Читать книгу Winterreise nach Alaska - Doris Wiedemann - Страница 9
Jeder Abschied ist eine Neuer Anfang
ОглавлениеIn einer Kneipe wärmen wir uns wieder auf, bevor wir mit dem Zug zum Flughafen zurückkehren und uns zwei freie Bänke suchen, um dort ein paar Stunden zu schlafen. Bald höre ich Sjaak selig schnarchen. Er hat sich ein paar Biere mehr gegönnt und sein Reisefieber darin ertränkt, während meine Gedanken zwischen Angst und Vorfreude hin und her pendeln. Auf was habe ich mich da eingelassen?
Tatsächlich ist Motorrad fahren in der kalten Jahreszeit kein Problem: Australien, Afrika, Asien und Südamerika, das sind Traumziele für Frost-Flüchtlinge. Aber Alaska? Das ist echter Winter, wie er im Märchenbuch steht, mit funkelnden Schneekristallen und glänzenden Eiszapfen, mit klirrender Kälte und knirschendem Schnee. Herrlich! Aber ... reicht unsere Ausrüstung für die extremen Temperaturen? Kann man so viele Kleidungsstücke überhaupt anziehen? Halten die Motorräder das aus? Und vor allem: Halte ich das aus?
Zwei Meldungen haben mich in der Vorbereitungszeit besonders bewegt. Eine Werbe-E-Mail von BMW hatte mich im Dezember zum Wintertraining eingeladen und ich amüsiere mich immer noch köstlich bei dem Gedanken an die verblüfften Gesichter, wenn ich dort mit meinem Motorrad aufgetaucht wäre, um, wie die Werbung versprach, »Lernerfolg für eine bessere Fahrzeugbeherrschung auf Schnee und Eis mit einem sehr hohen Spaß- und Erlebnisfaktor« zu verbinden. Meine Heiterkeit schlägt jedoch in ernsthafte Bedenken um, wenn ich an die Nachrichten der Deutschen Welle vom 13. Dezember denke:
»Washington: Ein heftiger Wintereinbruch mit Schnee und Eisregen hat im Nordosten der USA mehrere Millionen Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten. In den Staaten New Hampshire und Massachusetts erklärten die Gouverneure den Notstand. Nach Angaben der Behörden könne es vielerorts Tage dauern, bis die Menschen wieder Elektrizität hätten.«
Wir wollen weder nach New Hampshire noch nach Massachusetts, aber im Westen von Kanada gab es in diesem Winter ebenfalls schon ungewöhnlich viel Schnee. Und so viel weiß ich von meinen bisherigen Winterfahrten: Im Schneesturm werden wir nicht weit kommen.
Irgendwann bin ich wohl doch eingeschlafen. Denn als der Flughafen langsam zu leben beginnt, wache ich auf und muss dringend auf die Toilette. Sjaak reagiert auf meine leise Ansprache nicht, also lasse ich ihn weiterschlafen. Am Waschbecken mache ich mich frisch und wandere dann zu unserem Schlafplatz zurück. In der Zwischenzeit ist Sjaak offensichtlich ebenfalls aufgewacht und zur Toilette gegangen. Ich begebe mich auf meinen alten Platz und warte.
Wir müssen uns knapp verpasst haben, denn es dauert eine ganze Weile, bis Sjaak wieder auftaucht. Zu meiner Überraschung kommt er aus einer ganz anderen Richtung.
»Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht und war gerade bei der Gepäckaufbewahrung. Aber du hast die Zettel«, begrüßt mich mein Reisepartner aufgeregt.
»Gepäckaufbewahrung?« schüttle ich verwirrt den Kopf: »Ich war dort hinten auf der Toilette und habe mir dann gleich noch die Zähne geputzt.«
»So lange kann sich niemand die Zähne putzen, wir müssen los, sonst verpassen wir unser Flugzeug!« drängt Sjaak zum Aufbruch.
An der Gepäckaufbewahrung holen wir unsere Taschen und Koffer ab, die jeweils das maximale Gewicht aufweisen. Zu viele Dinge konnten wir nicht mehr in die Kiste mit den Motorrädern packen und müssen sie nun selbst mitnehmen. Die Zeit wurde sogar so knapp, dass wir im Vorfeld beschlossen haben, nicht direkt nach Florida, sondern nach New York zu fliegen. Per Schiff hätten die Motorräder ganze fünf Tage für die rund 2.000 Kilometer lange Strecke entlang der Ostküste der USA gebraucht. Wir hoffen, auf der Straße schneller zu sein.
Ich habe ein Feuerzeug in meiner Jackentasche und frage die Mitarbeiterin der Fluglinien-Sicherheit, ob ich es ins Handgepäck oder in das Bordgepäck tun soll. »Im Handgepäck dürfen sie es mitnehmen« antwortet sie mir, und Sjaak bekommt große Augen:
»Ich habe mein Feuerzeug extra in das Bordgepäck getan«, verkündet er und fragt: »Was soll ich nun machen?«
»Wenn Sie es finden, sollten Sie es selbst herausnehmen, ansonsten öffnen meine Kollegen bei der Gepäckkontrolle den Koffer.«
Betretenes Schweigen. Wie findet man ein klitzekleines Feuerzeug in einem riesigen Koffer, der so voll ist, dass er sich nur mit großer Kraftanstrengung schließen lässt?
