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Es ist nicht leicht, perfekt zu sein
ОглавлениеVorige Woche, also, da ist es mir passiert. Schinken. Er war einfach da. Ich habe ihn gegessen. Geräuchert, nicht gekocht. Und der Käse, der war weder aus Deutschland noch gekennzeichnet. »Listerien«, »Keime«, »vielleicht ist es Rohmilch«, »Infektionen«, »Frühgeburt« schwirrte es mir durch den Kopf. Und dann plötzlich der Gedanke. Ich wage es kaum, ihn laut auszusprechen, aber ich habe mir vorgenommen, ganz ehrlich zu sein. Auch er war plötzlich einfach da. Und er war von der Art Gedanken, die einen so für sich einnehmen, so überzeugen… – eben einer aus dem tiefsten Inneren: ›Mich gibt es schließlich auch noch.‹
So. Trotzreaktion? Egoismus pur?
Ich halte mich nicht für einen egoistischen Menschen, wenngleich ich davon ausgehe, dass wenn es mir gut geht, es den Menschen in meinem Umfeld auch gut geht. Nicht zwangsweise als unmittelbare Kausalität, also nicht nach dem Motto: ich symbolisiere das Heil meiner Liebsten, nein. Aber sozusagen als These, die sich, wenn man sie auf den Kopf stellt, schon sehr vernünftig anhört. Wenn es mir nicht gut geht, geht es den Menschen in meinem Umfeld auch nicht so gut.
Egoismus war es also nicht, aber eine leichte Trotzreaktion schon. Ich will schließlich ganz ehrlich sein. Denn bevor ich schwanger war, da dachte ich: Schwangerschaft – ein Kinderspiel. Jetzt, ein gutes halbes Jahr später, muss ich sagen: Falsch gedacht.
Ich sehe mich als Teil eines sehr großen, wenn nicht gar unüberschaubaren Kollektivs Wohlwollender Werdender Mütter (WWM), für die ich als selbsternannte Stellvertreterin jetzt mal grundsätzlich einige Dinge aussprechen will.
Erstens: Wir nehmen keine Drogen und keine nicht vorgeschriebenen Medikamente. Wir haben keine Krankheiten, die irgendwie das Wohl unseres Kindes gefährden könnten.
Zweitens: Wir rauchen nicht, trinken keinen Alkohol und wenig oder keine koffeinhaltigen Getränke.
Drittens: Wir schlemmen nicht, vor allem (fast) kein Fastfood, da wir genau wissen, wir würden davon nur Verstopfung kriegen (egoistisches Motiv, Abk. EM) und dem Sich-von-unserer-Nahrung-ernährenden-Nachwuchs (SVUNEN) auch nichts Gutes tun (altruistisches Motiv, Abk. AM)
Viertens: Wir essen viel Gemüse und Obst, ab und zu Fleisch und Fisch, ausreichend Milch- und Getreideprodukte, so gut es in unserer lebensmittelzüchtenden Welt eben geht.
Fünftens: Wir sind nicht sehr übergewichtig und nicht sehr untergewichtig.
Sechstens: Wir sind zwar vielleicht über fünfunddreißig, aber auch noch keine fünfzig (wobei nicht gesagt ist, dass Fünfzigjährige keine gesunden Kinder zur Welt bringen können).
Siebtens: Wir bewegen uns gerne und regelmäßig an der frischen Luft.
Achtens: Wir arbeiten in und an einer harmonischen Umgebung, um uns und unserem Kind ein schönes Leben zu bereiten (EM und AM).
Neuntens: Wir sorgen für ausreichend Schlaf und möglichst wenig Stress, verschieben den Drang, uns permanent zu überarbeiten oder sonst wie zu verausgaben zumindest bis auf die Zeit nach der Entbindung und halten die damit verbundenen, für den SVUNEN schädlichen Hormonausschüttungen in Schach.
Zehntens: Wir gehen zu den Vorsorgeuntersuchungen und informieren uns. In Büchern. Bei Ärzten. Bei Hebammen.
Und wenn uns der werdende Vater nach einer der Vorsorgeuntersuchungen unschuldig fragt, wie es war und ob denn alles in Ordnung sei, antworten wir im Idealfall (IF): »Alles bestens, alles so, wie es sein soll.«
Aber, wenn wir ehrlich sind, ganz sicher sind wir uns nicht. Denn dieses Zehntens ist gleichzeitig unser Stolperstein, unsere schlaflose Nacht, das Tüpfelchen auf dem »i«, das kleine Teufelchen in unserem Ohr, das uns tagtäglich einflüstert: »Du bist nicht perfekt.« »Es könnte noch das und das sein…« »Dieses und jenes Risiko hast du nicht bedacht…« »Und wenn dann ausgerechnet X passiert?« »Tja, und das hast du bestimmt auch übersehen.«
Denn schließlich, so wird uns WWM suggeriert, sind wir allein (abgesehen von unseren GynäkologInnen, die uns im IF nur einmal im Monat zu Gesicht bekommen) für das Wohl unseres SVUNEN zuständig. Verantwortlich. Allein. Nur. Wir.
