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III

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Martin hakte sich schweigend bei seiner Frau unter. Wortlos schlurften sie über die gefrorenen Friedhofswege. Ella entdeckte Vera in einiger Entfernung.

„Hallo, warte doch!“, rief sie ihr zu und löste sich von Martin.

Der Anblick der beiden Freundinnen von einst, die endlich wieder aufeinander zugingen, zog Martin für einen Moment aus seiner schweren Stimmung. Lange Jahre war das Verhältnis der beiden unterkühlt gewesen. Ella hatte den Abstand mit Veras Liebesleben begründet, das sie verurteilt und für schlicht inakzeptabel gehalten hatte. „Was will sie mit all den ständig wechselnden Möchtegernmachos“, hatte sie geschimpft, „man erkennt sie nicht wieder.“ Sie hatte Vera vorgehalten, sich den Männern wahllos hinzugeben, sich anzubiedern, um am Ende als Sexobjekt abserviert zu werden. Dass sie das nicht sehen würde. Seine Frau hatte sich immer mehr von Vera distanziert, bis sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt hatten.

Vera hatte Pech in der Liebe. Das sah Martin ohne Zweifel differenzierter als seine Gattin. Die Bekanntschaften kamen und gingen. Auch Martin hatte den Herren, die er schon mal zu Gesicht bekam, nichts abgewinnen können. Aber das war Veras Sache. Vielleicht würde sie irgendwann einmal ein bisschen mehr Glück haben. Das konnte man ihr nur wünschen. Vera war attraktiv, mit einer Aura von Geheimnis, die Martin schon immer anziehend gefunden hatte. Wenn die beiden Frauen nun zu einer Wiederbelebung ihrer Unbefangenheit von einst finden könnten, wäre es Martin nur recht.

Der Tag nahm seinen furchtbar tristen Gang. Die Kälte zog tief in Martins Gemüt. Es waren gar nicht viele gekommen. Cécile aus Frankreich, die kannte er. Ein paar weitere Verwandte hatte er schon mal gesehen. Vera war da. Aber Konrad? Wo steckte der? Und warum war Frank so schnell verschwunden? Außer dem Kondolenzgruß hatten sie kein Wort gewechselt. Martin war verstört. Diese Familie war einst seine Rettung gewesen. Nun zerbrach sie in unsichtbare Gestalten wortlos auseinander.

Wie durch Zufall, wie es ihm noch immer schien, war er damals in die Familie der Westerholts hineingepurzelt. Mit welcher Selbstverständlichkeit er dort aufgenommen worden war. Welch anderen Lauf hätte sein Leben wohl genommen, nach all dem Kummer und der Schwere eines jeden Tages jener Zeit.

Tante Lores Tod rief die Vergangenheit wach. Schon gleich nach seiner Übersiedlung zu den Westerholts vor nun siebenunddreißig Jahren hatte sie ihm gesagt: „Nenn mich einfach Lore, Martin.“ Gegenüber der Erwachsenen war es ihm fremd gewesen, sie nur beim Vornamen anzusprechen, und er hatte eine Tante hinzugefügt, Tante Lore daraus gemacht. Dabei war es geblieben. Tante Lore war für ihn der einzig verlässliche Mensch gewesen, der Fels in der Brandung, in der alles zusammenzubrechen drohte. Kein anderer Erwachsener, den er zu der Zeit gekannt hatte, hatte sich an irgendwas gehalten, was er in Aussicht gestellt oder versprochen hatte. Nach dem Unfall.

Martin war noch keine zwölf gewesen, sein Bruder Gregor gerade dreieinhalb. Sie hatten Gregor und ihn einfach auseinandergerissen. Gregor wurde in die Familie von Tante Ulla gesteckt. Dort haderte er noch eine Weile mit seinem Schicksal, schien sich dann aber bald in seine Situation fügen zu können. Ihr Vater und dessen Schwester, ihre Tante Ulla, waren sich schnell einig geworden: Der Jüngere musste eingebunden werden. In eine Familie. Zwei Jungen aufzunehmen war Tante Ulla zu viel. Martin als dem Älteren trauten sie es ohne weiteres zu, in der Woche im Internat zu sein und die Wochenenden bei seinem Vater zu Haus. Was nach dem Feuer davon übrig war. Auch Gregor sollte nach Möglichkeit an den Wochenenden zu Hause mit seinem Vater und seinem Bruder verbringen. Soweit der Plan.

