittelgroßes Versicherungsunternehmen, das von der PAMA geschluckt wurde. Heute sitzt er im Aufsichtsrat, und seine Meinung findet Gehör. Sportliche Erscheinung, kantiger Kiefer, auffallend lebendiger Blick und zwanzig Jahre jünger als der Präsident, dessen Nachfolger, so munkelt man, er wird. Jetzt ergreift er das Wort. Agathe ist speiübel, sie fühlt sich wie beim Sprung ins Nichts. Zunächst, in sehr gesetztem Ton, ein Befund. Die PAMA-Holding befinde sich aufgrund eines bunten Sammelsuriums von Kapitalbeteiligungen in einer Phase der Stagnation. Man müsse die industriellen Investitionen des Unternehmens schrittweise zurückfahren, es wieder auf seine homogensten Sparten ausrichten, nämlich das Versicherungs- sowie das Grundstücks- und Immobiliengeschäft, und ihm so seine lang verlorene Dynamik zurückgeben. Kurzum: Entgegen manchen Meinungen und Äußerungen sei ein grundlegender Kurswechsel geboten.

Nicolas schreckt hoch, setzt sich aufrecht hin. »Habe ich richtig gehört? Jubelin erklärt dem Präsidenten gerade den Krieg?«

Agathe reagiert nicht, lauscht mit immer noch geschlossenen Augen ihrem Herzklopfen.

Jubelin fährt fort, jetzt schroffer: »Wir haben dem Aufsichtsrat wiederholt entsprechende Anträge vorgelegt, die aber nie Berücksichtigung fanden, das ist nicht hinnehmbar. Deshalb wenden wir uns heute an die Hauptversammlung.«

Mit einem Mal herrscht spürbare Spannung im Saal, kein Laut mehr, alle Blicke sind auf Jubelin gerichtet.

Nicolas berührt Agathes Arm. »Schlaf nicht ein, hier tut sich Erstaunliches.«

Immer noch keine Reaktion.

Auf dem Podium stecken die Aufsichtsratsmitglieder, Hand überm Mikro, flüsternd die Köpfe zusammen. Einer von ihnen, Domenico Mori, ein Italiener, elegante Erscheinung und wallende weiße Haarpracht, ergreift das Wort. Er leitet in Italien ein Metallkonsortium, das er aus einem Familienbetrieb selbst aufgebaut hat. Sein Konzern ist der größte Anteilseigner der PAMA und der Grundstein, auf dem der Präsident seine Macht errichtet hat. Zudem ist Mori ein langjähriger persönlicher Freund des Präsidenten, sie gehen in der Tschechoslowakei gemeinsam auf Fasanenjagd. Eingedenk der Milliarden, die er im Rücken hat, hört man ihm respektvoll schweigend zu, auf dem Podium zudem mit einem Gefühl der Erleichterung: Jetzt kommt alles wieder ins Lot.

»Wir haben keine Veranlassung, uns den hier von Monsieur Jubelin vertretenen Vorschlägen zu widersetzen.« Leichter italienischer Akzent.

Große Erregung unter den Versammelten. Ohne daran zu denken, das Mikro zuzuhalten, flüstert der Präsident mit bleichem, verzerrtem Gesicht: »Verräter … unwürdiges Verhalten für einen alten Freund …«

Agathe öffnet die Augen, nagt an ihrem Daumen. Das Podium, jetzt von einer im Saal deutlich spürbaren Panik ergriffen, berät sich. Das kann man unmöglich zulassen. Den Angriff vereiteln, bevor der Aufstand sämtliche Truppen erfasst. Der Präsident schlägt eine sofortige Abstimmung per Handzeichen über die beiden zur Debatte stehenden Marschrichtungen vor. Seine und Jubelins. Danach soll die Hauptversammlung gemäß der mehrheitlich gewählten Marschrichtung ihren Fortgang nehmen.

Handzeichen, sorgfältige Auszählung, Jubelin hat die Mehrheit. Der Saal bricht in Pfiffe und Jubel aus, es geht zu wie im Fußballstadion. Die Aufsichtsratsmitglieder sind aufgestanden, diskutieren miteinander. Jemand vor einem Mikrofon sagt gut hörbar: »Das ist ein Staatsstreich.« Vom Tumult unbeeindruckt, bleiben nur Jubelin und Mori auf ihren voneinander entfernten Plätzen sitzen.

Nicolas wendet sich Agathe zu. »Du hast das gewusst und mir nichts gesagt?«

Agathe antwortet nicht, streicht ihm lächelnd mit den Fingerspitzen über die Wange.

Dann geht alles sehr schnell. Perrot, ein rasant expandierender Bauunternehmer, unterstützt Jubelin und fordert eine Abstimmung nach Anteilen. Fieberhaft rechnet jeder das auf einem Stück Papier für sich durch. Jubelin hält zehn Prozent der Anteile. Der Italiener fünfundzwanzig Prozent. Perrot fällt kaum ins Gewicht. Wer bringt die fehlenden Prozente? Der Vertreter der Banque Parillaud erklärt, dass er Perrots Vorschlag unterstützt.

Deluc, Berater im Élysée und PAMA-Kleinaktionär, zu Agathe, die neben ihm sitzt: »Die Messe ist gesungen, Schwester, gehet hin in Frieden.«

Agathe atmet tief durch und lässt den Druck von sich abfallen.

Die mit dem Präsidenten solidarischen Aufsichtsratsmitglieder räumen das Podium, durchqueren den Saal und verlassen ihn wortlos. Die Repräsentanten der ältesten Finanz- und Industriellendynastien Frankreichs treten ab, damit man sie nicht entlässt wie Lakaien.

