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1.4 Heterogenität in Schule und Unterricht: Dilemma oder Chance?

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Der Sinn von Freiheit ist ja schließlich Differenz (Winfried Kretschmann)

In den vergangenen Jahren sind – maßgeblich initiiert durch die enttäuschenden Ergebnisse der PISA-Studien – eine Reihe an Publikationen zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht erschienen, obwohl dieses Thema in der bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskussion alles andere als neu ist, denn schon im ausgehenden 18. Jahrhundert beklagte Johann Friedrich Herbart (1776-1841), Verfasser der ersten Allgemeinen Pädagogik, „die Verschiedenheit der Köpfe“ als Hauptproblem des Unterrichts (Tillmann/Wischer 2006, 44), wohingegen viele Ansätze aus der Reformpädagogik genau diese Verschiedenheit zu nutzen und zu fördern versuch(t)en. Dennoch hat in Deutschland die Ausrichtung des Unterrichts auf die „Mittelköpfe“ seit Ernst Christian Trapp (1745-1810) eine lange Tradition, und Lernende, „die in ihrem Entwicklungs- und Kenntnisstand außerhalb dieses Bereichs liegen, laufen Gefahr, zu ‘Problemfällen’ zu werden“ (Tillmann 2004, 7).

Auch Wenning (2013) diskutiert die Frage, ob die zunehmende Thematisierung von Heterogenität „nur eine Mode ist [oder] ein Symptom für eine bestimmte Reaktionsform auf (gesellschaftliche) Abweichungen darstellt“ (Ebd., 128), und ob die festgestellte Heterogenität schon vorhanden oder in der Schule erst konstruiert bzw. produziert wird (Ebd., 134ff.). Die Beiträge in Budde (Hrsg.) (2013) beschäftigen sich mit der (berechtigten) Frage der (Re-)Produktion von Heterogenität in der Schule.1

Fakt ist, dass in Fachkreisen derzeit intensiv diskutiert wird, ob Heterogenität als Dilemma und Lernhindernis oder als Chance und Bereicherung bewertet werden soll.2 Auch Fragen hinsichtlich Chancengleichheit, individueller Förderung, Möglichkeiten der Binnendifferenzierung, Koedukation3, Hochbegabtenförderung4, Umgang mit Kindern aus Migrantenfamilien oder Möglichkeiten der Integration bzw. Inklusion von behinderten Kindern5 tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Meist bezieht man sich bei dem uneinheitlich verwendeten Begriff „Heterogenität“ allerdings auf kognitive bzw. entsprechende leistungsbezogene Unterschiede in einzelnen Fächern und blendet andere Merkmale weitgehend aus.6 Doch wie heterogen bzw. homogen sind Lerngruppen im deutschen Schulsystem eigentlich?

Obgleich in Deutschland Kinder und Jugendliche schon immer unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse in die Klassenzimmer mitgebracht haben und es diesbezüglich auch schon in der Vergangenheit Diskussionen in den Erziehungswissenschaften gab, erstaunt hier umso mehr, „dass das deutsche Schulsystem nach wie vor von der paradigmatischen Idealvorstellung einer homogenen Gruppe, die ohne störende Einflüsse von innen und von außen im Lernen vorwärts kommen soll, bestimmt wird“ (Boller u.a. 2007, 12). Erschwerend kommt hinzu, dass vielfach noch immer von einem Schülerbild ausgegangen wird, „das längst nicht mehr allein der Wirklichkeit an unseren Schulen entspricht: deutschsprachig, mit christlichem Hintergrund, aus intakter Familie“ (Kluge 2003, 89). Divergenz wird als störend und somit negativ empfunden. Wenning (2013, 149) kritisiert zu Recht „einen, bewusst oder unbewusst, diskriminierenden Umgang mit Verschiedenheit“.

