Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 16
1.6.2.1 Allgemeine und überfachliche Kompetenzen
ОглавлениеIm Übergang von Industriegesellschaften zu wissensbasierten und wissenschaftsorientierten „Großgesellschaften“ sollten sich laut Lenz (2004b, 120f.) die einzelnen Gesellschaftsmitglieder mit den folgenden Themenfeldern auseinandersetzen:
Historische Kompetenz: Zum Verständnis der Geschichte und deren Einfluss auf Gegenwart und Zukunft.
Wissenschaftliche-technologische Kompetenz: Tiefere Einblicke in Bereiche wie Technologie, Natur- und Sozialwissenschaften sind für Mitglieder einer wissenschaftsorientierten und -gelenkten Gesellschaft unabdingbar.
Politische und soziale Kompetenz: Zur Ausübung von Gerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft(en).
Emotionale Kompetenz: Zum Umgang mit positiven und negativen Veränderungen, den eigenen (positiven und negativen) Gefühlen und Trieben; Respekt und Toleranz für Menschen jeglicher Herkunft sowie Lebewesen allgemein.
Interkulturelle und religiöse Kompetenz: Kenntnisse und Erfahrungen hinsichtlich kultureller Unterschiede in Verhaltensweisen und religiöser Auffassungen über den Sinn des Lebens.
Organisationale Kompetenz: Zum Leben in diversen Gruppen (Intimität in Familie, Partnerschaft usw.) und Organisationen (Anonymität in Großorganisationen usw.).
Kommunikative und kritische Kompetenz: „Informationen bewerten, Wissen aneignen, Erkenntnisse und Einsichten gewinnen, Urteilskraft stärken, eigene Entscheidungen treffen und beurteilen“ (Ebd., 121).
Lenz (2004b) ergänzt die genannten Themenfelder um weitere aus seiner Sicht wünschenswerte Kompetenzen „für die Gestaltung sinnvollen Lebens und Arbeitens“ (Ebd., 121):
Selbstvertrauen: Sich und andere Lebewesen achten; achtsam sein; Grenzen erkennen und einhalten; Erfolg und Misserfolg meistern usw.
Wissen: Sprachen und Fachkenntnisse erwerben; Informationen filtern, bewerten, strukturieren und eingliedern usw.
Interkulturalität: „Die eigene Kultur als ein Teil vieler Kulturen schätzen; interkulturelle Freundschaften haben; flexibel und offen aber mit eigenem Standpunkt; Vorurteile erkennen und benennen; Entwicklungen einschätzen können; Konflikte historisch verstehen“ (Ebd., 121).
Individualität: Sich als (einmaliger) Teil verschiedener sozialer Gefüge empfinden; positive Beziehungen zu sich, zu anderen, zur Umwelt aufbauen und gestalten usw.
Zuneigung: Beziehungs- und liebesfähig sein; Kontaktpflege; Kommunikation auf verschiedenen Ebenen realisieren usw.
Mitleid: „Abhängigkeit menschlicher Existenz in Stärken und Schwächen ertragen; (...) Widersprüche und Unsicherheiten des Daseins aushalten; sich mit anderen freuen können; das Leid Fremder respektieren; Glaubensformen und Religiosität achten“ (Ebd., 122).
