Читать книгу Mein Sohn Elisabeth - Doris Schumacher - Страница 12
Geburtsgeheimnis
ОглавлениеAls Erstgebärende erfahren wir so einiges über die Geburt, doch was wir nicht erfahren, ist, wie sie wirklich ist! Schwangerschaftsbücher geben Auskunft über verschiedene Phasen und Abständen von Wehen, geben grobe zeitliche Schätzungen ab, wie lange jede einzelne Phase dauern wird, muntern uns auf mit Sätzen wie »Klammern Sie sich an den Gedanken, dass es immer eine Pause gibt« oder »Sie sind nicht alleine«, womit die Anwesenheit von ÄrztInnen, Hebammen und der eventuell mehr oder weniger hilfreichen Begleitpersonen gemeint ist, erklären die verschiedenen Arten von Geburten – ob im Wasser, zuhause, im Hocken oder Vierfüßlerstand –, geben dem Partner Hinweise, womit er sich bestenfalls nützlich machen kann, doch es bleibt alles Theorie, und das wissen wir auch. Wie es wirklich ist, werden wir erst erfahren, wenn es soweit ist.
Weibliche Bekannte, Mütter, Tanten – viele von ihnen haben »es« selbst erlebt, aber keine spricht darüber. Unsagbare Schmerzen, ja, und die triumphreiche Aussage: »Wie gut, dass Männer keine Kinder kriegen müssen…«, denn Männer gelten ja allgemein eher als wehleidig. Soviel gibt noch eine jede preis, aber wenn man fragt, wie es denn so gelaufen sei, kriegt man zur Antwort ein optimistisches »Gut!«. Auch hier: Auskünfte über Zeiten, wann und womit sie ins Krankenhaus gefahren sind, wann das Kind als offiziell geboren galt, Kilogramm, Zentimeter, Augenfarbe, die obligatorischen ein bis drei Vornamen, Anekdoten über weinende und ohnmächtige Väter (»Lieber Mann, atmen Sie bitte nicht mit der Frau mit, es bekommt Ihrem Kreislauf nicht gut – Ihr Schwangerschaftsratgeber.«) – aber nicht, wie es wirklich war. Besonders Schilderungen männlicher Begleitpersonen stehe ich mit großer Skepsis gegenüber, ohne ihnen unterstellen zu wollen, dass sie durch die Geburt nicht mindestens genauso mitgenommen wurden wie Mutter und Kind.
In Gesprächen mit Menschen, bei denen es schon länger her ist, fallen öfters die Begriffe »besonderes emotionales Ereignis«, »einzigartig«, »bewegend«, »unvergesslich«, und es herrscht die einhellige Meinung, eine Geburt »verändere das Leben von Grund auf«. Leuchtende Augen. Es wirkt alles ein bisschen verklärt, so wie bei dem Gedanken an Weihnachten, wie sie früher waren, als gerade noch rechtzeitig an Heiligabend Schnee fiel. Aber wie war es wirklich? Ein Geheimnis.
Die Bloggerin Susanne beobachtet in ihrem Blog notyetaguru.com über die Rückkehr in den Job nach der Elternzeit ein ähnliches Phänomen: »Keine Mutter sagt einer anderen: ›Zieh Dich mal warm an Schätzelein, du bist am Arsch während der Kita-Eingewöhnung. Den ersten Winter im Kindergarten überstehst du nur mit ganz viel Glück, Oma und einer Flasche Rotwein.‹ Nope. Es ist ein wohlgehütetes Geheimnis, wie der Geburtsvorgang. Da sind wir selber schuld? Das ist so ein Frauen-Ding? Weil wir uns alle hassen?«
Wir würden nicht behaupten, dass uns alle unsere weiblichen Bekannten und Verwandten unbedingt hassen, aber irgendetwas ist dran an der Geburt, worüber keine wirklich sprechen will. Das müssen wir respektieren, es hilft uns nur nicht weiter. Wir haben letztlich zwei Möglichkeiten: entweder, wir erklären uns die Geheimniskrämerei damit, dass es ein so traumatisches, schreckliches, grausames Erlebnis ist, dass niemand, der es durchgemacht hat, darüber Auskunft geben will, dann frage ich mich aber, wie danach noch irgendwer über ein zweites Kind nachdenken kann. Oder sie wollen es nicht detaillierter thematisieren, weil ihnen die Glückshormone so wahnsinnig den Verstand vernebelt haben, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können, wie es wirklich war? Zugegeben, beide Erklärungsmodelle haben ihre Schwächen.