Obwohl lange bekannt und oft belegt ist, dass die vergleichsweise frühe Auslese (tracking) und Verteilung im hierarchisch gegliederten Schulsystem zahlreiche Probleme mit sich bringt, dominiert im Umgang mit Heterogenität noch immer die Strategie der äußeren Differenzierung nach Leistung, was jedoch zwangsläufig auch eine (inoffizielle) Selektion nach sozialen und ethnischen Merkmalen nach sich zieht (Tillmann/Wischer 2006).7 Somit fungiert die Schule hinsichtlich Lebenschancen nicht – wie grundsätzlich anzunehmen – als Türöffner im Sinne der Gleichberechtigung für alle, sondern reproduziert und verfestigt die bereits bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnisse noch mehr.

In der Tat wird in unserem gegenwärtigen Schulsystem mit unterschiedlichen organisatorischen Maßnahmen wie Späteinschulungen, Verteilung auf die unterschiedlichen Schulformen, Sitzenbleiben oder Schulformwechsel8 immer wieder versucht, durch Reduzierung der Leistungsunterschiede Homogenität in Lerngruppen herzustellen, „dass eine Passung zwischen Lerngruppe und Lernangebot erreicht wird“ (Trautmann/Wischer 2007, 44), allerdings ohne zu hinterfragen, ob dies überhaupt von Vorteil für die Lernenden ist. Hintergrund ist die Ansicht, dass sich Lernen in homogenen Gruppen besser organisieren lasse und somit „die Lehrkraft auch für alle den gleichen (frontalen) Unterricht machen“ kann (Tillmann/Wischer 2006, 44). Andererseits erstaunt (übrigens auch die PISA-Autoren), dass vor allem deutsche Lehrkräfte immer wieder über die „große Leistungsheterogenität in Sekundarschulen“ (Ebd., 45) und die damit verbundenen Belastungen klagen, obwohl der internationale Vergleich zeigt, dass es auf Grund der horizontalen Gliederung des deutschen Bildungswesens „kaum leistungshomogenere Sekundarschulen als in Deutschland“ gibt (Ebd.). Warum also empfinden gerade Lehrkräfte im hochselektiven Sekundarbereich Heterogenität als besondere Belastung (Wenning 2013, 130)?9

Doch der Schein trügt, denn jede Schulform weist in sich eine große Leistungsstreuung auf, und auch die einzelnen Klassen des gegliederten Schulsystems sind in sich wiederum stark leistungsheterogen, so dass die Homogenität der Lerngruppe „eine Fiktion“ bleibt (Tillmann/Wischer 2006, 45). Laut Sacher (2005, 44) ist das deutsche Schulsystem „offensichtlich nicht das Instrument“, um wirklich eine Homogenisierung der Lernenden herzustellen. Gerade auch durch die DESI-Studie (DESI, Hrsg. 2008) wurde im Fach Englisch eine große Leistungsheterogenität in allen Schularten bestätigt. Bedauerlich ist vor allem die Tatsache, dass diese institutionelle Fiktion viele Opfer fordert und auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird, denn circa ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler bleibt bis zur 10. Klasse mindestens einmal sitzen (von Saldern 2007, 43).10 „Problemfälle“ müssen eine Klasse wiederholen, die Schule wechseln oder diese sogar gänzlich ohne Abschluss verlassen, was weder aus lernbiographischen noch aus wirtschaftlichen Gründen vertretbar ist.11

