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IX Januar 2010
ОглавлениеFrank hatte soeben sein Haus in Bronville betreten, als das Telefon klingelte.
„Was ist eigentlich los“, fragte Konrad ohne ein Wort der Begrüßung, „ich habe unzählige Anrufe von Dir auf meinem Handy.“
„Mutter ist gestorben.“
„Wann denn das?“
„Freitag vor einer Woche schon. Wir haben Dich einfach nicht erreichen können.“
„Woran ist sie gestorben?“
„Es war ein Schlaganfall in der Nacht, sagt der Arzt. Sie ist nicht mehr aufgewacht. Die Beerdigung war Mittwoch. Es war Pfarrer Bender, der die…“
„Schon gut, Frank. Und was ist mit den anderen Dingen?“
„Du kommst ja zackig zur Sache, Konrad, brauchst wohl Geld, was?“
„Ich habe mich hier in ein Projekt eingekauft, erst mal auf Kredit, es ist einfach Spitze. Mir gehören zwei Hektar Land und ein Wohngebäude. Es wird von der örtlichen Kirche gesponsert, aber den größten Batzen muss ich natürlich selber tragen.“
„Also, morgen Nachmittag um drei sollen wir zum Notar. Er hat geschrieben und uns eingeladen, da es mit der Testamentseröffnung beim Nachlassgericht noch dauern kann. Ich fliege hin, Vera lässt sich entschuldigen. Was ist mit Dir? Wird wahrscheinlich knapp, oder?“
„Morgen Nachmittag? Nein, das schaffe ich nicht. Ich bekomme ja auch keinen günstigen Flug so kurzfristig. Mach Du das, Frank! Brauchst Du irgendwas von mir? Ich kann Dir eine Vollmacht mailen. Es gibt in der nächsten größeren Stadt ein Internetcafé. Ich schicke Dir eine Vollmacht für den Notar und eine für das Gericht, eine weitere für die Banken. Du kannst in meinem Namen verfügen. Meine Kontoverbindung hast Du, aber ich schicke sie Dir sicherheitshalber noch einmal. Per E-Mail?“
„O.k., o.k., wahrscheinlich wird das alles gar nicht so schnell gehen, wie Du Dir das vorstellst. Sag mal lieber, was wir mit dem Haus machen sollen.“
„Mit dem Haus? Ach Du liebe Güte, worum muss man sich denn noch alles kümmern? Kann Vera das nicht machen? Ich brauche nichts daraus. Den Schmuck kann man ja vielleicht versilbern. Oder Vera kauft ihn uns ab. Ich denke, am besten wäre es, wir verkaufen. So wie es ist. Mit allem was drin ist, möbliert sozusagen. Ist doch ein schickes Ding.“
„O.k. Du bist also auch für verkaufen. Dann machen wir das so. Da sind wir drei uns einig. Jetzt mal was Anderes, Konrad. Das Projekt in China ist abgeblasen, da kommt nichts mehr, da wird auch nichts mehr abgeworfen.“
„Hey Frank, willst Du mich linken oder so? Ich bin da persönlich aufgelaufen, habe denen gesagt, wie es funktioniert, da habe ich ja wohl meinen Anteil verdient.“
„Mach mal halblang“, sagte Frank. „Du hast denen mein Konzept überreicht, das war im Grunde alles. Ich hoffe jedenfalls, dass Du da nicht noch irgendwelche Albernheiten veranstaltet hast. Von linken kann keine Rede sein. Es hat dort einen ziemlich schlimmen Gasunfall gegeben. Mit Todesopfern. Toten Jugendlichen.“
„O.k. Ja. Das ist wirklich bedauerlich. Nur, was haben wir damit zu tun?“
„Stell Dich nicht auf stur. Wir haben denen die Vorschläge gemacht. Die auf die Idee gebracht. Wir waren vor Ort, alle beide. Wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten. Die Sache ist ganz übel ausgegangen und jetzt ist Schluss damit, klar? Keine Provisionen, nada. Und: Ich hoffe inständig, dass Du da drüben nicht strahlend durchs Land gezogen bist und mit Deinen Wohltaten angegeben hast, Arbeitsplätze, Reichtum undsoweiter?“
„Ach, hör auf damit. Scheiße, ich will meinen Anteil. Ich brauche meinen Anteil. Ich habe schließlich meine Leistung längst erbracht.“
„Brüderchen, es kommt eben manchmal anders im Leben als man denkt. Da muss man sportlich bleiben und seine Pläne auch mal über den Haufen werfen können. Vielleicht geht das mit der Abwicklung von Mutters Konten ja auch zügiger, als es mir der Notar in Aussicht gestellt hat.“
„Ich schicke Dir die Mail. Und halte mich auf dem Laufenden.“
Frank seufzte. Er blieb am Telefon stehen und hörte den Anrufbeantworter ab. Die Solliers wollten mit ihm am Abend im „Digue“ dinieren. Er rief zurück und hatte Céline am Apparat. Sie verabredeten sich für acht Uhr am Abend. Frank ging zum Fenster und betätigte den Jalousieschalter. Es surrte, bis die Fenster frei waren. Er öffnete sie, hakte die Hebel der Blendläden aus und öffnete auch sie. Das Meer lag weit und endlos vor ihm. Es war Ebbe. Der Strand war mit einer zuckrigen Schicht überzogen. Die Pfützen, angefroren, spiegelten leicht das kalte Licht des Winternachmittages.
