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VII

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Als Martin sich um neun Uhr morgens auf den Weg machte, hatte Ella sich schon wieder in ihr Arbeitszimmer verschanzt. Er klopfte an ihre Tür, sie bat ihn nicht herein, sondern kam zu ihm in den Flur heraus.

„Na, dann viel Erfolg!“, sagte sie. „Grüß Vera von mir. Kannst Du ihr dieses Päckchen geben? Sie weiß Bescheid und will es für mich aufheben.“

„Mach ich.“

„Vielleicht hat sie in der nächsten Zeit einmal Lust uns zu besuchen. Sie ist ja sicher noch eine Weile in der Gegend.“

„Ich frage sie. Oder besser noch, Du rufst sie selber an.“

„O.k. Frag sie schon mal, ich rufe sie dann auch an. Im Moment hat sie sicher andere Gedanken im Kopf. Ist denn der Fromme endlich aufgetaucht?“

„Ich weiß nicht, ob sie Konrad in der Zwischenzeit erreicht haben. So wie ich es verstanden habe, haben sie die anstehenden Aufgaben untereinander aufgeteilt. Vera kümmert sich ums Haus, Frank und Konrad um die Behördengänge und so.“

„Der Missionar per Fernbedienung?“

„Ella, sei doch nicht immer so spitz.“

„Schon gut. Kommst Du heute Abend zurück oder werdet Ihr länger brauchen?“

„Ich rufe an.“

Die Straßen waren frei, und so war er schon vor dem verabredeten Zeitpunkt in Veldern. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt, nachdem Lore gestorben war, wäre es möglicherweise das letzte Mal, dass er Zugang zu dem Haus haben würde, sollten sie es tatsächlich verkaufen. Sein Asylheim, wie er es früher des Öfteren für sich genannt hatte. Er bog links ein in die Straße, die zum Rhein hinunterführte. Die rechte Straßenseite war komplett zugeparkt, er musste sich mit einem entgegenkommenden Fahrzeug über die anzusteuernde Lücke einig werden. Auf der linken Seite das Restaurant „Rheinstube“. Das war bei ihnen damals durchgefallen. Schon im Eingangsbereich hatte es mehr als abgestanden gerochen und die olfaktorische Schmerzgrenze bei weitem überschritten. Dagegen waren sie beim Italiener schräg gegenüber sehr lecker beköstigt worden, wenn er mit Lore und Vera so manches Mal dort eingekehrt war. „Sankt Sebastianus“. Konrad hatte ihm damals erzählt, dass man sich mit so einer Minigemeinde gar nicht erst abgeben solle. Deshalb waren sie immer bis nach Malkum geradelt. Dort gab es schon etwas angemessenere Dimensionen, hatte Konrad befunden. Nicht so eine schiefe Mutter-Gottes-Figur, außerdem genügend Platz für Chor und Orgel. Das hatte auch Martin eingeleuchtet.

Hinter der nächsten Kurve hatte sich inzwischen ein Malermeister niedergelassen, wie Martin dem Schild im Vorgarten entnahm. Früher waren dort die Möltgens zu Hause gewesen, mit zwei Söhnen, so um die 16, 17 Jahre alt. Die Eltern hatten einen Gasthof in Güderich gehabt. An den Wochenenden arbeiteten sie beide im Betrieb und kamen oft erst in den frühen Morgenstunden nach Hause oder blieben ganz dort. Die Typen hatten deshalb ziemlich oft sturmfrei gehabt.

Im Sommer waren da drüben höchst interessante Feste gestiegen. Vera und er hatten sich oft im obersten Stockwerk im Wäschezimmer aufgehalten und sich in das weit geöffnete Fenster gesetzt. Von dort hatten sie den vollständigen Überblick über das, was bei den Möltgens im Garten so ablief und waren über die Phasen der Feten gut im Bilde. Sie hatten mit der Zeit eine Regelmäßigkeit festgestellt, mit der der Abend seinen Lauf nahm. Von ihrem Posten aus beobachteten sie, ob die Sache nach einem unabgesprochenem Schema abging oder ob es Ausreißer gab. Bis zehn Uhr war eigentlich nie so richtig was zu sehen. Diese Phase schien einzig dazu gut zu sein, so richtig in Fahrt zu kommen. Es wurden Apfelkorn, Asti Spumante, Altbier aus der Flasche und Colamixgetränke herumgereicht. Das konnten sie durch ihr Fernglas gut erkennen. Die Musik war dröhnend laut und schallte bis zum Rhein hinunter. Hardrock, E-Gitarre, rauchige Stimmen. Manchmal überstand einer der Gäste schon diese erste Phase nicht und erleichterte sich in der Ecke bei den großen Wacholderbüschen. Ab zehn wurde die Musik noch weiter aufgedreht. Beschwerden aus der Nachbarschaft waren erstaunlich selten, auch wurde eigentlich nie die Polizei gerufen, selbst wenn die Bässe durch die Nachbarschafft wummerten. Bei Ostwind wurde der Schall hingegen zum Rhein hinunter getragen, und da war ja keiner mehr um die Zeit. Einzelne Spaziergänger mochten sich allenfalls amüsieren über die verrückte Jugend, und jenseits des Rheins wurde der Lärm ganz sicher von den Wiesen und Böschungen des anderen Ufers geschluckt. Bei „Heinz Jupp“, dem Lokal schräg gegenüber, konkurrierten schon bald die grölenden Kerle, die sich nach etlichen Zechrunden alter Kameradenlieder erinnerten. Was natürlich im musikalischen Gesamteindruck wenig Harmonie versprach. Bei Möltgens unten im Garten drehten sie inzwischen Zigaretten.