»Das ist kein Problem, ich brauche nur auf der Liste in meinem Notebook nachsehen, dann weiß ich, wo ich es verpackt habe«, versichert Sjaak und erkundigt sich bei der netten Dame: «Habe ich noch so viel Zeit?«
»Natürlich«, antwortet diese freundlich und beobachtet dann ebenso verblüfft wie ich, wie Sjaak in seinem Notebook die Packliste seines Koffers aufruft und dann mit drei gezielten Handgriffen das gesuchte Feuerzeug aus dem Koffer fischt.
Ich schwanke zwischen Bewunderung und Belustigung: War es das, was ihm in den letzten Wochen so viel Stress bereitet hat? Detaillierte Listen von seiner Ausrüstung zu verfassen? Trotz seiner Aufregung, bemerkt Sjaak die Verblüffung seiner Zuschauerinnen und erklärt mit großer Selbstverständlichkeit:
»Das mache ich immer so, damit ich weiß, was ich mitgenommen und wohin ich es gepackt habe.«
Das ist sicherlich praktisch, wenn das Gepäck auf der Reise verloren geht. In dem Fall kann man der Versicherung detailliert melden, was man alles dabei hatte. Ob diese jedoch wissen muss, wo genau was drin war, bezweifle ich. Zudem bin ich mir fast sicher, dass es viel mehr Zeit kostet, vor jeder Reise solch eine detaillierte Liste zu schreiben, anstatt im Fall der Fälle etwas länger zu überlegen, was denn eigentlich im Koffer drin war.
Wieder einmal wird mir bewusst, dass wir in manchen Dingen eine sehr unterschiedliche Herangehensweise an die Aufgaben des Lebens haben: Bei mir stand in den letzten Wochen ein Karton in der Wohnung, in dem all die Sachen gelandet sind, die mir im Lauf der Zeit als unentbehrlich eingefallen sind. Zum Schluss habe ich den Inhalt des Kartons auf dem Fußboden vor mir ausgebreitet, noch einmal konzentriert überlegt, was ich tatsächlich brauche, und das dann möglichst platzsparend in die vorhandene Tasche gepackt. Das Feuerzeug, bei dem ich mir nicht sicher war, wo ich es hintun sollte, blieb einfach draußen und wäre nun gegebenenfalls in irgendeiner kleinen, freien Ritze des Gepäcks verschwunden.
Im Flugzeug amüsieren Sjaak und ich uns gemeinsam über die hochmodernen Touch-Screens, die in die Rückenlehnen der Sitze eingebaut sind. Damit hat man verschiedene Möglichkeiten, sich selbst individuell unterhalten zu lassen. Lediglich die Eingabe-Maske für Beschwerden lässt sich nicht öffnen. Eine clevere Idee, finden wir. Denn auf diese Weise lässt sich ganz einfach eine große Kundenzufriedenheit dokumentieren.
Als Europäer müssen wir uns in New York an der langen Schlange vor dem Immigrationsschalter anstellen. Eigentlich geht es ganz flott vorwärts und ich selbst habe mir angewöhnt, in solchen Situationen meinen Blutdruck abzusenken und in stoischer Gelassenheit auszuharren, bis ich ganz plötzlich an der Reihe bin. Sjaak dagegen scheint von der Gelassenheit des Alters noch Lichtjahre entfernt zu sein und ist ganz hippelig.
Aber seine Ungeduld kommt uns zugute, als wir auf einen Shuttlebus warten. Denn wir müssen vom John F. Kennedy Flughafen, auf dem wir gelandet sind, zum Flughafen in Newark. Ich habe von Deutschland aus über das Internet ein Hotel gebucht, das sich in der Nähe der Spedition befindet, die unsere Motorräder lagert. Gleichzeitig bietet das Hotel einen kostenlosen Shuttlebus-Transfer zum Newark Flughafen an. Ich war davon ausgegangen, dass die beiden Flughäfen in New York eine regelmäßige Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln haben. Vor Ort erfahren wir allerdings, dass der Bus extra angefordert werden muss. Trotz mehrmaliger Nachfrage kommt er jedoch nicht. Nach einer langen Stunde des Wartens findet Sjaak eine Frau, die mit ihrer Tochter ebenfalls nach Newark will. Wir teilen uns ein Taxi mit ihnen. Damit kommen wir nicht nur schneller, sondern sogar auch noch billiger ans andere Ende von New York.
Eine weitere Stunde später schleppen Sjaak und ich unser Gepäck vom Taxi-Parkplatz am Newark Flughafen zur Haltestelle der Shuttle-Busse und steigen dort in einen Kleinbus, der uns zu unserem Hotel bringt. Unsere Motorräder stehen bereits in einer Lagerhalle in Newark. Aber wir sind erst um 14 Uhr gelandet und bis wir beim Hotel ankommen, ist es schon so spät, in der Spedition erreichen wir telefonisch niemanden mehr. Also fallen wir nach einer schnellen Dusche erst einmal müde ins Bett.