Es kam natürlich wieder völlig anders. Tante Ulla wohnte zu weit weg. Niemand hatte Lust und Ausdauer, Gregor am Freitag nach Hause zu bringen und sonntags wieder zurückzufahren. So schlief die Abmachung der Erwachsenen bald ein. Und Martins Vater, der von Berufs wegen für ein Pharmaunternehmen Herzmittel im Außendienst verkaufte, tauchte immer seltener zu Hause auf. Martin hatte nicht verstanden, was er eigentlich so im Einzelnen zu tun hatte. Jedenfalls war er ständig weg, was schon seine Mutter genervt hatte. Dass er sich nun noch rarer machte, mochte anfangs durchaus an der Zerstreuung gelegen haben, die er nach Mutters Tod zunächst mal suchte. Das hatte Martin ihm damals, am Anfang jener Schreckenszeit, noch durchgehen lassen.

Inzwischen war ihm aber klar, dass sein Vater Zerstreuung ganz anderer Art gesucht und auch gefunden hatte. Seine Söhne waren untergebracht, irgendwie, im praktischen Leben hatte er mit Kindern sowieso nichts anzustellen vermocht, und so war der Rest der kleinen Familie zerfallen. Selbst die beiden Brüder verloren sich bald aus den Augen. Gregor war noch zu klein, um sich gegen die Abschottung zur Wehr zu setzen. Martins Wort hatte kein Gewicht. Tante Ulla, die in Wahrheit keine Lust auf die Chauffierdienste gehabt hatte, redete sich damit heraus, dass der Kleine nur unnötig Heimweh bekomme und hin- und hergerissen würde, wenn er ewig pendeln müsse.

Martin hatte seine Mutter vermisst, unendlich vermisst. Der Verlust von Gregor und Vater hatte ihm zusätzlich weh getan und an seinem kindlichen Gemüt genagt. Inzwischen lebte Gregor in San Francisco, mit einem Freund zusammen. Er hatte sich einen Punkt auf der Erde gewählt, der ganz entfernt gelegen war. Unerreichbar für die Erinnerungen und Verletzungen seiner nie verheilten Seele. Martin und er schrieben sich gelegentlich eine freundliche E-Mail. Mehr Nähe zur Vergangenheit war für Gregor nicht drin. Martin bedauerte dies sehr. Er fühlte sich seinem kleinen Bruder verbunden und wünschte sich, mehr mit ihm im Austausch stehen zu können. Aber er respektierte Gregor und sein Bedürfnis nach Distanz. Und er hatte den Eindruck, dass es seinem kleinen Bruder gut erging in der Ferne, in seinem neuen Leben, zu dem er ganz alleine aufgebrochen war.

Vielleicht wäre es in einem Internat sogar ganz schön gewesen. Wenn man dem Glauben schenken konnte, was so in den Büchern stand. Ein Leben zu führen voller Streiche, Unsinn und gemeinschaftlicher Rebellion gegen die Strenge willkürlicher Regeln von mächtigen Erwachsenen. Nicht einmal diesen Plan hatte sein Vater zu Ende gedacht. Als die Prospekte vom Internat kamen – Vater hatte von einem Bekannten gehört, „Hellfeld“ sei ein gutes Haus – tat er überrascht, dass nicht nur für die Unterbringung als solche zu zahlen sei, sondern auch noch Schulgeld obendrein. Das war ihm deutlich zu viel gewesen. Martin wusste inzwischen, dass sein Vater einen guten Verdienst erzielt hatte. Allerdings war sein Lebenswandel sehr aufwändig. Da hatte sein Vater Präferenzen gesetzt. Und so war Martin nicht nur an den Wochenenden oft allein geblieben. Vater war immer seltener nach Haus gekommen. Martin hatte die Tage sich selbst überlassen in dem Anbau beim toten Haus verbracht. Allein und verlassen mit all dem Kummer, den er mit niemandem teilen konnte.

Noch viel schlimmer waren die Nächte gewesen. Seinen Freunden in der Schule war das Thema lästig geworden. Natürlich, sie hatten ihn bedauert, ernsthaft bedauert. Aber es gab Raucherecken, Fußball, küssende Pärchen, bei denen man vielleicht was lernen konnte. All das war viel interessanter, als wieder und wieder über Feuer, Angst und eine tote Mutter zu sprechen. Es war eine einsame Zeit für Martin gewesen, allein mit dem Haus, mit dem Gestank von Tod und Schrecken. In den verkohlten Kleidern war nicht mal mehr der sanfte Duft des Trostes zu erschnuppern.

