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Kopfgeburt

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Am Fensterbrett meines Küchenfensters steht ein Keramikengel, obwohl Weihnachten längst vorbei ist. Er ist etwa zehn Zentimeter hoch, hat weiße Flügel, einen weißen, gesichtslosen Kopf und einen rotbemalten Körper. Wenn ich ihn ansehe und über meine momentane Situation nachdenke, fällt mir die Verkündigungsszene ein. Der Engel kommt zu Maria und verkündet ihr, dass sie ein Kind gebären wird – und zwar nicht irgendeines, sondern den Sohn Gottes. Ja. Da bedarf es schon einer richtigen Ankündigung, sonst könnte sie ja wer weiß was glauben, aber so ist von vornherein klar: Maria ist die Mutter und Gott ist der Vater. Und es wird ein Junge. Das wusste man in damaligen Zeiten ganz ohne Ultraschall und Bluttest…

Bereits sechs Monate vorher hatte der Erzengel Gabriel dem Zacharias verkündet, dass dessen Frau Elisabeth einen Sohn gebären werde, den sie Johannes nennen sollten. Denn mit der Geburt eines Sohnes beglückt Gott seine treuesten Schäfchen und zuweilen die, die schon über neunzig sind (die Risikowerte für Chromosomenstörungen in diesen Fällen würde ich gerne ausrechnen lassen) und zuweilen auch die, die noch nie… naja, von einem Mann erkannt worden waren.

Und nun kommt der Engel zu Maria… aber lassen wir doch das Lukasevangelium erzählen, da steht eigentlich alles ganz genau.

Und im sechsten Monat [nach der Verkündigung von Elisabeths Schwangerschaft, Anm.] wurde der Engel Gabriel gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau [jungen Frau, Anm.], die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David [nein, nicht so vertraut, sie war verheiratet mit ihm, aber er hatte einen Schwur leisten müssen, sie nicht anzurühren, an den er sich natürlich gehalten hat, Anm.]; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede [wer würde das nicht?, Anm.] und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

Also ganz ehrlich, ohne ehrgeizig zu sein, ich würde ja nicht darauf bestehen, dass mir außer dem Namen auch noch die ganze Erfolgsgeschichte meines ungeborenen Kindes schon in der frühen Schwangerschaft oder gar vor der Zeugung (durch wen auch immer) geweissagt wird, aber einfach zu wissen, dass alles gut gehen wird und ich keine Komplikationen zu befürchten habe, das wäre tatsächlich schon etwas, wofür ich dankbar wäre und die eine oder andere zusätzliche Vorsorgeuntersuchung guten Gewissens sausen lassen würde. Aber Maria war wohl angesichts dieser Prophezeiung etwas skeptisch, kein Wunder, es gab ja überhaupt keine Beweise… zumal die Frage, wer der Vater sein sollte, nicht einmal sie beantworten konnte (zumindest behauptete sie das ihr Leben lang).

Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen [Aha!, Anm.], und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich [mein absoluter Lieblingssatz, Anm.]. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

Ja. Was sollte sie auch sonst sagen.

Josef war zu dem Zeitpunkt nicht zuhause, und da machte sich Maria flugs auf den Weg zu Elisabeth, aber das weitere Geschehen ist ja allseits bekannt. Normalerweise werden Söhne nach den Vätern benannt, darum sind alle einigermaßen irritiert, dass Elisabeths Sohn Johannes und nicht Zacharias heißen soll, aber wir wollen deshalb keine Schlussfolgerungen über Elisabeths Moral und Anstand ziehen… Bei Gott ist eben kein Ding unmöglich.

Die Sache mit Maria und Josef ist ungleich schwieriger, da ja nur Maria und nicht Josef die Geburt verkündigt worden war, zumindest vorerst. Dementsprechend erbost reagiert der gute Mann und will die schwangere Frau gleich aus dem Haus jagen, denn der Skandal, was sagen denn die Nachbarn usw…, aber er wurde glücklicherweise von Gott ins Vertrauen gezogen und fügte sich in die Rolle des Stiefvaters, eine Aufgabe, die er ja ganz gut hingekriegt hat, würde ich aus der Distanz mehr als zweier Jahrtausende meinen.