Und wenn wir es vermasseln, dann gnade uns unser Schuldgefühl. Denn wir können nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt.
Wir sind über alle Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt worden, vor allem über jene, die einige Vorsorgeuntersuchungen selbst mit sich bringen. Wir sind informiert über Umwelteinflüsse, Handystrahlungen, Infektionskrankheiten, Frühgeburten, Fehlgeburten, Fehlbildungen, Chromosomenstörungen, Karies und Zahnfleischprobleme, Mineralstoffmangel, Unterversorgung, körperliche und psychische Überlastung, Herzfehler, offene Rücken, Blutungsrisiken, Allergien, Cervixinsuffizienz, Gaumenspalten, abgelaufene Lebensmittel, Toxoplasmose, Röteln, Masern, Mumps, et cetera et cetera. Betrachtet man die Fülle an möglichen Komplikationen, kann man es nur als Wunder ansehen, dass man nicht irgendetwas davon abbekommen hat, und sei es nur eine klitzekleine Infektion. Da nützt, rein psychologisch, auch das Wissen wenig, dass fünfundneunzig Prozent der Kinder völlig gesund zur Welt kommen.
Wir lassen die Wahrscheinlichkeit für gewisse Störungen berechnen und zerbrechen uns Tage vorher den Kopf, was wir im Falle eines negativen Ergebnisses tun würden, denn dies wird uns geraten, und als gewissenhafte WWM setzen wir uns brav damit auseinander. Wir nehmen die hormonellen Veränderungen in unserem Körper gelassen hin und tun nichts, um uns oder unseren Angehörigen die Laune zu verderben. Schließlich überträgt sich das ja alles auf das Baby und die beste WWM ist eine entspannte WWM. Wir wissen beim Einkaufen für den SVUNEN Bescheid über ideale Transportmöglichkeiten, Vor- und Nachteile von Latexsaugern, Stillen oder Flaschennahrung, Badewannenaufsätze und Wickelkommoden, Windelsysteme und Milchpumpen, Stillkissen und Tragetücher, sowie über anscheinend omnipräsente Schadstoffe und Risiken, die mit Made-in-Sonstnochwo verbunden sind, und entscheiden uns im IF für Biobaumwolle und Naturholzprodukte, nicht ohne nachzulesen, dass auch Naturholzprodukte, die nicht in Europa produziert werden, sehr wohl chemisch behandelt worden sein können. Bezüglich der Biobaumwolle bin ich bis dato noch auf keine widersprüchlichen Aussagen gestoßen, was nicht ist, kann noch werden, das hier ist nicht das Ende vom Lied.
Und da wir das alles und noch vieles mehr wissen oder vielmehr ahnen, denn die Devise in der Schwangerschaft heißt immer noch: Nichts Genaues weiß man nicht (wobei sich nach und nach bei mir das Gefühl verstärkt, dass dieses »Nichtgenauwissen« zwar Babybuchautoren, Ärzten und Pharmaherstellern zusteht, nicht aber uns WWM), ahnen oder vielmehr wissen wir nur das Eine mit absoluter Sicherheit: Es ist nicht leicht, perfekt zu sein.
Ganz ehrlich.
Und daher habe ich nur eine Bitte: Macht uns nicht irre. Denn eine irre werdende WWM ist ganz sicher nicht gut fürs Baby. Und auch nicht für ihre Umwelt. Und schon gar nicht für sich selbst. Denn schließlich gibt es uns auch noch. Wir sind noch da! Und manchmal tun wir Dinge, obwohl wir wissen, dass wir sie nicht tun sollten. Aber uns lediglich als Trägerinnen der Gebärmutter, in der sich unser SVUNEN befindet, zu behandeln, deren einziger Wunsch und Wille es ist, eben jenen auf bestmöglichem Wege durch Schwangerschaft und Geburt zu bringen, und ich wette, für beinahe alle von uns ist es (fast) der einzige Wunsch und Wille, ist einfach nicht fair. Wir danken für die Informationen. Wir tun, was wir können. Aber bitte, macht uns nicht irre. Das übernehmen wir im Zweifelsfall schon selbst.