Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 12
1.5 Gewalt, Stress, Langeweile: Der Schulalltag?
ОглавлениеBorn to be wild (Steppenwolf)
Horrormeldungen von schießenden, stechenden oder raufenden Jugendlichen attackieren uns fast täglich aus den unterschiedlichsten Quellen und erwecken den Anschein, dass viele (vor allem männliche) Schüler äußerst gewalttätig und kriminell sind. Studien und Publikationen zum Thema „Gewalt an Schulen“1 häufen sich, seit die Schulgewaltforschung in den 1990er Jahren intensiviert wurde (Fuchs u.a. 2005, 11). Die Thematisierung der Jugendkriminalität in den Massenmedien und den Pressemitteilungen der Polizei beeinflusst allerdings die Wahrnehmung von Delikthäufigkeiten. Laut Dollinger und Schmidt-Semisch (2010) ist beispielsweise die physische Gewaltanwendung gegen Personen in den Medien „deutlich überrepräsentiert“ (Ebd., 11). Trotz kritischer Stimmen aus Wissenschaft und Forschung werden diese Verzerrungen und Pauschalisierungen im Vergleich zu statistisch erhobenen Delikthäufigkeiten „massenmedial und politisch kaum ernst genommen“ (Ebd.).2 Ohne die Problematik verharmlosen zu wollen: Laut Kriminalstatistik 2012 des Bundesministeriums des Innern (nachfolgend: BMI) ist beispielsweise die schwere Körperverletzung Jugendlicher (14-18 Jahre) im Vergleich zu 2011 um 16,5% zurückgegangen (BMI, Hrsg. 2013, 11).3
Nimmt man zudem Bezug auf die im Jahr 2005 vom Bundesverband der Unfallkassen durchgeführte Studie „Gewalt an Schulen“, dann kommt man zu dem Ergebnis, „dass die Zahl der meldepflichtigen Raufunfälle insbesondere in den letzten Jahren nicht angestiegen, sondern sogar rückläufig gewesen ist“ (Shell, Hrsg. 2006, 140), auch wenn die Anzahl der Schlägereien an Schulen von 2006 auf 2010 um 1 % leicht angestiegen ist (Shell, Hrsg. 2010, 162ff.).4 Somit wird deutlich, dass die öffentliche Meinung bezüglich der zunehmenden Aggression und Gewalt an Schulen irreführend ist, denn die Daten belegen, „dass Jugendgewalt nach wie vor eher auf der Straße oder in anderen öffentlichen Räumen und nicht vorrangig in den Schulen ausgetragen wird“ (Shell, Hrsg. 2006, 140). Spektakuläre Amokläufe sind nicht nur ungewöhnlich, sondern auch singulär (Hurrelmann/Bründel 2007, 72).5
Eine Langzeitstudie (1994-2004), bei der in Bayern 4.523 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, belegt, dass das Gewaltaufkommen vor allem bei den schwerwiegenden Gewaltaktivitäten gesunken ist: „Die massenmedial vermittelte Vorstellung, wonach Gewalt an Schulen immer häufiger auftrete und immer brutaler werde, muss auf Basis unserer Daten zurückgewiesen werden“ (Fuchs u.a. 2005, 107). Nachgewiesen wurden im Rahmen der Studie dagegen Zusammenhänge zwischen Gewalt(formen) und Geschlecht sowie zwischen Gewaltaktivitäten und Bildungsniveau (Ebd., 108), die auch in Untersuchungen von Melzer (2006b, 20), Oertel u.a. (2015, 260f.) sowie in der 15. und 16. Shell Jugendstudie (Shell, Hrsg. 2006, 142; 2010, 23f. und 162ff.) bestätigt werden.6 Ferner gilt als gesichert, „dass ca. 3-5% der Schülerinnen und Schüler unter Mobbing leiden“ (Oertel u.a. 2015, 260). Hier muss die Schule reagieren!