„Joints“, klärte Vera ihn auf. „Davon wird man richtig high, man darf sich nur nicht erwischen lassen.“

Martin fragte sich, woher sie das nun schon wieder wusste. Was die Wirkung betraf, war ihre Einschätzung ganz augenscheinlich zutreffend. Bald standen die ersten Jungs in Grüppchen auf dem Rasen, tief in die Knie gehend, den Oberkörper schräg nach hinten geneigt. Sie waren mit einer imaginären E-Gitarre, einer schicken „Gibson“ womöglich, ausgestattet, die linke Hand am Griffbrett, die rechte in die Saiten schlagend. Trotz der Kippe im Mundwinkel schafften sie es, dumpfe Bamm-bam-bamm-Laute auszustoßen. Im Rhythmus der Bässe, die aus den Boxen auf der Terrasse dröhnten, zuckten ihre Körper, schon in Ekstase. Das Ganze endete in der Regel damit, dass sich überall verteilt Pärchen bildeten, die sichtbar aneinander rumfummelten und sich schließlich auf die Suche nach einem bequemeren Plätzchen begaben. Mehr konnte man leider nicht sehen vom Posten oben im Fenster. Es war inzwischen stockdunkel, und die Liebespaare hatten sich unter Sträucher oder auf die Matratzen im Partykeller - das war Veras Vermutung - zurückgezogen. Martin erinnerte sich, dass es nur einmal eine echte Abweichung von diesem Verlauf gegeben hatte. Einer der Gäste hatte ein paar größere Jungen mit angeschleppt. Vera und er hatten die Neuen eine ganze Weile durchs Rohr beobachtet, bis Vera sagte:

„Die machen Geschäfte!“

„Wie, Geschäfte? Was für Geschäfte denn?“

„Na, die wollen den Kleinen Stoff verkaufen. Hasch, Heroin und so Zeugs.“

„Au Scheiße“, sagte Martin, der gerade mit dem Fernglas dran war, um das Geschehen näher zu inspizieren. „Der mit der dicken Brille hat ein Klappmesser springen lassen. Komm, wir rufen die Polizei.“

„Bist Du wahnsinnig? Am Ende werden die allesamt abgeführt, die ganze Gesellschaft, und wir sind die Verräter.“

„Stimmt auch wieder“, sagte Martin. „Dann lass uns überall die Lichter anmachen, vielleicht vertreibt sie das.“

„O.k.“, sagte Vera.

Sie verließen ihren Posten und knipsten in allen Zimmern auf der Ost- und der Südseite des Hauses die Lampen an, nur in ihrem Beobachtungsraum nicht. Sie schauten aus dem Dunkel über das Fenstersims nach drüben. Etwas geblendet von der Flut des Lichts konnten sie immerhin gerade noch erkennen, dass sich die Geschäftemacher verzogen, und kurz darauf hörte man sie auf ihren Motorrädern rasch davonfahren. Danach war es ruhiger geworden, und die Party hatte ihren Lauf genommen.

Martin riss sich aus seinen Gedanken und schaute über den Zaun. Zu Pyramiden akkurat geschnittene Buchsbäume zierten den Vorgarten und verhinderten einen Blick auf den Eingangsbereich. In diesem Ambiente wurden sicher keine wüsten Partys mehr gegeben. Aber die Zeiten hatten sich sowieso geändert. Der neueste Trend kam mit Kopfhörer-Partys daher. Leon hatte ihnen neulich beim Abendessen erzählt, dass auf einer Silent-Disco im In- oder Outdoorbereich jeder einen Funk-Kopfhörer trage, der von einem DJ mit zwei alternativen Musikstücken beschickt werde. Dazu werde getanzt. Als Ella und er schwallartig mit Argumenten kamen, wie bescheuert das denn sei, hatte Leon nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Ist eben so.“

Bei Möltgens jedenfalls war immer gut was los gewesen. Bis sie eines Tages von jetzt auf gleich verschwunden waren. Es waren zwei Lastwagen vorgefahren, sie hatten ihr ganzes Hab und Gut darin verstaut, und dann waren sie weg gewesen. Niemand konnte sagen, wohin es sie verschlagen hatte.