Vater hatte sich sein möglicherweise doch ein wenig knarrendes Gewissen und die Jugendfürsorge geschickt vom Hals gehalten. Frau Albertin aus der Nachbarschaft wurde engagiert, „nach dem Jungen zu gucken“. Und das war etwas, das Martin seinem Vater richtig übel genommen hatte. Er hatte die Hexe gehasst und unter keinem denkbaren Aspekt auch nur einen Moment ertragen können. Und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Vater zahlte ihr ein Salär, das vielleicht gut, aber ganz sicher nicht üppig gewesen sein konnte. Aber das war Hexe egal. Sie nahm alles mit, dieser alte Geizkragen. Da in Vaters Beitrag auch das Geld für Martins Versorgung enthalten war, war von vornherein klar, wie es um die Qualität der Mahlzeiten bestellt sein würde.

Alles war schrecklich an der Frau gewesen. Mit der Stimme ging es los. Hexe oktavierte ihr von Natur aus fiepsiges Organ in eine noch dünnere Höhe, sobald sie Martin begegnete. Dem nicht genug, belegte sie die Laute mit einem schleimigen Schlick. In der Kombination vermittelte sie den Eindruck, als wäre der ihr anvertraute Schützling gerade erst auf die Welt gekommen und schon jetzt sichtbar mit lebenslanger Idiotie ausgestattet. Martin hatte mit vollständiger und konsequenter Ablehnung reagiert und alles, wirklich alles verweigert, was sie ihm vorgesetzt und was mit ihr zu tun gehabt hatte. Die falschen Worte hatte er mit eisernem Schweigen quittiert. Mahlzeiten hatte er bei Freunden eingenommen oder sich was zurecht gemischt aus den vergessenen Vorräten, die sein Vater an den seltenen Besuchen nach wilden Einkäufen hinterlassen hatte.

In einem Punkt hatte Hexe allerdings gesiegt, nämlich wenn sie ihre widerwärtige Kohlsuppe gekocht hatte, und das auch noch in dem zur Küche umfunktionierten kleinen Flur des Anbaus. Das Allerletzte! Der dumpfe Gestank war mit sturer Hartnäckigkeit bis in die hinterste Ecke gekrochen, um mit unausweichlicher Präsenz zu triumphieren. Säuerlich-stumpf kam der Gestank daher, wie Martin ihn aus großen Wohnblocks kannte, in denen sich die Gerüche winterlicher Mittagsgerichte im Treppenhaus sammelten, von wo sie keinen Ausweg finden konnten. Die Albertin hatte noch eine Weile lieblos herumgefuhrwerkt, und Vater hatte ihr unbekümmert den Lohn für praktisch nichts gezahlt.

Ein Ende nahm das ganze Elend schließlich, als sein Vater unangekündigt an einem Samstag heimkehrte, niemanden antraf und bald auf die blühenden Ekelwerke der Hexe im Kühlschrank stieß. Erstaunlicherweise hatte der Zorn nicht seinem Sohn gegolten. Voller Wut war er rüber zur Nachbarin gestampft und hatte ihr eine ordentliche Standpauke gehalten. Sie hatte mit der Beschreibung eines bösen, undankbaren Rotzlöffels gekontert, und fortan hatte Martin Ruhe gehabt.

Tante Lore hatte Wind von den Zuständen bei den Schüllers bekommen. Sie lud Martin ein zum Kennenlernen, und mir nichts Dir nichts war er dort eingezogen. Martin war nicht ganz klar, ob sein Vater auch ihr einen Beitrag für die Versorgung seines Kindes angeboten hatte. Er vermutete aber, dass Tante Lore das abgelehnt hätte. Und damit war Vater feiner raus gewesen, als Martin es ihm vergönnt hätte. Er war ein weggegebenes Kind, für seinen eigenen Vater nicht mal einen Pfennig wert. Gregor hatte sich ähnlich verraten fühlen müssen. Er hatte am Ende seinen Weg in der Ferne gefunden. Und Martin hatte das Glück gehabt, bei den Westerholts aufgenommen zu werden.

Bei Tante Lore war es nicht nur das Entsetzen über die Zustände bei ihm zu Hause gewesen, dass sie sich so spontan und ohne ihn zu kennen aufgenommen hatte. Sie war glücklich gewesen, dass ihre elfjährige Tochter Vera nun endlich einen Weggefährten im fast gleichen Alter im Hause hatte.