»Sie machen sich auf die Suche nach dem Elefantenfriedhof«, kommentiert Nicolas halblaut.

Der Präsident, Jubelin und Mori bleiben allein auf dem Podium zurück. Die Abstimmung nach Anteilen ergibt siebzig Prozent der Stimmen für Jubelin. Die Dynamik des Sieges. Hektisch und mit undurchdringlicher Miene sammelt der Präsident die verstreut vor ihm liegenden Papiere ein. Der einsame Wolf ist in die Enge getrieben, todgeweiht.

Agathe steht auf. Ihr ist, als sähe sie zusammenwachsende Blutflecken auf den graubespannten Wänden. Seit zwei Jahren warte ich auf diesen Moment, nun ist er da und die Freude ist nicht so groß, wie ich dachte. Mir ist vor allem nach einem heißen Bad … Jetzt aber an die Arbeit.

Kurzer Abstecher zur Toilette. Eine kleine Line Koks. Make-up kontrollieren, leicht nachbessern. Dann nimmt Agathe den Fahrstuhl und fährt in den 20. Stock. Ihre Sekretärin begrüßt sie mit einem strahlenden Lächeln. Neuigkeiten sprechen sich schnell herum.

Sie öffnet die Tür zu ihrem Büro. Sehr groß, schwarzer Teppich, weiße Wände. Links ein Schreibtisch aus mattiertem Stahl und an der Wand ein Triptychon von Soulages. Rechts eine Sitzgruppe, zwei Couchtische, Sofa und Sessel aus schwarzem Leder. Und direkt gegenüber der Tür, atemberaubend, eine riesige Glasfront mit Blick auf die Esplanade und die Grande Arche de la Défense.

Ein knappes Dutzend Journalisten erwartet sie bei Fruchtsaft, Whisky oder Wein. Eine ganz zwanglose Zusammenkunft unter Freunden zwecks Vorbereitung der Pressekonferenz, auf der Jubelin morgen früh über die Ergebnisse der PAMA-Hauptversammlung berichten wird. Bei ihrem Eintreten heben alle ihr Glas, es regnet Glückwünsche.

Sie schenkt sich einen Whisky ein, setzt sich halb auf die Ecke ihres Schreibtischs, sieht sie an, selbstsicher, eine Erscheinung wie ein Star, streng geschnittenes Kleid in Kirschrot, das so gut zu ihrem hellen Teint passt, gepflegtes Make-up, goldblonder Haarknoten, Stirnlocken. Und im Lager der Sieger.

»Meine Herren, 1989 ist ein großes Jahr für die französischen Unternehmen. Die Börse boomt, der Immobilienmarkt expandiert, und der jungen Managergeneration gehört die Zukunft.«

Tiefe Stimme, ein wenig heiser, apart. Sehr verführerisch. Sie hat Thema wie Zuhörer spürbar im Griff. Sie hebt ihr Glas in ihre Richtung und leert es in einem Zug. Jetzt das Frage-Antwort-Spiel. Zur Person von Jubelin, den noch so gut wie keiner kennt.

»Ein Selfmademan, jung, sportlich. Ein ausgezeichneter Jäger, ein guter Reiter. Und ein wahrer Könner auf seinem Gebiet. Ein echter Versicherungsprofi.«

Danach zur Politik der PAMA. »Wird die PAMA wirklich ihre Industriebeteiligungen abstoßen, wie Jubelin es auf der Aktionärshauptversammlung angekündigt hat?«

»Industrielle Investitionen sind immer risikoreicher und weniger rentabel als Investitionen im Immobiliensektor. Wenn wir uns wieder verstärkt aufs Immobiliengeschäft konzentrieren, dann vor allem, um unseren Versicherten eine bessere Kosteneffizienz zu garantieren. Der Übergang wird aber reibungslos verlaufen.«

Kompetent. Entspannt. Ein Journalist spricht von »Putsch«. Sie reagiert gereizt.

»Wie kommen Sie dazu, dieses Wort zu benutzen? Das Ganze wurde auf der Aktionärshauptversammlung entschieden, vollkommen transparent. Unser Unternehmen funktioniert beispielhaft demokratisch.«

»Wie man sich erzählt, kennen Sie den neuen Geschäftsführer schon lange …«

Agathe neigt den Oberkörper vor, setzt ein strahlendes Lächeln auf und sagt betont ironisch: »Ich weiß sehr wohl, was man sich in einschlägigen Kreisen erzählt, werter Herr, und es ist mir schnuppe.«

»Brillant, die PR-Chefin«, raunt ein Journalist seinem Nachbarn zu.

Das sehr lockere Gespräch geht noch eine halbe Stunde weiter, das Publikum ist wie gebannt. Mit einem Mal ist es spät. Die Journalisten brechen auf. Lästige Fragen wird es auf der morgigen Pressekonferenz eher nicht geben. Und in den nächsten Tagen keinen einzigen gegen Jubelin gerichteten Artikel.

Agathe tritt an das große Fenster. Es ist vollbracht. Die Spannung löst sich. In ihrer Brust ein fast schmerzhaftes Gefühl von Leere. Die Sonne geht unter. Hier und da Lichtreflexe auf den Büroturmfassaden. Zur Linken Paris, fern, die ersten Lichter leuchten. Rechts die Grande Arche, Scheinwerfer, man arbeitet Tag und Nacht, um die Bauarbeiten bis zum 14. Juli abzuschließen. Dicke Scheiben, nicht ein Laut. Endlich eine gewisse innere Ruhe. In dieser Höhe kann mich nichts mehr treffen.

Zügellos

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