Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 14
1.6.1 Lebenslanges Lernen: Lernen für das Leben
ОглавлениеDie Europäische Union soll laut Europarat „zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt [werden] – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen“ (Bachmann 2004, 157, im Original Kursivschrift). Diesem hehren Anspruch steht die Tatsache gegenüber, dass heute eine beträchtliche Anzahl von Jugendlichen die Schule ohne Abschluss verlässt (vgl. Kapitel 1.3) und angeblich rund 20 % der Schulabgängerinnen bzw. -abgänger „gerade mal auf Grundschulniveau lesen, schreiben und rechnen“1 können – so Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, im Juni 2008 – und das zu einer Zeit, in der der Begriff „lebenslanges Lernen“ intensiv die öffentliche Rhetorik bestimmt und an jeder Ecke damit geworben wird, dass Bildung die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sei und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft bestimme. Die Diskrepanz zwischen Vision und Status quo ist deutlich und muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden.
Unter lebenslangem Lernen versteht man „die Gesamtheit allen formalen, nicht-formalen und informellen Lernens über den gesamten Lebenszyklus eines Menschen hinweg“ (Luther 2004, 219). Eine etwas konkretere Definition liefert Günther Dohmen (2001, 186, Zit. nach Lenz 2004a, 31f.): „Lebenslanges Lernen meint das Aufnehmen, Erschließen, Deuten und Einordnen von Informationen, Eindrücken, Erfahrungen während der ganzen Lebenszeit“. Lernen ist also nicht mehr auf die Kindheit oder Jugend bzw. die Schule beschränkt, wie das früher üblich war, sondern es wird zur eigenverantwortlichen Lebensaufgabe und langfristigen Kapitalanlage jedes und jeder Einzelnen. Lebenslanges Lernen, von Chott (2001, 57) als “learning-just-in-time“ bzw. “learning-on-demand“ bezeichnet, gewinnt sowohl im Privat- als auch im Berufsleben immer mehr an Bedeutung, wobei das Verlernen genauso wichtig wird wie das Lernen selbst – sprich: „Ein Aneignen und Wegwerfen von temporär zu gebrauchendem Werkzeug“ (Scrubar 2006, 152). Werner Lenz (2004a), Erziehungswissenschaftler aus Graz, nennt eine Reihe von Argumenten und Positionen, welche die Bedeutung und Notwendigkeit des lebenslangen Lernens begründen sollen:
Ökonomische Komponente: Anpassung an sich rasch ändernde Arbeitsanforderungen und zunehmende Konkurrenz.
Subjektive Komponente: Flexibilität und Erhöhung des Freiheitsgrads in Beruf und Lebenswelt, aber auch erhöhte Abhängigkeit von entsprechenden Berufspositionen und erhöhte Intensität der Arbeitsleistungen.
Humane Komponente: Lebenslanges Lernen im Sinne „einer humanen pädagogischen Tradition“ (Ebd., 32) zur Stillung der Wissbegierde und zur Menschenbildung.
Demokratische Komponente: Positionierung in der Gesellschaft und deren Verteidigung oder Verbesserung. Im Rahmen der europäischen Integrationsprozesse wird das Konzept des lebenslangen Lernens insbesondere deshalb propagiert, um „aktive Staatsbürgerschaft“ (Ebd., 33) zu erreichen.
Demographische Komponente: Durch die längeren Lebenserwartungen der Menschen müssen sich ältere Menschen länger in einer sich rasch verändernden Welt zurechtfinden, was entsprechende Anforderungen an sie und die Gesellschaft stellt.
Situative Komponente: Der Umgang mit bzw. die Bewältigung von neuen gesellschaftlichen Situationen und den eigenen offenen Lebensverläufen erfordert situatives Lernen: „Der Einzelne wird zum Schöpfer seiner Biographie und dadurch zum ständig Lernenden“ (Ebd., 34).
Lenz (2004a, 35) bezeichnet das Bildungskonzept „Lebenslanges Lernen“ zutreffend als komplexe unabgeschlossene Antwort auf eine komplexe unabgeschlossene Entwicklung unserer Gesellschaft und Lebenswelt und fordert „Institutionen, Anlässe und Gelegenheiten, die die Selbstlernfähigkeit fördern und pflegen. Wir brauchen Lehrpersonal, das nicht überwiegend belehrt[,] sondern Lernen und Weiterlernen anregt“ (Ebd.). Wie die vorherigen Kapitel jedoch gezeigt haben, sind unsere Schulen davon noch ein weites Stück entfernt. Allerdings könnte der Storyline-Ansatz meines Erachtens dazu beitragen, um diesem Ziel näherzukommen. Wie Kurse konzipiert werden können, um Lehrkräften die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, sollen meine Untersuchungen in Kapitel 7 zeigen.