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Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir…“ Beim Vater Unser auf verschneitem Boden zog Frank Bilanz und gönnte sich den Blick zurück auf seinen Werdegang zum Millionär. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte er den Entschluss hierzu gefasst, unwiderruflich, vor nun mehr als fünfunddreißig Jahren. Millionär auf eigene Faust zu werden, ohne Staub und Moder. Sein Ziel. Durchaus dringend nach einer nervtötenden Schullaufbahn, der Ausbeutung als Lehrling in einer Computerklitsche und nach zwei Jahren immer gleicher Arbeit bei der Firma „Comdot International“.

Immer einen Schritt voraus zu sein, war die Devise, schlicht und klar. Zwei Regeln hatte Frank Niemann sich gesetzt und die mit aller Strenge eingehalten: Zum einen musste das mit maximaler Lust bei minimalem Aufwand laufen. Zum andern wollte er frei und unabhängig sein und das auch bleiben. Ohne wenn und aber. Das rein monetäre Ziel wäre eines Tages auch ohne sein Zutun eingetreten, das war ihm schon damals klar gewesen. Ihre Mutter saß auf einem immensen Vermögen, und sie waren nur zu dritt. Aber das spielte für ihn nicht die tragende Rolle. Eben Regel zwei wegen. Er hatte eine freie, eine eigene, eine saubere Million gewollt.

Durch die Zielgerade war er längst getreten. Die Dinge waren phantastisch gelaufen, er war in bester Verfassung, sein Konto prall gefüllt, er wurde geachtet und umworben. An Aufhören war nicht zu denken. Niemand hatte ihm die Zügel aus der Hand nehmen können, ihm, dem Gentleman und Mann von Welt, der er ja tatsächlich war. Bei der Sache in den Achtzigern hatte er ein Stück vom Kuchen abgeben müssen. Der Reinertrag war trotzdem noch weit höher ausgefallen als in der ersten Planung kalkuliert. Die Abschaffung der D-Mark vor acht Jahren hatte seinen Ehrgeiz nur müde gekitzelt. Er hatte sein Ziel beherzt auf Euro umgestellt und auch das bereits durchlaufen. Den ersten, alles entscheidenden Schritt hatte er seinerzeit vollzogen, als er dem Mief des elterlichen Hauses den Rücken gekehrt hatte. Dem Haus seiner Mutter, um es genau zu nehmen.

Nun stand er vor ihrem Grab. In der Nacht von Freitag auf Samstag vor fünf Tagen hatte sie sich für immer in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, war eingeschlafen, ohne auch nur adieu zu sagen. „Denn Dein ist das Reich…“ Frank kroch die Kälte dieses Januartages unerbittlich in die Glieder. Noch in dieser Woche würden Konrad, Vera und er ein Vermögen beachtlichen Ausmaßes einstreichen. Erben. Nicht auf eigene Faust Verdientes, sondern nur verpönter Staub und Moder. Er war nicht darauf angewiesen. Würde sozusagen on top kassieren. Aber sein Brüderchen gierte schon seit langem nach dem Geld. Hatte jede Menge Schulden. Bei wem auch immer. Der Lebenswandel eines Diakons ließ halt nichts zu wünschen übrig. Bis er am Ende des Tages auf den Tod seiner eigenen Mutter setzen musste. „…in Ewigkeit. Amen.“

Der Pfarrer sprach den Segen. Konrad hätte sicher gern die Feier zelebriert. Mit salbungsvoller Stimme „Asche zu Asche und Staub zu Staub“ gesprochen - und dann abräumen. Aber sie hatten ihn gar nicht erst erreicht.

Wahrscheinlich saß er mal wieder in einem Funkloch irgendwo entlegen in einem Winkel der fernen Welt. In trauter Runde auf seiner Gitarre klampfend, umgeben und angehimmelt von einer Schar Jugendlicher, die auf den rechten Pfad zu bringen seine Mission war. Mit diesen Worten hatte er es ihm tatsächlich rüberbringen wollen, was er so machte fernab der heimischen Gefilde. Mann, wann hatten sie sich so auseinanderentwickelt. Die beiden Zwillinge, die man immer noch äußerlich kaum voneinander unterscheiden konnte.