Das Einzige, was ich noch nie von einer gewordenen Mutter gehört habe und was doch moralisch wirklich helfen würde, ist die simple Formel: »Es ist nicht so schlimm. Es geht vorbei.« Nein. Nur geheimnisvolle Blicke, vielsagendes Schweigen und auf Nachfrage ein paar vage Infos. Vielleicht steckt der Gedanke dahinter: »Sie soll es erstmal selbst erleben, und wenn sie in den Kreis der Wissenden eingetreten ist, können wir ja bei Gelegenheit unsere Erfahrungen austauschen.«
Die wilden Geburtsgeschichten gibt es auch, aber die erzählen auffallenderweise immer gerne Menschen, die selbst keine Kinder geboren haben. Von Riesenbabys mit über fünf Kilo Geburtsgewicht und völlig zerfetzten Unterleibern, von Babys, die die ganze Schwangerschaft über Mädchen waren und dann plötzlich als Jungs den Mutterleib verließen, von endlosen Qualen und durchlittenen Tagen und Nächten, sodass wir uns fragen: Wie haben die das nur überlebt? Schaffe ich das auch? Frauen sind hart im Nehmen. Aber so hart sind wir auch wieder nicht… Und wenn der Albtraum vorbei ist, dann arbeiten wir am Brüderchen oder Schwesterchen?
Oder ist es wie bei einem Umzug? Währenddessen und kurz danach schwören wir uns: Nie wieder! Doch nach zwei bis drei Jahren verspüren wir trotzdem wieder den Wunsch nach einer Veränderung? Ist es nun eine Strafe Gottes oder das, was uns wirklich wachsen lässt? Wachstum tut weh. Das wissen wir. Veränderungen tun auch weh, und der befreiende Effekt stellt sich oft erst ein, wenn die Wunden verheilt sind.
In einigen voyeuristischen, pseudoinformativen Fernsehsendungen kann man werdende minderjährige Mütter bei ihren Geburtsqualen beobachten, in ihre schmerzverzerrten Gesichter blicken, ihre Schreie hören, ihre Hilflosigkeit spüren – wenn man dazu die Nerven hat. Menschen in Krankenhausklamotten wirken immer hilflos. Auch, wenn sie es vielleicht gar nicht sind. Möglicherweise ist das der Grund, warum niemand darüber spricht: das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Sich nicht helfen zu können. Kontrolle ade, willkommen Leben! Aber wir wissen auch, dass im Fernsehen selten die schönen, langweiligen Dinge gute Quoten bekommen.
Theodor Ziemßen, ein stolzer Vater, schreibt in der Spiegel-Kolumne »Elterncouch« vom 3. August 2016: »Ich glaube, dass eine Geburt das Drastischste ist, was der durchschnittliche Mitteleuropäer erleben kann: Die Frau, die man liebt, in schlimmen Schmerzen, von Wehen durchgeschüttelt, irgendwann völlig aufgelöst und erschöpft.« Und an anderer Stelle im Text: »Das Bett sah aus wie ein Schlachtfeld. So viel Blut.«
Ich finde seine Offenheit bemerkenswert und seine ehrliche Bewunderung für Mutter und Kind ein wunderbares Zeichen der Empathie und Menschlichkeit. Aber: Schmerzen, Erschöpfung, Blut… Wer sich alle paar Wochen mit dem Prämenstruellen Syndrom und anschließenden Regelbeschwerden herumschlägt, Migräneattacken und regelmäßigen Blutverlust gelassen hinnimmt und pflichtbewusst zur Tagesordnung übergeht, findet auch diese Vorstellungen nicht weiter bedrohlich. (Ob Wehen sich so anfühlen wie eine sehr fiese Migräne im Bauch?)
Am Ende der Kolumne steht zu allem Überfluss noch die Aufforderung: »Verraten Sie Ihre dramatischste, absurdeste, lustigste oder schönste Episode bei der Entbindung. Ich freue mich auf Ihre Zuschriften!«
Also doch alles ein bisschen zugespitzt? Für die Leser? Für den Gänsehauteffekt?