Er dachte an Katja. Es war ein verdammt schönes Wochenende geworden. Als sie sich am Mittag voneinander verabschiedet hatten, hatte sie ihm ganz freiwillig die CD geben wollen. Er hatte abgewiegelt, er wolle ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten. Sie fühle sich ja doch nicht wohl dabei. Sie war sehr sehr einverstanden damit gewesen. Er hatte sie gefragt, ob er jetzt wenigstens einen gut habe bei ihr. Sie hatte das bejaht und war auch damit einverstanden, sogar Oh-mäßig. Am Strand lief ein einzelner Hundebesitzer auf und ab. Die Möwen pickten im frostigen Sandboden nach Würmern. Frank löste sich aus der Betrachtung und ging in die Küche. Er wartete, bis der Kaffeeautomat sich aufgeheizt hatte und drückte auf die Espressotaste. Mit der Tasse und den Zeitungen, die er in Paris gekauft hatte, machte er es sich bequem auf dem Liegestuhl vor dem Fenster zur See hinaus. Er schlief über der Lektüre ein und träumte von Katja und toten Arbeiterkindern.
Als er aufschreckte, lag die hereinbrechende Nacht dunkel und undurchdringlich vor ihm. Eine Möwe war gegen die Scheibe geflogen. „Versteht doch endlich, dass es hier nicht weiter geht“, ermahnte er sie zum x-ten Mal. Es war Zeit aufzubrechen. Er freute sich auf die Solliers. Céline und Daniel waren ein unkompliziertes Paar, und sie fühlten sich Frank noch immer zu Dank verpflichtet. Er hatte ihnen vor einigen Jahren ihr Traumhaus vermittelt. Den Vorbesitzer kannte er, mit ihm hatte er diverse Elternabende in der Schule von Honfleur abgesessen. Sie waren nachher öfter noch auf ein Glas ins „Bijou“ eingekehrt. Marc irgendwie hatte er geheißen und ihn eines Abends gefragt, ob er nicht einen Käufer für seine Immobilie auftreiben könne. Er würde die Courtage zahlen, ganz normal, eine Provision wie für einen Makler, das sei ja klar. Ihm sei das angenehmer, die Sache auf dem kurzen Wege zu erledigen, als offiziell ein Maklerbüro einzuschalten. Außerdem sei es eilig. Er war beruflich versetzt worden und wollte nun an seinem neuen Wohnort was kaufen.
Für Frank kein Problem. Noch für denselben Abend hatte er die Solliers zu Käse und Wein eingeladen. Die Standuhr hatte gerade elf geschlagen, als Céline und Daniel ihn beinahe anflehten, er möge das realisieren. Er hatte sie angefixt und ihnen die vage Möglichkeit in Aussicht gestellt, ihnen vielleicht ihren Traum von der Villa an der Promenade des vornehmen Seebades Duville zu erfüllen. Sie waren völlig heiß auf das Objekt und hatten ihm die handelsübliche Courtage versprochen, falls es klappen sollte. Innerhalb nur einer Woche hatte die prachtvolle Villa ihren Besitzer gewechselt. Frank hatte sich nach der Herstellung des Kontakts aus den weiteren Verhandlungen ausgeklinkt und auf das Wort und die Diskretion beider Vertragspartner gesetzt. Bei einem Preis von drei Millionen waren die sieben Prozent Rendite, die er einstrich, ganz nach seinen Vorstellungen von Aufwand und Ertrag gewesen.