Es war dringend, dass Konrad sich endlich bald mal meldete. Und zwar aus einem ganz anderen Grund: Nach dem Chemieunfall in Tsangche gab es dringend Handlungsbedarf. Oder vielmehr Rückzugsbedarf. Frank hatte sich schon ausgeklinkt, und zwar unverzüglich, sobald ihn die Nachricht von dem Unglück erreicht hatte. Egal um das schöne Geld – aber das war seine Devise: „Keinen Ärger“. Der Unfall war nun wirklich schrecklich. Da durfte sein Name nicht in Erscheinung treten. Unter gar keinen Umständen. Er hatte sofort alles Notwendige veranlasst. Seinen Kunden hatte er die bereits verkauften Optionen zurückerstattet. Nun hoffte er inständig, dass Konrad nichts verbockt hatte. Auch sein Anteil war natürlich futsch, aber das Erbe würde seinen Bruder schon milde stimmen. Trotzdem: Er musste ihn dringend sprechen.

Überhaupt hatten sich alle etwas rar gemacht. Die Kinder waren zu Besuch bei ihrer Mutter in Amerika. Glücklicherweise war Cécile angereist. Seine Tante Cäcilia, die älteste Schwester seiner Mutter, nannte sich mit der französischen Form ihres Namens, seit sie vor gut vierzig Jahren in der Normandie einen Mann und ein Chateau ergattert hatte. Sie hatte bereitwillig die Formalitäten und die Organisation der Beisetzung in die Hand genommen.

Seine kleine Schwester wäre damit überfordert gewesen. Er hatte Vera schon am Morgen getroffen. Es war kein Geheimnis, dass sie nicht gerade den Kontakt zu ihren Brüdern suchte. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders. Konrad war ständig auf Achse, und er selbst war auch nur selten in der alten Heimat. Vera. Seine hübsche und schüchterne Schwester. Sie war fast neun Jahre jünger als Konrad und er. Selbst Familienfeiern und Mutters runde Geburtstage hatten die beiden Brüder ausgelassen. Er selbst hatte keinen Antrieb verspürt, Konrad hatte eigentlich so gut wie immer Wichtigeres im Programm. Zu sehr waren die Lebenswege der Geschwister auseinandergelaufen. Der Altersunterschied tat sein Übriges.

Heute Morgen war er offen auf Vera zugegangen und hatte sie in den Arm genommen. Immerhin hatte sie noch am meisten Kontakt mit ihrer Mutter gehabt. Da wollte er nur ein bisschen nett zu ihr sein. Nach kurzer Erwiderung war sie zurückgewichen, hatte ihn verstört angeblickt und sich weggedreht. Nun gut, an solch einem Tag musste jeder auf seine Weise klar kommen. Sie sah wirklich mitgenommen aus. Das noch immer schöne Gesicht wurde von einer Härte um ihren Mund durchzogen, die nicht auf pure Lebensfreude schließen ließ. Er wusste nicht einmal, womit sie sich zurzeit so über Wasser hielt. Das Klavierspiel hatte sie sicher nicht aufgegeben. Nach seinen letzten Informationen war sie freiberuflich als Übersetzerin unterwegs. Vielleicht würde sich ja doch noch ein Gespräch ergeben.

In einiger Entfernung sah er Martin, den kleinen Martin. Er war natürlich nicht mehr klein. Mutter hatte den Gestrandeten aufgenommen, als dieser gerade zwölf Jahre alt geworden war und nachdem der Vater sein Familienheim abgefackelt hatte. Martins Mutter war bei dem Brand ums Leben gekommen. Die Kinder hatten in dem Anbau nebenan geschlafen und waren mit heiler Haut davongekommen.

Ob es nun tatsächlich Martins Vater war, ob da Absicht im Spiel war und unter welchen Umständen sich das Ganze in Wirklichkeit abgespielt hatte, wusste natürlich keiner so richtig. Aber so hatten sie es sich zusammengereimt, Konrad und er. Damals. Sie waren neunzehn Jahre alt gewesen, und die Geschichte hatte etwas absolut Mysteriöses und natürlich Faszinierendes an sich gehabt. Und bot eine Menge Stoff für Spekulationen in jedwede Richtung. Martin war schon in Ordnung. Aber eben ein kleiner verschüchterter Junge. Wenn man neunzehn war und auf ein solches Weichei traf, dann war es doch logisch, so einem ein wenig zuzusetzen. Allein schon, dass er die Welt mal von innen kennenlernte. Wie sie so war. Martins Vater hatten sie laufen lassen, keine Beweise oder so. Er hatte sich trotzdem nicht mehr blicken lassen, konnte seinen zwei Söhnen wohl nicht mehr unter die Augen treten und hatte sich aus dem Staub gemacht.