Antisoziale, aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen haben sowohl erzieherische als auch gesellschaftliche Ursachen. Zwar kommt man bereits in der 15. Shell Jugendstudie zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, „die Situation übermäßig zu dramatisieren“ (Shell, Hrsg. 2006, 22). Nichtsdestotrotz sind hier entsprechende Präventions- und Interaktionsmaßnahmen erforderlich, beispielsweise auch durch Unterrichtsformen, die die Heterogenität der Lerngruppe berücksichtigen und das soziale Lernen fördern. Wolfgang Melzer (2006b), Professor für Schulpädagogik und Leiter der Forschungsgruppe Schulevaluation an der TU Dresden, fordert, „alte – aber nicht veraltete – reformpädagogische Forderungen nach ganzheitlicher Bildung (...) endlich in Angriff zu nehmen“ (Ebd., 19f.) und somit „den Leistungs- und den Sozialgedanken im Kontext der schulischen Lebenswelt miteinander zu versöhnen“ (Ebd., 23). Gewaltprophylaxe hat auch viel mit Eigenverantwortung zu tun. Wie sich später zeigen wird, sind die genannten Aspekte Kernprinzipien des Storyline-Modells, welches somit gute Dienste erweisen könnte (vgl. Kapitel 2).
Gewalt im Kontext der Schule kann in unterschiedlicher Form und Ausprägung zutage treten.7 Es würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf alle in Frage kommenden Formen, endogenen und exogenen Ursachen und Auslöser möglicher Gewaltäußerungen einzugehen, so dass ich mich auf eine Auswahl von Gründen für Gewaltaktivitäten in Form von Unterrichtsstörungen beschränke, welche durch eine verstärkte Lernerorientierung, wie dies bei Storyline-Projekten der Fall ist, gemildert oder sogar vermieden werden können.8 Denn Bildungsangebote, die auf demokratiepädagogischen Ansätzen basieren, ermöglichen jungen Menschen, „ihre Potentiale tatsächlich einzubringen“ (Magnus/Sliwka 2015, 459) und fördern somit persönliches Wachstum und positive Entwicklungswege.
Egal, wie man das Blatt dreht oder wendet: Die Schule trägt allein schon auf Grund der gesetzlichen Schulpflicht ein gewisses Gewaltpotenzial in sich. Lehrkräfte haben zwar kein Recht mehr auf körperliche Züchtigung9, doch der Selektionscharakter der Schule, die Leistungs- und Konkurrenzorientierung, der Wettbewerbscharakter sowie der immense Erwartungsdruck, gepaart mit fehlenden Zukunftsperspektiven, wird von vielen Schülerinnen und Schülern als strukturelle Gewalt empfunden, zumal Zeugnisse als „Berechtigungsnachweise“ für Bildung und die spätere Berufswahl inklusive „Einkommen, Macht und Einfluss“ dienen (Hurrelmann/Bründel 2007, 105).
Auch die schul- und unterrichtsorganisatorischen Bedingungen können die Entstehung von Gewalt und Unterrichtsstörungen begünstigen: große, anonyme und unübersichtliche Schulen; triste und schlecht ausgestattete Räume10; zu große Klassen; ein gewaltbelastetes Schulmilieu (Fuchs u.a. 2005); „pädagogisch inkongruentes und inkompetentes Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 121); eine schlechte sozial-emotionale Klassen- und Unterrichtsatmosphäre (Lösel/Bliesener 2003, 175); schlechte personale Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schülerschaft; überwiegend wissenschaftlich orientierte Lern- und Lehrformen (Hurrelmann/Bründel 2007, 115); „langweiliger oder methodisch einseitig durchgeführter Unterricht, der zusätzlich noch Themen beinhaltet, die an der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern vorbeigehen“ (Ebd., 121); fehlender Anwendungsbezug von Unterrichtsinhalten (Fuchs u.a. 2005, 38); fehlende Eigenverantwortung der Lernenden; als unfair oder einseitig11 empfundene Beurteilung von Leistungen oder Verhaltensweisen; pejoratives, aggressives und etikettierendes Lehrerverhalten (Melzer 2006b, 22; Oertel u.a. 2015, 259), wenig förderndes Engagement von Lehrkräften (Fuchs u.a. 2005, 38) und vieles mehr.
Indem sie den Unterricht bewusst durch sicht- und/oder hörbare Handlungen stören, die Mitarbeit verweigern, rebellieren oder gar resigniert den Unterricht schwänzen12, wehren sich Lernende „gegen die Zwangsinstitution Schule und gegen Unterrichtsformen und -inhalte, die ihnen nicht gefallen“ (Hurrelmann/Bründel 2007, 80). Sie zeigen offen, wenn sie sich durch die ungleichen Machtverhältnisse in ihrer Selbstentfaltung und Selbstbestimmung beeinträchtigt fühlen und verwenden ein vielfältiges Repertoire an Störmaßnahmen, um auf die fehlende Anerkennung ihrer individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen.