Untersuchungen belegen (und erklären auch die Ergebnisse der PISA-Studien): „Wir haben die homogensten Gruppen und zugleich die größte Leistungsspreizung, verbunden mit den negativsten Werten für soziale Koppelung (...): Im Umgang mit Heterogenität erhalten deutsche Schulen die Note mangelhaft“ (von der Groeben 2007, 6). Im Rahmen der Diskussionen um eine zukunftsfähige Bildungspolitik muss also dringend der Frage nachgegangen werden, welche Vor- und Nachteile unser gegliedertes Schulsystem auszeichnen, denn offensichtlich ist es „historisch entstanden und wurde – soweit bekannt – niemals pädagogisch begründet“ (von Saldern 2007, 43). Darüber hinaus zeigt sich im Vergleich mit anderen Ländern, wo Kinder und Jugendliche mitunter bis zur 9. oder 10. Klasse in einer Einheitsschule gemeinsam lernen, dass die bewusste Homogenisierung von Lerngruppen eben nicht den gewünschten positiven Effekt zu haben scheint: „Ganz im Gegenteil scheint vielfach sogar eher eine bewusste Heterogenisierung von Lerngruppen einen besseren und klügeren Weg zum Erfolg darzustellen – insbesondere wenn es um Lernziele geht, die über die Ebene des reinen Wissenserwerbs hinausgehen“ (Ebd., 50).12

Tillmann und Wischer (2006) sprechen sich nach Begutachtung der eher uneinheitlichen Forschungsbefunde für eine „begrenzt heterogene“ Zusammensetzung einer Lerngruppe aus (Ebd., 46), vorausgesetzt im Unterricht werden ausreichend binnendifferenzierende Maßnahmen genutzt. Sie warnen insbesondere „vor einer Homogenisierung am ‘unteren Ende’ des Schulsystems“ (Ebd., 44), denn gerade in Hauptschulklassen kommt es häufig zu einer verhältnismäßig hohen Konzentration von Verhaltens-, Lern- und Erziehungsproblemen, die ein Lernen – selbst für motivierte Schülerinnen und Schüler – oft sehr mühsam und mitunter sogar unmöglich machen. Die gegenwärtige Diskussion um die Gemeinschaftsschule ist zumindest ein Zeichen, dass diese Problematik wahr- und ernstgenommen wird.

Neben den dringend erforderlichen „großen Entwürfen“ für eine situationsangepasste Schulentwicklung von „oben“ (Makroebene), geht es auch um eine innere Reform des Schulwesens von „unten“ (Mikroebene), die eine soziale, kulturelle, geschlechts-, alters-, interessen- und leistungsbezogene Heterogenität der Gesellschaft und somit auch der Lerngruppe berücksichtigt, bejaht und für alle Beteiligten gewinnbringend nutzt. Ein sinnvoller Umgang mit Heterogenität bedeutet schlicht mehr als die bloße Vermittlung von diversen Methoden oder „Tipps und Tricks“, und ein paar zusätzliche Arbeitsblätter als Differenzierungsmaßnahme reichen sicher nicht aus (Ratzki 2007).13

Neben den bereits erwähnten Diversitäten existieren natürlich noch viele andere Unterschiede, die tagtäglich auf das Schulleben und den (Fremdsprachen-)Unterricht einwirken: nicht nur der gesamte sozioökonomische und soziokulturelle Erfahrungshintergrund, alters- und geschlechtsspezifische Besonderheiten, fachbezogene Kenntnisse und Vorerfahrungen, allgemeine Fähigkeiten und Begabungen, Persönlichkeitsmerkmale, Arbeitshaltung, Arbeitstechniken, Arbeits- und Lerntempo (Altrichter/Hauser 2007, 6), sondern auch individuelle Stimmungen, tagesabhängiges körperliches und seelisches Befinden, Klassenatmosphäre und – nicht zu vergessen – die Motivation und Einstellung zu Schule und Fach (vgl. Kapitel 4).