Es wurde ein vergnüglicher Abend. Die Solliers erzählten von ihrer Kreuzfahrt im Mittelmeer.
„Wie gut, dass es unterschiedlichen Geschmack bei der Freizeitgestaltung gibt“, sagte Frank, „für mich wäre es eine Strafe, zwei Wochen tatenlos an Deck zu hocken.“
Die Solliers verteidigten ihre Reise und berichteten von Abenden in den Häfen, vom Sportangebot an Deck und dergleichen. Sie nahmen ihm seinen Einwand nicht übel. Das Essen war herrlich wie immer im „Digue“. Die Meeresfrüchte, Austern und Bigorneau-Schnecken frisch und fein. Als Céline sich kurz entschuldigte, beugte Daniel sich zu ihm vor und fragte:
„Meinst Du, du könntest Zugang zu Gerhard Richter bekommen, dem großen deutschen Künstler?“
„Ich weiß schon, wen Du meinst“, sagte Frank.
„Ich möchte Céline zu unserem zehnten Hochzeitstag eins oder zwei von seinen Bildern schenken. Sie ist eine große Verehrerin seiner Kunst.“
„Du weißt, dass die ihren Wert am Markt haben?“, gab Frank zu bedenken.
„Ich betrachte es als Vermögensanlage. Was sollen wir in diesen Tagen die Aktien bei den Banken horten.“
„Ich kann mich mal umhören. Sicher bin ich aber nicht.“
Céline kehrte zurück. Marc gab ihm schnell ein Zeichen, wie viel
er auszugeben bereit war. Frank verstand. Da lohnte es, sich mal ein wenig umzuhören. Frank erinnerte sich an Heiner, einen verrückten Typen in Frankfurt. Der hatte in den siebziger Jahren alles kreuz und quer aufgekauft und gesammelt. Bei ihm war sowieso mal wieder ein Besuch fällig. Den würde er fragen.
„Alles klar“, sagte er nur und zwinkerte Daniel verstohlen zu.
Die Solliers ließen ihr Auto stehen, sie wollten es am nächsten Tag mit Célines Wagen abholen. Frank fuhr sie nach Duville und setzte sie vor ihrer Villa ab. Sein Flug von Charles-de Gaulle Paris ging am nächsten Vormittag um halb zwölf. Frank hatte kurz überlegt, den Wagen zu nehmen, falls er noch was aus Mutters Haus mitzunehmen hätte. Er verwarf das aber. Er war bislang sehr gut ohne das alles ausgekommen. Außerdem kaufte er auch zu gern selbst was ein, was Eigenes, Ausgewähltes, wenn ihm danach war.
Der Flieger landete pünktlich in Düsseldorf, und Frank war schon gegen zwei Uhr in der Mercatorstraße am Rhein, als ihm einfiel, dass er vergessen hatte, in seine Mails zu schauen. Das Smartphone lag zu Hause in der Küche, er hatte nur sein Deutschland-Handy in der Tasche. Wenn die Vorlage einer Vollmacht tatsächlich notwendig würde, könnte er die Nachricht immer noch im Notariat öffnen und vorzeigen. Obwohl – wenn die Außenansicht dieses 50er Jahre-Bauwerks einen Vorgeschmack auf das Innenleben zuließ, gab es dort wohl eher keinen Zugang zu Mails oder zur Moderne im Allgemeinen. Er hatte schon häufiger bei Notaren zu tun gehabt und festgestellt, dass bei diesem Berufsstand inzwischen deutlich frischerer Wind wehte als zu den Zeiten, da der Mief in dunklen Eichenmöbeln hing. Hier aber – konstatierte er von seinem Auto aus - schien das dem Anschein nach eher nicht der Fall zu sein. Hinter den Butzenscheiben brannte ein gelbliches Licht. Er konnte dunkle Vorhänge erkennen. O.k., aber es ließe sich eine Vollmacht nachreichen, falls der Laden wirklich so antiquiert war. Von Vera hatte er ja auch nichts in der Hand. Sie war überhaupt erstaunlich desinteressiert, wie er fand.