Disziplinstörungen werden von Lehrkräften zunehmend als eines der größten Probleme empfunden, da sie ein Unterrichten oft gänzlich verhindern. Viele sind deshalb nicht nur verunsichert, sondern gestresst, überfordert und erschöpft. Betrachtet man die zunehmende Anzahl von Publikationen zum Thema „Burnout“ oder „Stress im Lehrerberuf“13, dann wird offensichtlich, dass viele mit der pädagogischen Herausforderung hinsichtlich „der Widerspenstigen Zähmung“ nicht mehr klarkommen und durch Strafmaßnahmen und aggressives Verhalten den psychologischen Druck auf die Schülerinnen und Schüler erhöhen: „Der Druck wiederum führt zu schlechteren Schulleistungen und ist häufiger mit Gewaltverhalten und Delinquenz der Schülerschaft verbunden“ (Ebd., 82f.). Dazu kommt die belastende Tatsache, dass sich Lehrkräfte oft als Einzelkämpferinnen bzw. -kämpfer an ihren Schulen fühlen und von Seiten des Kollegiums oder der Schulleitung häufig nicht die gewünschte Unterstützung erhalten.14 Nicht verwunderlich ist somit, dass der Lehrerberuf zu der Berufsgruppe mit den meisten Frühpensionierungen gehört (Ebd., 129; Unterbrink u.a. 2007).
In einer groß angelegten Studie15 hat der renommierte Freiburger Arzt und Burnoutforscher Joachim Bauer zusammen mit der Universitätsklinik Freiburg, der TU Dresden, dem Regierungspräsidium Freiburg sowie dem Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien und Sonderschulen) Freiburg das Ausmaß der Gesundheitsgefährdung von 949 Lehrerinnen und Lehrern an 10 Gymnasien und 79 Hauptschulen im Raum Freiburg untersucht (Bauer, J. 2007; Unterbrink u.a. 2007): 21,6% der befragten Lehrkräfte weisen eine deutlich ausgeprägte “imbalance of effort and reward“ auf (Unterbrink u.a. 2007, 433), wobei Lehrkräfte an Hauptschulen stärker betroffen sind als jene an Gymnasien (Ebd.) und man davon ausgeht, dass die Dunkelziffer noch höher ist.16 Im Vergleich mit anderen nationalen und internationalen Studien weisen die hier befragten Lehrerinnen und Lehrer offenbar relativ hohe Werte auf: “In an overall perspective, our sample seems to be more affected by burnout compared to previous investigations with teachers. With respect to Germany, the situation of teachers may have worsened in recent years“ (Ebd., 439).
Als Ursachen werden im Rahmen der Freiburger Untersuchung – auch unter Rückgriff auf andere Studien – an erster Stelle die allgemeine Arbeitsbelastung bzw. Arbeitsüberforderung, zu große Klassen und zunehmende Verhaltensauffälligkeiten der Schülerschaft genannt (Unterbrink u.a. 2007). Andererseits existieren auf der Ebene der Lehrkräfte nicht selten Selbstrestriktionen und inadäquate Idealvorstellungen von „gutem“ Unterricht, die auch ein effizientes Lernen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler erschweren: „Die bedeutsamste [Selbstrestriktion, Anm. D.K.] liegt in der Macht der Tradition: Bestimmte Unterrichtsformen, gewohnte Interaktionsformen usw. werden ungern verändert“ (von Saldern 2007, 46). Becker (2004) zählt in diesem Zusammenhang drei Komponenten auf, die (zum Teil seit Comenius) als geheime Leitbilder für „richtigen“ bzw. „idealen“ Unterricht gelten:
die Vorlage eines perfekten, im Voraus exakt geplanten Drehbuchs (Skript), das minutiös abgearbeitet wird;
die Bewegung der gesamten Lerngruppe im Gleichschritt, welche spätestens am Stundenende am gleichen Ausgangspunkt anzukommen hat;
die Kontrolle der Lehrkraft über alle und alles, damit sich alle Beteiligten an das Drehbuch halten.
Laut Becker (2004, 12) lösen Unterschiede der Lernenden „vermutlich ständige unbewusste Ängste aus, man werde das sorgfältig entworfene Drehbuch nicht einhalten können“. Diese Ängste wiederum, die auf Lehrerseite häufig zu Stress und Erschöpfung führen und auf Schülerseite Frustrationen und Unterrichtsstörungen hervorrufen können, liegen jedoch nicht zwangsläufig in der heterogenen Lerngruppe selbst begründet, sondern in der eigenen Vorstellung von gutem (Fremdsprachen-)Unterricht: “Some teachers say that they find teaching classes of mixed ability one of their main problems. But maybe the problem is in thinking of ‘mixed ability’ classes as a problem rather than as something natural in any group of individuals“ (Moon 2000, 26).