Der produktive Umgang mit heterogenen Lerngruppen stellt sehr komplexe und vielfältige Anforderungen an das Lehrerhandeln, doch andererseits gelingen Lernen und Lehren erst, wenn Kinder und Jugendliche sich akzeptiert fühlen und einen Sinn darin sehen, warum sie sich im Klassenzimmer befinden. Einzelne Lehrkräfte gelangen möglicherweise schnell an ihre Grenzen, wenn sie unter den jetzigen Rahmenbedingungen und gängigen Vorstellungen von Unterricht als „Einzelkämpfer“ jedes Kind individuell fordern und fördern sowie individuell beraten und evaluieren sollen, dennoch bestehen – auch im jetzigen Schulsystem – vielfache Möglichkeiten, die real existierende Heterogenität der Lerngruppe als positive Herausforderung zu betrachten und zu nutzen, anstatt dagegen anzukämpfen. Lehrkräfte (und auch Lehramtsstudierende) müssen sich „von der Illusion der homogenen Lerngruppen verabschieden und Heterogenität als Normalität, als Bereicherung und als Chance begreifen“ (Eisenmann/Grimm 2012, II). Sie müssen im eigenen Interesse auch lernen loszulassen, denn Schüleraktivierung führt auch zu Lehrerentlastung.14

Fazit: Wenn die Leistungen unseres Schulsystems und somit auch der Umgang mit Heterogenität nachhaltig verbessert werden sollen, dann müssen Überlegungen auf drei Ebenen stattfinden, um dem Ziel von gerechteren Bildungs- und Lebenschancen näher zu kommen: auf Schulsystemebene, auf Schulebene und auf Klassenebene (von Saldern 2007, 50). Auch Restriktionen und überkommene Traditionen müssen sowohl auf der Makroebene als auch der Mikroebene geklärt und kritisch diskutiert werden.15 Letztendlich lässt sich die Vision von Schulen als „Treibhäuser der Zukunft“ (Bauer, J. 2007, 35) nur realisieren, wenn die Unterschiede innerhalb einer Lerngruppe genutzt und für alle fruchtbar gemacht werden. Lernen gelingt bekanntlich nur, wenn ein Bedürfnis vorhanden ist und Lernbedürfnisse entstehen nur, wenn Differenzen und Fragen auftauchen. Folglich sollte die Diversität im Klassenzimmer als Lernanlass zum gegenseitigen Austausch und gemeinsamen Wachsen genutzt werden!

Ob und inwiefern man in Zeiten zunehmender Homogenisierungsbestrebungen durch kultusministerielle Standardisierungsvorgaben, Kompetenzorientierung, Output-Orientierung und zentrale Kompetenzstandüberprüfungen der steigenden Heterogenität der Schülerschaft sowie der pädagogischen Forderung nach Individualisierung, Differenzierung und Lernerautonomie tatsächlich gerecht werden kann (Eisenmann/Grimm 2012, I), bleibt allerdings fraglich. Aus meiner Sicht stellt jedoch der Storyline Approach nicht nur ein flexibles und fundiertes Konzept für vielfältige Differenzierungsmaßnahmen dar, ohne dabei Ausgrenzung zu generieren, sondern bietet darüber hinaus auch eine gute Möglichkeit, um eine Brücke zwischen Standardisierung und Differenzierung zu schlagen, da die Individualität der Lernenden anerkannt wird und zugleich vielfältige Kompetenzen erworben werden (vgl. Kapitel 2). In Teil B werde ich untersuchen, ob dies auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer gelingen kann.

Vermutlich wird Differenzierung „für lange Zeit eine der größten Herausforderungen“ bleiben (Eberle u.a. 2012, 31). Im Bereich der Fremdsprachen ist zudem noch mehr Schulpraxisbezogene Forschung vonnöten, um Konsequenzen für das professionelle Handeln von Lehrkräften ableiten zu können (Eisenmann 2012, 95). Zu Recht fordert Trautmann (2010, 62): „Insbesondere Lehrende mit ihren unterschiedlichen Überzeugungen und Kompetenzen müssen zukünftig viel stärker in den Blick genommen werden, denn letztendlich sind es die Lehrkräfte, die die geforderten Innovationen umsetzen sollen“. Ob und inwiefern Storyline die Lehrkräfte darin unterstützen kann, die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben, um mit der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer konstruktiv umgehen zu können, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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