Um kurz vor drei stieg er aus dem Auto und klingelte. Im Notariat wurde er von einem schon reichlich betagten Modell einer Sekretärin mit Dutt in grau und einem engen knielangen Rock eingelassen. Der Notar, zu dem er, der einzige Besucher dieses Büros, geführt wurde, war ein ebenfalls älterer Herr, der augenscheinlich an seiner Berufung klebte und genau den Erwartungen entsprach, die Frank in der Stunde Wartezeit bis zum verabredeten Termin aufgebaut hatte. Groß gewachsen, ein graues Kränzchen um den mit Altersflecken übersäten Schädel, in feinen Zwirn gewandet, mit gestärktem Kragen und Krawatte. Seine Haltung war leicht gekrümmt und nach vorn geneigt, die staksigen Bewegungen waren nicht mit sich im Reinen.
„Guten Tag, Dahlmann“, begrüßte er Frank mit einer Verbeugung, die seine ungelenke Art noch unterstrich. „Ihre Geschwister sind noch nicht da.“
„Ich komme allein. Meine Schwester hat mich gebeten, für sie den Termin wahrzunehmen, mein Bruder Konrad ist in Asien und konnte so kurzfristig nicht anreisen. Von ihm könnte ich eine Vollmacht…“
„Nein, nein, das ist nicht nötig. Kommen Sie herein!“
Er führte Frank in einen großen Raum, in dem die Quelle des gelben Lichts in Form eines Kronleuchters mit braunen Porzellanschalen an der Decke hing. In der Mitte stand ein riesiger rechteckiger Tisch – dunkles Eichenholz. An den Fenstern die samtenen Vorhänge, die ihm von außen schon aufgefallen waren. Die Wände waren ebenfalls mit dunklem Holz vertäfelt.
„Nehmen Sie Platz!“
Das tat Frank und nahm das abgewetzte Kunstleder der Stuhllehne zur Kenntnis. Der Notar sank in seinen Chefsessel, der mit hoher Lehne und offenbar weicherem Leder ausgestattet war. Über seinem Haupt prangte ein „Baselitz“ und Frank dachte: „Na, da hast Du Dir ja richtig was geleistet.“
Der Notar setzte sich eine halbe Brille auf die Nase. Er hatte ein Grundig-Diktiergerät neben sich liegen, das er nun in die Hand nahm und besprach: „Frau Reiferscheid, es ist Montag der fünfundzwanzigste Januar Zwanzigzehn, fünfzehn Uhr. Bitte nehmen Sie auf: In der Nachlasssache Eleonore Maria Adele Westerholt, geborene Westerholt, geboren am 27. März 1926, verstorben am fünfzehnten Januar Zwanzigzehn. Es erscheint der leibliche Sohn Frank Niemann, geborener Westerholt. Die Geschwister Konrad und Vera lassen sich entschuldigen.“ Er drückte auf die Stopptaste und blickte Frank über den Rand seiner Lesebrille an.
„Herr Westerholt,…“
„Niemann“, sagte Frank.
„Verzeihung. Herr Niemann, ich habe Sie eingeladen, weil Ihre geschätzte Mutter, die ich schon seit vielen Jahren kenne, mich darum gebeten hat. Üblicherweise dauert es einige Wochen, bis das Nachlassgericht einen Termin für die Testamentseröffnung findet. Ich habe von Ihrer Frau Mutter den Auftrag erhalten, die Dinge persönlich mit Ihnen zu besprechen. Er drückte die Aufnahmetaste und diktierte weiter:
„Dem Sohn der Erblasserin Frank wurde der Wortlaut des Testaments der Eleonore Westerholt vom zwanzigsten Mai Zweitausendundsechs, errichtet vor dem Unterzeichnenden zur Urkundenrolle siebenunddreißig aus null sechs, verlesen.“ Stopptaste.