Tillmann und Wischer (2006) verweisen auf diverse Befunde aus der empirischen Bildungsforschung, die belegen, dass erfolgreicher Unterricht in heterogenen Lerngruppen sehr stark von der fachlichen und methodischen Kompetenz der Lehrkräfte und dem Einsatz von binnendifferenzierenden Maßnahmen abhängt – eine Erkenntnis, die nach Binsenwahrheit klingt, wäre da nicht der Zusatz: „Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, dass ein solcher Unterricht im deutschen Schulsystem nicht allzu häufig stattfindet“ (Ebd., 47).17 Schaut man dagegen über die Grenzen, dann erfährt man, dass Länder wie Schweden, Norwegen, Finnland, Japan, England oder Kanada auch in der Sekundarstufe ein integriertes Schulsystem haben und Lernende in der Regel mindestens bis Ende der 9. Klasse gemeinsam unterrichtet werden (Tillmann 2004, 9). Die Schulen in Großbritannien und Skandinavien, wo Partner- und Gruppenarbeit, aber auch Teamarbeit der Lehrkräfte selbstverständlich ist, sind also wirklich heterogen, „da die Lehrerinnen und Lehrer kein Kind auf andere niedrigere Schulformen verweisen können“ (Ratzki 2007, 75).18
Anzumerken ist, dass in skandinavischen Ländern Noten meist erst ab Klasse 7 oder 8 erteilt werden und keine Funktion hinsichtlich einer möglichen Selektion haben. Im deutschen Schulsystem dagegen beginnt der Leistungsdruck mit dem ersten Schultag! Hier liegt offensichtlich eines der zentralen Probleme: „Die individuelle Förderung eines Kindes und gleichzeitig die Orientierung an Gleichheitsgeboten sind im Kern unvereinbar“ (Bräu 2005, 141). Lehrkräfte stehen somit ständig unter dem Zwang, eine Balance zwischen Gleichheit und Differenz zu finden, was auch für den Fremdsprachenunterricht fatale Folgen nach sich zieht: Schülerinnen und Schüler sitzen den Großteil des Vormittags in Omnibus- oder Kinoreihen im Klassenzimmer und sollen sich möglichst ruhig verhalten, um den Unterrichtsablauf nicht zu stören, obwohl gerade Bewegung und Kommunikation das kognitive und soziale Lernen, den Stressabbau und die Konzentrationsfähigkeit fördern und Unterrichtsstörungen vermeiden könnten.19 Portioniert und zerstückelt wird im 45-Minuten-Rhythmus per Frontalunterricht das Schulbuch durchgeackert, in „Stillarbeit“ bzw. Einzelarbeit erledigen alle die gleichen Aufgaben, die anschließend in der Klasse gemeinsam besprochen werden. Alle lernen dieselben vom Lehrwerk vorgegebenen Vokabeln und schreiben Grammatikregeln oft ohne Einsicht von der Tafel ab. Schließlich werden diese über Klassenarbeiten, die von den Schulbuchverlagen bundesweit als Kopiervorlagen angeboten werden, abgeprüft.