Konrad hatte sich den Kleinen gekrallt und in seine Gemeinde abgeschleppt. Martin war Feuer und Flamme gewesen und schnell zum ernsthaft überzeugten Messdiener aufgestiegen.

Sie hatten keine allzu lange Zeit zusammen in Mutters Haus verbracht. Frank war knapp zwei Jahre später ausgezogen, Konrad kurz nach ihm. Aber dann sollten sie ja noch den Babysitter machen, im Sommer 76. Jenem Sommer, in dem Frank seine Millionärslaufbahn einstielte. Er musste grienen. Der kleine Martin hatte alles mit sich machen lassen. Für Konrad war es ein erfreulicher Sommer gewesen, für ihn, Frank Niemann, ein sehr erfreulicher und lukrativer dazu.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jetzt erwartete man wohl, dass er ein Schäuflein Erde auf den Sarg schippte, in dem seine Mutter lag, die nicht wieder kommen würde. Beinahe war er über seine Stumpfheit erschrocken. „Immerhin Mutter“, dachte er und versuchte, seine Gefühle zu wecken. Aber er hatte abgeschlossen. Schon vor langer Zeit. Wie gern hätte er sie in männlich starker Heldenmanier aus ihrer dunklen Einsamkeit gezogen. Aber das hatte sie nicht zugelassen. Und dann war der Zug abgefahren. Vor gefühlten Ewigkeiten.

Kurz nach der Geburt seiner Schwester - Konrad und er waren damals neun Jahre alt – hatte ihre Großmutter in einer beispiellosen Entschlossenheit dem ganzen Elend ein Ende gesetzt und ihren Schwiegersohn aus dem Haus geworfen. Mit Pauken und Trompeten, wie man so sagte. In einer wilden berechtigten Wut, die ihn begeistert hatte. Sein Bruder und er hatten nur zwei seltene Male die rohe Gewalt ihres Vaters am eigenen Leib erfahren müssen.

Ihrer Mutter war es da ganz anders ergangen. Zumindest er, Frank, hatte mehrere Male aus den Geräuschen im Schlafzimmer der Eltern seine Schlüsse gezogen. Es hatte immer mit einem kaum vernehmlichen Wimmern seiner Mutter geendet, das bald vom Schnarchen des hemmungslosen Grobians übertönt worden war. Spätestens dann hatte Frank sich von seinem Lauschposten an der Tür zurückgezogen und endlich selber einschlafen können. Natürlich war niemals auch nur ein Wort darüber gewechselt worden. Mutter, die doch ganz offensichtlich gelitten haben musste, die unglücklich in ihre Laken weinte, gedemütigt und einsam. Sie hatte einen unermüdlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, das ganze Elend totzuschweigen. Es war ein Wunder, dass Großmutter überhaupt Wind davon bekommen hatte.

Als Vater weg war, war Mutter leider kein bisschen freier geworden. Jeder noch so kleine Furz durfte um Himmels willen nicht knallen. Er hätte ja eine Explosion nach sich ziehen können, die das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hätte. Natürlich hatte er Mutter geliebt. Immer liebt man seine Mutter. Schon als Junge hätte er sie gern beschützt oder getröstet oder ihr einen Tritt in den Hintern gegeben, sie solle sich mal endlich wehren. Aber dafür hatte es nie einen passenden Moment gegeben. Alles war gut. Alles eitel Sonnenschein. Zum Davonlaufen. Das hatte er dann endlich auch gemacht. Sein Auszug aus dem Haus des mundtoten Friedens war ein Befreiungsschlag gewesen. Ihm war die klare Erkenntnis gefolgt, von da an nur noch reich und frei sein zu wollen.

Nun das Händeschütteln. Er, Cécile, Vera. Als Ella ihm gegenübertrat, lächelte er sie verstohlen an und zwinkerte ihr zu. He, was war denn mit der los? Sie war doch sonst nicht so. Nur weil der kleine Martin, ihr so genannter Gatte, hinter ihr stand, musste sie doch noch lange keinen Gruß von ihm zurückweisen. Nun gut, vielleicht sollte er auf eine andere Gelegenheit warten. Womöglich rief sie ihn noch im Laufe des Tages an. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine solch beiläufige Begegnung ein sehr schönes Ende nehmen würde.

So, endlich war der Akt in der eisigen Kälte vorüber. Zum anschließenden Begräbnisschmaus entschuldigte Frank sich mit der Ausrede des bereits gebuchten Fluges und verschwand.

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