„Wenn ich mal was fragen dürfte. Warum nehmen Sie das alles auf?“ Frank hielt das Ganze für eine gelinde gesagt vollschrullige Nummer. „Sie haben doch gesagt, sie könnten uns nur informieren und letztlich wäre ein Gericht für die Sache zuständig.“
Der Notar nahm seine Brille ab und lächelte ihn schief an. „Das ist eine alte Gewohnheit. Auf diese Weise habe ich eine saubere und vollständige Aktenführung. Ich kann jederzeit auf meine Protokolle zugreifen und bin deshalb sofort im Bilde, falls in einer Angelegenheit noch etwas zu bearbeiten ist. Sie gestatten, dass ich fortfahre?“ Er setzte die Brille wieder auf.
„Herr Westerholt, ich werde Ihnen jetzt das Testament Ihrer Mutter vorlesen:
„Ich, Eleonore Westerholt, setze hiermit meine Tochter Vera zu meiner alleinigen und unbeschränkten Erbin ein. Meine Söhne Frank und Konrad sollen nichts erben. Sie sollen auch nicht den Pflichtteil erhalten“
Der geschätzte Herr Notar Dahlmann kam nicht mehr dazu, das mit dem Verlesen des Schriftstücks standesgerecht zum Abschluss zu bringen. Sein Gegenüber wurde von einem hysterischen Lachkrampf geschüttelt.
Ha, da hatte es ihre Mutter doch noch hinbekommen. Einmal wenigstens in ihrem Leben hatte sie einen hochgehen lassen. Und zwar was für einen! Das war doch mal was! Einfach zu gut. Und er – Frank – hatte hundertprozentig auf das richtige Pferd gesetzt – auf sich selbst nämlich, auf Frank Niemann, vermögenden Millionär aus eigener Kraft, frei und unabhängig.
„O.k., vielen Dank!“, sagte er schließlich. Er sah dem Dahlmann an, dass dieser sich durchaus mit solcherlei Ausbrüchen vertraut fühlte. Er vermutete wahrscheinlich eine Art Schock bei seinem Besucher, eine verständliche Reaktion infolge überraschender und ganz und gar unerfreulicher Enterbung. Trotzdem schien er zufrieden, dass die Attacke offenbar vorüber war. Er bemühte sein Diktiergerät ein letztes Mal für eine Schlusssequenz und legte es beiseite. Er blickte Frank an:
„Ich hege durchaus Mitgefühl für Ihren Bruder und Sie. Ich habe Ihre Mutter auf die Bedeutung ihrer Verfügung hingewiesen. Wenn Sie wünschen, könnte ich Ihnen ausnahmsweise Einblick in das entsprechende Protokoll von damals geben. Über die Motive hat Ihre Mutter nicht mit mir sprechen mögen. Ich habe sie ausdrücklich darüber belehrt, dass der vollständige Ausschluss der Söhne gar nicht wirksam ist. Rein theoretisch ist es also nach wie vor möglich, dass ein jeder von Ihnen den Pflichtteil gegenüber der Schwester einfordert. Das ist zwar nur die Hälfte dessen, was Sie ohne die Enterbung beanspruchen könnten. Wenn Sie mir aber diese kleine Indiskretion gestatten“, fügte er hinzu, „mir ist bekannt, dass es sich um ein durchaus beträchtliches Familienvermögen handelt. Da wäre es für die Frau Schwester – möglicherweise, rein theoretisch, gar nicht so einschneidend, wenn sie die Brüder zumindest in Höhe des Pflichtteils beteiligen würde.“
Frank unterbrach diese absurde Zeitverschwendung. „Alles klar“, sagte er.
„Sie werden in der nächsten Zeit, wobei es sich durchaus um drei bis vier Wochen handeln könnte, vom Nachlassgericht Post bekommen, mit demselben Schriftstück, das ich Ihnen vorgelesen habe, versehen mit dem amtlichen Stempel. Sie brauchen bei der Eröffnung nicht anwesend zu sein, auch wenn Sie hierzu eingeladen werden sollten. Sie kennen den Inhalt ja nun…“
„Alles klar“, wiederholte Frank und erhob sich.