Das hier skizzierte Szenario – in der fachdidaktischen Diskussion unzählige Male dargestellt und moniert, so dass hier keine weiteren Details erforderlich scheinen – mag vielleicht überspitzt klingen, doch aus der Perspektive vieler Schülerinnen und Schüler läuft der Alltag genau so ab.20 Dass diese Art von Unterricht wenig motiviert und wenig lernförderlich ist, stattdessen zu vielseitigen, nicht fachbezogenen Aktivitäten verführt (die wiederum als Störungen empfunden werden), liegt auf der Hand. Die oben holzschnittartig beschriebenen Eindrücke zur Unterrichtswirklichkeit decken sich übrigens weitgehend mit den Ergebnissen aus der bislang ersten DESI-Studie, die hier nur reduziert wiedergegeben werden kann: Eine Lehrkraft spricht im Englischunterricht „im Durchschnitt doppelt so viel (...) wie alle Schüler zusammen“ (Klieme 2006, 6), wobei die Videoaufzeichnungen aus 105 Klassen belegen, dass Selbsteinschätzung der Lehrkräfte und Unterrichtsrealität zu Ungunsten der Lernenden eklatant auseinanderklaffen: Lehrkräfte schätzen ihr Sprechzeit auf 51,47% ein, laut Videodokumentation beträgt sie jedoch 68,34% (DESI 2006, 48). Schülerinnen und Schüler haben laut Klieme (2006) kaum Zeit, sich auf Fragen eine Antwort zu überlegen, bevor sie von der Lehrkraft sozusagen „abgewürgt“ werden: Nach 3 Sekunden Wartezeit intervenieren 40 % der Lehrkräfte auf die eine oder andere Art, nur 11 % können warten (DESI 2006, 50). Als Medium dient an erster Stelle das Lehrwerk (96 %) und als Arbeitsform wird in erster Linie Frontalunterricht praktiziert, der gelegentlich durch Kleingruppenarbeit21 belebt wird, wohingegen „Lehr-Lern-Szenarien wie Freiarbeit, Stationenlernen und Projektlernen schon deutlich seltener vorkommen“ (Helmke u.a. 2008a, 372): bei vielen Lehrkräften nämlich überhaupt nie. Des Weiteren werden Lernende „so gut wie gar nicht (...) an der inhaltlichen Gestaltung des Englischunterrichts beteiligt und erfahren kaum Wahlmöglichkeiten, weder bei den Hausaufgaben noch in anderen Bereichen, in denen dies prinzipiell möglich wäre“ (Ebd., 380). Differenzierende Maßnahmen werden zwar laut DESI-Studie gelegentlich durchgeführt, aber selten als tatsächliche Herausforderung für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler konzipiert, sondern weitgehend durch zusätzliche Aufgaben im Sinne eines zeitlichen Puffers realisiert, bis alle sozusagen wieder zusammengeführt werden können. Somit verwundert es also nicht, „dass nach Expertenschätzungen im deutschsprachigen Raum bis zu 50 Prozent aller Hochbegabten unentdeckt bleiben“ (Solzbacher 2007, 78).
Was die Testsituation anbelangt, ist abzusehen, dass sich diese in Zukunft noch verschärfen wird, denn die DESI-Studie war quasi der Vorläufer für zukünftige Kompetenzüberprüfungen – auch auf internationaler Ebene. Für das weitere Vorgehen beabsichtigt man, noch differenziertere „Kompetenzmodelle“ (Klieme 2006, 1) zu entwickeln, die dann entsprechend abgeprüft werden. Wie sich das auf die Unterrichtsgestaltung auswirkt, wird sich zeigen: Teaching to the test? Oder: Learning for life?
Traurig, aber nicht wirklich verwunderlich, sind die zahlreichen Befunde aus der Bildungsforschung, die belegen, dass die Schule offensichtlich ein „Motivationskiller“ ist und die Bildungsmotivation von Schülerinnen und Schülern mit zunehmender Jahrgangsstufe abnimmt (vgl. Kapitel 4), was vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Strukturwandels, der nicht nur umfassende Kompetenzen, sondern auch eine erhöhte und anhaltende Bildungsmotivation verlangt, äußerst problematisch ist. So vertreten Schober und Spiel, zwei Bildungspsychologinnen mit Schwerpunkt „Lebenslanges Lernen“ an der Universität Wien, die Meinung, dass die Schule „derzeit offenbar nur in begrenztem Umfang zur Förderung jener Kompetenzen und Haltungen“ beiträgt, die Schülerinnen und Schüler auf lebenslanges Lernen vorbereiten (Schober/Spiel 2004, 210). Sie verweisen dabei auf zentrale Befunde ihrer Studien, die sich beispielsweise weitgehend auch mit Vollmeyer (2009) decken:22
Kinder „beginnen ihre Schulkarriere mit durchaus positiven motivationalen Ausgangsbedingungen“ (Schober/Spiel 2004, 210), doch leider nimmt das Interesse an Schule und schulischem Lernen mit zunehmender Klassenstufe ab. Dies steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Bildungswege für alle länger und anstrengender geworden sind, so dass im Hinblick auf das Lerninteresse eigentlich eine gute Ausdauer erforderlich wäre.
Schülerinnen und Schüler haben grundsätzlich Spaß am Lernen, wenn sie Sinn darin erfahren, und wenn sie Kompetenzempfinden, soziale Eingebundenheit, Selbststeuerung und die Berücksichtigung eigener Interessen erleben (Ebd.). Allerdings lassen diese förderlichen Kontextbedingungen in der Realität offensichtlich zu wünschen übrig.