Aber wie war es nun wirklich? Und hätte seine Frau die »Episode« genauso kurzweilig beschrieben? Wo bleibt der Hinweis: »Seien Sie bitte ehrlich«?
Warum muss es denn dramatisch, absurd, lustig, schön sein? Hat eine Geburt gar Unterhaltungswert? Übrigens stellt auch der Autor erleichtert fest, es sei ein Glück, dass nicht er das Kind bekommen musste. Nun ja. Ich bin nicht sicher, ob diese Form der Anerkennung uns ein Trost ist. Wie heldenhaft wir Frauen doch sind…
Apropos Heldinnen. In Moçambique ging im Jahr 2000 ein Fall durch die Medien, in dem ein Kind auf einem Baum geboren wurde. Die Mutter hatte sich gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter bei einer heftigen Überschwemmung bereits vier Tage zuvor auf eben jenen gerettet, als die Geburt einsetzte. Vier Tage ohne Wasser, ohne Essen, klammerte sie sich an den Ästen fest, während ihre Schwiegermutter ein Tuch so hielt, dass das Kind nicht hinunterfallen konnte. Irgendwann wurden sie dann vom Hubschrauber abgeholt, da war das Baby bereits geboren. Wie haben sie das gemacht? Woher wussten sie, was zu tun war? Hatte die Mutter einen Geburtsvorbereitungskurs besucht? Beherrschte sie die richtige Atemtechnik? War alles Instinkt? Wieder einmal erfahren wir nicht, wie es wirklich war. Sie haben überlebt, Kind, Mutter und Schwiegermutter. Es ist alles ganz normal. Ich glaube, das Mädchen ist ein Einzelkind geblieben.
Als Mitteleuropäerinnen mit Krankenversicherung, gut ausgebildetem Krankenhauspersonal und Zugang zu Informationen und Vorbereitungskursen, müssten wir uns eigentlich keine Sorgen machen. Und uns immer wieder sagen: »Sie haben es überlebt. Sie würden es wieder tun. Also kann es gar nicht so schlimm sein.«
Unwissenheit macht Angst. Aber Angst lüftet auch nicht das Geheimnis um den Geburtsvorgang. Wir haben Angst, die Kontrolle zu verlieren. Nicht zu wissen, was mit uns geschieht. Werden wir dem Ereignis gewachsen sein, wie alle anderen?
Ohne uns verrückt machen zu wollen, schwanken wir zwischen dem Verlangen nach Informationen und dem Vermeiden übertrieben ausgeschmückter Schauergeschichten. Die, die es erlebt haben, sprechen nicht darüber. Und alles andere bleibt Theorie. Wir wissen nur, dass die meisten Paare hinterher immer sehr glücklich in die Kamera lächeln und ein kleines zerknittertes Etwas in ihrer Mitte halten. Diese Bilder geben uns Vertrauen. Und ich glaube, Vertrauen ist letztlich das, was wir brauchen. Vertrauen in unsere Kinder, dass sie ihren Weg ins Leben finden. Nehmen wir uns vor, ihnen nach besten Kräften dabei zu helfen. Schließlich kämpfen wir ja nicht alleine. Nein, damit meine ich nicht den halb ohnmächtigen Vater oder die beste Freundin, der wir auf ewig dankbar und verbunden bleiben werden, weil sie uns in diesen Stunden beigestanden hat. Ich meine das kleine runzelige Wesen, das wir bald in unseren Händen halten werden, das jetzt noch fröhlich seine täglichen Trainingseinheiten in Kickboxen in unserem Bauch vollführt. Wer früh übt, wird später auch einmal den Sieg heimtragen. Sehen wir das Geheimnis der Geburt ein bisschen auch als Vorschau auf das Geheimnis des Lebens. Wer seinen Weg ins Leben findet, hat gute Chancen, auch seinen Weg im Leben zu finden. Wir sind dabei, wir helfen mit. Lassen wir unser Kind seine eigenen Kämpfe austragen. Vertrauen wir ihm. Seien wir nicht zu ehrgeizig. Maßen wir uns kein Urteil über die Qualität oder Intensität des Kampfes an. Geben wir die Kontrolle ab. Wir haben es damals geschafft. Unsere Kinder werden es auch schaffen.
Und versprechen wir, dass wir ihnen eines Tages sagen werden, wie es wirklich ist.