Nun. Wie auch immer genau das damals vonstatten gegangen sein mag, eines hatten sie uns, abgesehen von der extrem frühen Geschlechtsbestimmung, voraus: Ein gewisses Vertrauen und eine gewisse Sicherheit. Unsere Zeit und unsere Wissenschaft in Ehren, aber dass Information nicht unbedingt Vertrauen schafft, haben wohl schon die Letzten begriffen. Und deshalb möchte ich hier feststellen, dass wir – lange bevor physisch der tatsächliche Geburtsvorgang einsetzt, Monate vorher schon – im Kopf gebären. Und – jetzt wird es ein bisschen esoterisch, ich bitte um Nachsicht – im Kopf setzen sich die ganzen Zweifel und Ängste an, zu denen unser Bauch erst einmal überhaupt keine Meinung hat. Denn dem geht es in fünfundneunzig Prozent der Fälle wirklich gut, bis auf kleinere Zicken und Wehwehchen, über die wir im nicht-schwangeren Zustand nicht einmal eine Minute lang nachdenken würden. Aber die Geister, die ziellos und schaurig unsere Nächte durchwandern, haben die Macht, beim kleinsten Anlass mit markerschütterndem Geheul und Zähneklappern die ultimativen Katastrophenszenarien hervorzurufen. Die Überlegungen, wie so viele Frauen etwas so Traumatisches wie eine Geburt, die wir bislang nur vom Hörensagen kennen, lebend überstehen konnten, die Geschichten von Bekannten und Unbekannten, denen dieses oder jenes Fürchterliche passiert ist, Dinge, die wir im Vorbeigehen oder Drüberlesen aufgeschnappt haben, extrem unerfreuliche Kontostände und beruflich kein großer Wurf in Sicht, die Fragen skeptischer Menschen, wie wir das denn in Zukunft alles bewältigen wollen so fern der Heimat und der helfenden Hände wohlmeinender Großeltern…, die suchen sich alle einen gemütlichen Winkel in unserem Kopf und warten auf den richtigen Moment, um uns zu quälen. Mag sein, dass es Menschen gibt, denen sie nichts anhaben können. Mag sein, dass sie jemanden einfach übersehen haben. Bei mir sind sie gelandet. Dabei hatte ich gedacht, ich sei vorbereitet. Aber wie gut kann man sich wirklich vorbereiten? Nach einem kurzen Schock habe ich mich gefangen, ich habe meine Waffen geputzt, die Klauen geschärft und mich in Rüstung geworfen. Und ich habe ihre Schwachstellen herausgefunden und genau dort mit aller Kraft und Heftigkeit zugestochen. Und hier ist mein wildes Kampfgeheul, das ich mit allen Kopfgebärenden teilen will, denn damit habe ich die Geister vertrieben, und Sonnenschein, Freude und Optimismus sind in das Reich der Schatten zurückgekehrt:

Erstens: Ich bringe mein Kind gesund und ohne Komplikationen zum richtigen Zeitpunkt zur Welt!

Zweitens: Auf mich warten in Zukunft weitere berufliche Herausforderungen, und die Geburt meines Kindes ist nicht gleichzeitig das Grab meiner Unabhängigkeit!

Drittens: Es wird zu jedem Zeitpunkt genug Geld für mich und meine Familie da sein!

Viertens: Mein Partner wird seinen Teil der Verantwortung übernehmen, und meine Angehörigen und Freunde werden mich nicht im Stich lassen!

Fünftens: Für mich gibt es keine unlösbaren Probleme! Für mich gibt es ganz und gar keine unlösbaren Probleme! Für mich gibt es überhaupt kein einziges unlösbares Problem!

Je öfter, lauter, überzeugter und zielgerichteter ich es ausgesprochen habe, desto mehr sind sie ins Wanken geraten, denn sie haben keine Basis. Die Geister, im Gegensatz zu fundierten, echten Ängsten, sind eben nur Geister. Und mit dem Windhauch der Zuversicht kann man sie hinausblasen. Einfach so.

Mein Sohn Elisabeth

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