Das änderte nichts daran, dass Martin Tag um Tag und Nacht um Nacht fürchterliche Momente durchlebt hatte. Sie hatten ihm gleich nach seiner Ankunft ein eigenes Zimmer eingerichtet. Das war ihm gar nicht recht, eigentlich sogar ganz und gar ungeheuer gewesen. Er war fremd und fühlte sich verlassen, ein Zimmer nur für ihn versprach nur noch mehr Einsamkeit. Aber so war das einfach im Hause Westerholt. Es gab mehr Platz als genug - für jeden einen eigenen Raum, für Gäste noch zwei weitere, einen Wäsche – und einen Wirtschaftsraum, Kellerräume, ein ausgebautes Dach. Es war ein großes, ein riesiges Haus. Martin hatte in der ersten Zeit nach Gesellschaft gesucht, er brauchte Ablenkung von seinen schweren dunklen Gedanken. Nachts hatte er verloren im kalten Bett gelegen, den Dämonen ausgeliefert, die seine tote Mutter entstellten und in Schatten auf der Wand einen Teufelstanz vollführten, der vom fahlen Licht der Nacht und den windbewegten Bäumen angestachelt wurde. Das waren furchtbare Nächte, allein und elternlos, entsetzlich bekümmert und voll unbestimmter Angst.

Und dann hatte es eines Nachts dieses denkwürdige Ereignis gegeben: An einem Abend im November tauchte aus dem Nichts ein Wesen auf. Lautlos fast, und doch real. Der Mond hatte an Größe zugenommen und warf mit weißer Kraft Licht und Schatten auf den hellen Körper, der vor Martins Bett erschien. Martin hatte sich erschreckt, ganz fürchterlich, und erst geglaubt, er werde Opfer seiner nächtlich kruden Phantasien. Wie hätte er Vera auch sofort erkennen können? Splitternackt war sie, ihr Körper hatte das Stadium der Kindheit bereits verlassen und den Weg zu einer Weiblichkeit aufgenommen, die Verlockung und Reiz versprochen hatte. Das hatte selbst Martin wahrgenommen. Er hatte seine Mutter manchmal nackt gesehen, unter der Dusche, sie hatte gesungen und ihn angestrahlt, wenn er ins Bad gekommen war. Doch ein Mädchen, noch jünger als er selbst. Und so schön.

Verdammt, verdammt. Er erinnerte sich, dass er genau das dachte: Verdammt, verdammt. Leider war das auch alles, was er dachte. Was er denken konnte. Als Vera so vor seinem Bett gestanden hatte, völlig regungslos, als warte sie als nächstes auf eine Reaktion von ihm, hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, was er nun zu machen hatte. Seine Erektion jedenfalls war enorm gewesen. Wahrscheinlich war er auch errötet. Jedenfalls hatte es sich so angefühlt. Immerhin dies hatte das farbenblinde Mondlicht wohl nicht verraten können. Vera hingegen schien ohne Scheu, ohne Scham zu sein.

„Was, was nur, was war jetzt zu tun?“ hatte es in seinem Kopf gerufen, aber er hatte beim allerbesten Willen, beim lieben Herrgott noch eins, nein, er hatte absolut keinen blassen Schimmer gehabt.

„Hallo Vera, Du bist aber noch ganz schön spät wach“ oder so etwas in der Art war ihm heraus gestottert. Sie hatte ihn so komisch angestarrt. Dann hatte er sich umgedreht und sofort tief schlafend gestellt. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er sogar ein bisschen getan, als schnarche er.

Am nächsten Tag hatten sie kein einziges Wort darüber verloren. Martin hatte in den folgenden Tagen versucht, Vera so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Einige Nächte später wiederholte sich die Situation, identisch nahezu. Das lautlose Auftauchen, Erschrecken seinerseits, die heftige Erektion, ein hilfloses Gebrabbel, umdrehen, Schluss. Beide Male hatte er es erst unendliche Minuten später gewagt, sich wie im Schlafe umzudrehen und leiser zu atmen, um schließlich blinzelnd festzustellen, dass sie genauso unscheinbar wie sie gekommen auch verschwunden war.

Danach geschah das nie wieder. Martin hatte diese Vorfälle zu vergessen versucht und sich bemüht, zu seiner Unbefangenheit zurückzufinden. Tatsächlich aber brannten sich diese Begebenheiten von damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war, fest in ihn ein. Vera hatte er nie darauf ansprechen wollen, sie umgekehrt tat es auch nicht. Sie hatte das bestimmt vergessen und in ihm mit Sicherheit nichts als einen dummen, unerfahrenen Jungen gesehen. Und das hätte es ja wohl ganz genau getroffen.

SCHULD-LOS

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