Ausgehend von der Frage, welche Kompetenzen für Gesellschaft und Individuen von höchster Bedeutung und durch Universalität und Multifunktionalität gekennzeichnet sind, nennt Erich Svecnik (2004), am Grazer Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung tätig, zunächst drei generische Schlüsselkompetenzen, „nämlich autonomes Agieren, interaktives Nutzen von Werkzeugen und Eingliedern und Mitwirken in heterogenen sozialen Gruppen“ (Ebd., 196) sowie acht konkrete Schlüsselkompetenzen, die am Ende der Schulpflicht erworben sein sollten. Diese im Rahmen des OECD-Projekts DeSeCo (Definition and Selection of Competencies) entwickelten Kompetenzen gelten als Mindesterfordernisse für europäische Bürgerinnen und Bürger und als Basis für weiteres lebenslanges Lernen.1 Sie dienen dem Individuum zur Bewältigung des persönlichen und beruflichen Lebens sowie zur Partizipation in der Gesellschaft. Da sich diese Schlüsselkompetenzen mit den oben erläuterten Kompetenzen teilweise decken oder selbsterklärend sind, werden sie hier lediglich aufgeführt, aber zum Teil nicht mehr weiter beschrieben (Ebd., 198f.):
Muttersprachliche Kommunikation
Grundlegende Kenntnisse und Verständnis der Mathematik und Naturwissenschaften
Erwerb zweier Fremdsprachen
Umgang mit Informations- und Telekommunikationstechnologien
Lernbereitschaft und Lernfähigkeit als wesentliche Grundlage des lebenslangen Lernens, das heißt, die eigenen Lernprozesse organisieren, steuern, aufrecht erhalten: „Positives Selbstkonzept und Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Wertschätzung für das Lernen und Initiative spielen dabei ebenso eine Rolle wie das Wissen um Lernangebote und Lernstrategien“ (Ebd., 199)
Soziale Kompetenzen auf der Mikro- und Makroebene
Entrepreneurship im Sinne von Selbstkompetenz wie Verantwortungsbewusstsein, Initiativgeist, Organisieren, Evaluieren von Handlungsschritten, Umgang mit Risiken usw.
Kulturelles Bewusstsein, also Wissen und Verständnis für den kulturellen und historischen Hintergrund der Individuen sowie eigene kulturelle Betätigung.
Der Entwicklung dieser Schlüsselkompetenzen wird mittlerweile in den meisten europäischen Lehr- bzw. Bildungsplänen Priorität eingeräumt (Svecnik 2004). Sie dienen im Übrigen auch als Indikatoren für internationale Leistungsvergleichsstudien. Allerdings müssen Schülerinnen und Schüler nicht nur die zum lebenslangen Lernen erforderlichen Fähigkeiten erwerben, „sondern auch die Motivationen und Werthaltungen, die sie überhaupt erst in den weiteren Lernprozess einsteigen lassen, vermittelt bekommen“ (Ebd., 202). Wie die vorherigen Ausführungen gezeigt haben, scheint dies eine der größten Herausforderungen für unser Bildungssystem zu sein (vgl. Kapitel 1.5). Möglicherweise können Storyline-Projekte hier einen positiven Beitrag leisten (vgl. auch Teil B).
Bevor nun explizit Bezug zum Fremdsprachen- bzw. Englischunterricht genommen wird, soll noch – unabhängig von den Zielvorstellungen der OECD – ein weiterer überfachlicher bzw. fächerübergreifender Kompetenzbereich berücksichtigt werden, der nicht nur von großer gesellschaftlicher Relevanz ist, sondern auch in engem Zusammenhang mit dem fremdsprachlichen Lernen steht: Medienkompetenz2. Da dieser Begriff meines Erachtens (auch in der fachdidaktischen Diskussion) häufig inflationär3 verwendet wird, soll er hier näher erläutert werden, zumal Medienkompetenz erheblich dazu beitragen kann, die „fragmentierte Gesellschaft“ zu vereinen und somit mehr Gerechtigkeit zu erzeugen.
Obwohl unser Alltag in vielerlei Hinsicht durch Medien beeinflusst und bestimmt wird, und Medien mitunter sogar über Krieg und Frieden zu entscheiden scheinen (Krach/Mascolo 2000), stellt Faulstich (2004a) besorgt fest, dass die Mitglieder unserer medienbestimmten Gesellschaft eine erstaunliche Medienignoranz an den Tag legen. Er fordert deshalb eine umfassende Medienkompetenz für „die geistige und soziale Ökologie“ (Faulstich 2004b, 231) der Gesellschaft im 21. Jahrhundert und betont: „Ein fundiertes, breites Wissen über Medien und die Fähigkeit, sich ihrer souverän und funktional zu bedienen, sind Zielvorstellungen, die heute ebenso in den Überlebenskatalog gehören wie Frieden und saubere Umwelt“ (Faulstich 2004a, 8). Chomsky (2003) fordert – in weiser Voraussicht – so genannte Kurse für geistige Selbstverteidigung, um sich gegen Manipulation und Kontrolle der Medien wehren zu können. Faulstich (2004b, 230f.) beleuchtet insgesamt sieben Dimensionen von Medienkompetenz, die erforderlich sind, um das Problem der entstehenden Wissenskluft zwischen Medienkundigen und Medienunkundigen in Griff zu bekommen:4
Medien und Realität: Zwischen Medienwirklichkeit und medialer Darstellung von realer Wirklichkeit unterscheiden.