Klassische geschlechtsspezifische Muster sind nach wie vor bestimmend – vor allem in bestimmten Fächern.23 Mädchen bevorzugen eher kooperative Lernformen, die jedoch im Schulalltag eher wenig praktiziert werden. Sie haben trotz besserer Schulleistungen, wie diverse OECD-Studien zeigen, ein sehr viel niedrigeres Selbstbewusstsein als Jungen (Hurrelmann/Bründel 2007, 119). Dieser Befund wird auch in der DESI-Studie (DESI, Hrsg. 2008) sowie im OECD-Bildungsbericht 2015 (OECD 2015) bestätigt.
Insbesondere ältere Schülerinnen und Schüler messen Erfolge weniger am eigenen Fortschritt und gehen häufig davon aus, „dass die eigenen Fähigkeiten (...) weitgehend stabil und nicht beeinflussbar“ sind (Schober/Spiel 2004, 206). Oft fehlt es also am Selbstvertrauen, was hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit fatale Folgen hat.
Lehrkräfte sehen die motivationale Situation der Lernenden „meist nur mittelmäßig positiv bzw. mit Blick auf die Ziele und die Steuerung des Lernens sogar eher ungünstig“ (Ebd., 210).
Lehrkräfte erachten ihren Anteil am Zustandekommen von Erfolgen oder Misserfolgen der Lernenden als eher gering, was zur Folge hat, dass sie keine Möglichkeit sehen, deren Lernmotivation zu verändern und sich somit eine eigene Handlungsunfähigkeit zuschreiben. In der Tat bestätigte PISA, dass sich deutsche Schülerinnen und Schüler beim Lernen „durch ihre Lehrer eher nicht unterstützt fühlen“ (Sacher 2005, 29). Deutschland nahm hier im internationalen Vergleich Platz 28 ein (Ebd.).
„Viele Lehrkräfte denken nicht, dass ihre Schüler(innen) gut mit Misserfolgen umgehen können“ (Schober/Spiel 2004, 211). Diese Kompetenz ist jedoch von zentraler Bedeutung für lebenslanges Lernen.
Und: „Lehrkräfte sehen derzeit nur wenige Möglichkeiten der Schule, die Kompetenzen für Lebenslanges Lernen zu vermitteln“ (Ebd.).
Aus der Quelle der ersten beiden PISA-Studien schöpfend, sieht Konrad Schröder (2005) auch im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht eindeutige Warnsignale, wenn man nämlich die Befragungsergebnisse der Kontexterhebung betrachtet: „Die Einstellungen zum Lernen, das fachbezogene Interesse, das Leseinteresse, das Interesse an Lern- und Arbeits-Software, die Schuldisziplin, die Leistungserwartungen der Lehrer und ihr Interesse am Lernfortschritt ihrer Schüler sind allesamt unterdurchschnittlich ausgeprägt“ (Ebd., 40f.).
Im Rahmen der DESI-Studie wurde nachgewiesen, dass sich auch im Fach Englisch „zwischen Beginn und Ende der neunten Jahrgangsstufe (...) eine signifikante Abnahme beim Lerninteresse und – vor allem im Bildungsgang Hauptschule – noch stärker bei der Testmotivation“ zeigt (Helmke u.a. 2008b, 248).24 Man kommt zu dem Schluss, dass sich ein „das Lerninteresse fördernder Unterricht“ letztendlich „auch in der Leistungsbilanz positiv“ niederschlägt (Ebd., 254). Dieser Befund, auch wenn er nicht wirklich etwas Unerwartetes zutage gebracht, sondern lediglich einen allseits bekannten Verdacht bestätigt hat, wirft hinsichtlich der vielen im Englischunterricht vernachlässigten Potenziale einige Fragen auf, insbesondere wenn es um die Lebens- und Zukunftschancen der jungen Menschen geht, die zunehmend auf die Beherrschung des Englischen als lingua franca sowie diverser interkultureller Kompetenzen in der multikulturellen, globalen und medienbestimmten Gesellschaft angewiesen sind. Aus meiner Sicht könnte der Storyline Approach im Umgang mit den obigen Problemen eine gute Basis bilden: Ob bzw. inwiefern sich Storyline-Projekte positiv auf Motivation sowie Lern- und Arbeitsverhalten auswirken, sollen meine Fallstudien zeigen (vgl. Teil B).