„Meine Kostennote erlaube ich mir unmittelbar Ihrer Frau Schwester zukommen zu lassen?“
„Machen Sie das.“ Frank streckte ihm die Hand entgegen, um klar zu machen, dass er hier jetzt wirklich fertig sei und ging zur Tür. Frau Reiferscheid – oder wurde sie vielleicht mit Fräulein tituliert, wenn die beiden allein waren? – grüßte er im Hinausgehen. Er zog die Tür hinter sich zu und atmete die frische, kalte Winterluft ein. Leider verspürte er nun doch diffusen Ärger aufziehen. Er war es jetzt, der Konrad zu informieren hatte. Wahrscheinlich hing sein Bruder schon erwartungsvoll am Telefon, nach wochenlanger Nichterreichbarkeit waren die Dinge jetzt ja auf einmal dringend. Frank hatte überhaupt keine Lust, sich das Gejammer anzuhören. Er würde schlimm toben, hemmungslos ausrasten, das war so sicher wie das Amen in seiner Kirche. Gut, dass er nur sein Zweithandy mitgenommen hatte. Die Nummer hatte Konrad glücklicherweise nicht. Eigentlich könnte er Konrad ja auch bei Vera vorsprechen lassen. Die, so wurde ihm auf einmal die Konsequenz des Ganzen bewusst, nun gar nicht mehr in gemeinsamer Sache für alle drei Geschwister handelte, sondern nur noch in eigener. In nur und ausschließlich allein eigener sogar. Er sollte das alles entspannt sehen. Wenn man es genauer betrachtete, war es doch grandios: Sein Lebenswerk, sein bisheriges, setzte er schnell für sich hinzu, sein bisheriges Lebenswerk also, war soeben explosionsartig aufgewertet worden. Durch diese Enterbungsnummer ihrer Mutter.
Ein wenig beleidigt konnte man natürlich trotz alledem sein. Er war immerhin ab und zu bei Mutter aufgekreuzt, im Schnitt vielleicht alle paar Jahre mal. Hatte ihre gottverdammt langweiligen Geschichten über sich ergehen lassen und ihr von seinem Haus am Meer erzählt. Obwohl sein Haus nur wenige Fahrminuten vom Anwesen ihrer Schwester Cécile entfernt war, hatte Mutter sich nie aufraffen können, Schwester und Sohn mal einen Besuch abzustatten.
Womöglich war die Uraltgeschichte Grund für ihre Entscheidung gewesen. Davon hatte sie was mitbekommen, als die Schergen damals das Haus umstellt hatten, um ihn in Haft zu nehmen. Ein typischer Fall von der Maßlosigkeit übereifriger Staatsmacht. Computerspionage in der Deutschen Demokratischen Republik werde ihrem Sohn zur Last gelegt, hatten sie Mutter erklärt, bevor sie das Haus gestürmt hatten. Er hatte ihr empfohlen, das alles nicht so ernst zu nehmen, er werde es schon in Ordnung bringen, wenn das notwendig sei.
Aber das war es wahrscheinlich, was sie dazu bewogen hatte, ihn von ihren Millionen auszuschließen. Die Geschichte von anno dazumal, die ihr quer durch die Familienehre gefurzt hatte. Er hatte gezahlt. Alles war aufgeräumt. Seinen Namen hatte er bei der Heirat mit Simone abgegeben. Er fand es geschickter, mit einer Identität weiterzumachen, die noch nicht im zentralen Register verewigt war. Pah, als ob das ein Grund war, seinen eigenen Sohn zu enterben? Lachhaft. Nur gut, dass ein Frank Niemann nicht auf solche Fremdbestimmung angewiesen war. Einer wie er, der war frei. Hatte Eigenvorsorge betrieben. Das war doch sozusagen staatsbürgerliche Pflicht heutzutage. Spaßgefüllt und lebensfroh war seine Eigenvorsorge. Seinem Bruder ging es da ganz anders. Konrad steckte wahrscheinlich auch jetzt bis zum Hals im Sumpf voller Geldsorgen. Der war immer blank. Ein obskurer Job, der praktisch nichts abwarf. Teure Klamotten, viele Fernreisen und die fragwürdige Großzügigkeit, andere immer auf Pump einzuladen. Und jetzt hatte er auch noch Land gekauft. Er würde seine Schwierigkeiten haben mit den Neuigkeiten aus der Heimat.