Medien und Erwartung: Medien nach eigenen Interessen, individuellen Umständen und Bedürfnissen rezipieren.
Medien und Genuss: Medienangebote nach dem eigenen emotionalen Nutzen auswählen.
Medien und Kritik: Medienangebote unterscheiden, analysieren und kritisch reflektieren.
Medien und Orientierung: Medien gezielt auswählen und kombinieren, um in der komplexen Medienlandschaft handlungsfähig zu sein.
Medien und Gestaltung: Medien aktiv nutzen, sich vielseitig an der Medienkommunikation beteiligen sowie Medien kreativ gestalterisch zur Identitätsbildung und Selbstverwirklichung einsetzen.
Medien und Anschlusskommunikation: Sich über Medien in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Kulturen austauschen und eigene Medienkommunikation flexibel regulieren.
Auch Tulodziecki (2008) hebt hervor, dass in einer stark von Medien mitgestalteten Welt ein Lernen mit Medien nicht ausreicht, sondern ergänzt werden muss, durch ein Lernen über Medien, wenn man von Medienkompetenz sprechen will. Als Leitlinie für die schulische Erziehungs- und Bildungsarbeit nennt er sachgerechtes, selbstbestimmtes, kreatives und sozial verantwortliches Handeln und erwähnt fünf medienbezogene Aufgabenbereiche, die nicht nur „im Rahmen geeigneter Unterrichtseinheiten oder Projekte umgesetzt“ (Ebd., 9), sondern auch in der gesamten Schulentwicklung berücksichtigt werden sollten:
Auswählen und reflektiertes Nutzen von Medienangeboten unter Abwägung von Handlungsalternativen.
Eigenes Gestalten und Präsentieren bzw. Verbreiten von Medienbeiträgen.
Verstehen, Vergleichen und Bewerten von Mediengestaltungen.
Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen auf Gefühle, Realitätsvorstellungen, Verhaltens- und Wertorientierungen oder soziale Zusammenhänge.
Durchschauen und kritisches Beurteilen von ökonomischen, rechtlichen, politischen, personalen, institutionellen, gesellschaftlichen und anderen Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung (Ebd., 8f.).
Medienerziehung heißt also nicht (nur) – wie irrtümlich oft angenommen – Kompetenzen bzw. Fertigkeiten im technischen Sinne zu vermitteln, etwa wie man einen Computer bedient, sondern verschiedene Medien insgesamt flexibel, souverän und kritisch zu nutzen sowie eigene Medien für diverse Zwecke und Interaktionssituationen kompetent selbst herzustellen und reflektiert einzusetzen – und zwar auch im Fremdsprachenunterricht. Darüber hinaus können Medien auch einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz und zur aktiven Integrationsarbeit leisten. Geißler und Pöttker (2005) haben untersucht, in welchen Zusammenhängen Migrantinnen und Migranten in deutschen Massenmedien dargestellt werden bzw. wie Deutschland in ausländischen Medien präsentiert wird. Sie kamen zu dem Schluss, dass die deutschen Medien sowohl einen Beitrag zur „aktiven Akzeptanz“ der Migrantinnen und Migranten leisten können als auch möglichst viele der Bleibewilligen als Rezipientinnen bzw. Rezipienten gewinnen sollten, „um diese bei der interkulturellen Integration und bei der Wahrnehmung von Chancen in der deutschen Gesellschaft zu unterstützen“ (Ebd., 396). Aufgaben mit dem Ziel einer (kleinformatigen) vergleichenden Kulturstudie und/oder der kulturellen und sozialen Integration könnten mit entsprechenden Medien auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisiert werden – beispielsweise im Rahmen eines Storyline-Projekts (vgl. Kocher 2008). Somit würde der Begriff „Medienkompetenz“ eine neue Dimension im Fremdsprachenunterricht erhalten und zugleich einen Bogen zu intercultural bzw. cross-cultural awareness schlagen.