Martin klingelte und schloss die Tür auf. Vera kam ihm entgegen und umarmte ihn. Sie trug eine enge Jeans und ein rotes T-Shirt, darüber ein kariertes Flanellhemd, das ihr viel zu groß war. Die Ärmel hatte sie hochgekrempelt.

„Schön, Dich zu sehen“, sagte er. „Weißt Du eigentlich, was aus den Möltgens geworden ist? Ich habe eben an unsere Beobachtungen oben vom Fenster aus denken müssen.“

„Bamm bam bamm“, machte Vera und mimte die Phantom-E-Gitarristen nach. Sie lachten.

„Oh, und dann die Sache mit dem Klappmesser“, sagte Vera. „Nein, keine Ahnung, was aus denen geworden ist. Man hat in der Straße getratscht, dass es mit dem Gasthof wohl bergab gegangen sei. Nein, Genaues kann ich Dir nicht sagen. Aber die Neuen sind die echten Langeweiler. Da rührt sich überhaupt nie was. Nur, wenn ich bei geöffneter Tür am Klavier sitze, was ja wirklich nur selten vorkommt, ich bin ja praktisch nie da, ist er flink dabei, der Alte. ‚Fenster zu!‘, brüllt er dann, ,das ist ja nicht zum Aushalten nicht.‘“

„Dem kann man doch sicher mal die Meinung sagen.“

„Ach, das lohnt sich nicht für die paar Male. Und jetzt ist die Zeit ja auch zu Ende.“

„Es ist wunderbar hier, Vera. Ihr könnt das Haus nicht weggeben. Wer soll sich das überhaupt leisten können? Es ist ein Vermögen wert.“

„Lass uns nicht darüber streiten“, sagte Vera. „Vielleicht hat Mutter es ja Dir vermacht, Du warst immerhin Mamas Liebster.“

„Mach Dich nicht lustig über mich. Heißt das, Ihr wisst gar nicht, ob es ein Testament gibt und ob oder was sie verfügt hat?“ Martin kam erneut die Umschlagserie in den Sinn, die im Schließfach der Bank schlummerte. Jetzt wäre es wohl an der Zeit, die Nummer eins zu öffnen. Gegenüber Vera erwähnte er das nicht. Er hatte in irgendeiner Form Geheimhaltung versprochen, wenn ihm auch nicht mehr erinnerlich war, wie weit und warum überhaupt. Und eigentlich spielte das jetzt sowieso keine Rolle mehr, nachdem Tante Lore gestorben war.

„Kommenden Montag wollen meine Brüder zum Notar. Frank sagte, der Notar habe sich bei ihm gemeldet und uns eingeladen. Er hat ein Testament, das will er mit uns besprechen. Ich habe keine Lust hinzugehen. Das soll Frank erledigen, und ob Konrad bis dahin wieder auftaucht, ich hab keine Ahnung. Egal, so oder so, müssen wir hier aufräumen und all das rausstellen, was ganz weg soll.“

„Aber können wir es nicht noch eine Weile so lassen, wie es ist?“

„Martin, so kommen wir nicht weiter. Lass uns im Keller beginnen, da wirst Du sicher nicht so viel vermissen müssen.“

Sie schufteten ohne Unterbrechung und hielten nur selten inne, um sich Geschichten von früher zu erzählen.

„Mutter war eine wahre Konservative“, sagte Vera am späten Nachmittag, „sie hat ja wirklich alles und jedes aufgehoben.“

Draußen war es schon wieder dunkel, und die langen Neonröhren warfen ein kaltes Licht auf die vollgestopften Wandregale. Vera hielt zwei Kehrbleche aus Metall in der Hand, von denen das ursprüngliche Blumenmuster schon weitgehend abgeblättert war. Martin wollte schon ansetzen, die seien doch noch ganz schön, aber er biss sich auf die Zunge. Er ging ihr sowieso schon auf die Nerven mit seiner Quengelei, das Haus nicht herzugeben.

Als die Kirchturmuhr neun schlug, beschlossen sie, für heute aufzuhören. Sie hatten mehr als drei Dutzend großer Kisten gefüllt mit Kram, der ohne weitere Diskussion auf dem Abfall landen durfte. Sogar Martin war einverstanden. Was sie nicht bedacht hatten, war, wie man die Kisten jemals nach oben schleppen sollte. Sie waren zu schwer.

„Das überlassen wir den Profis“, sagte Vera. „Sollen wir rübergehen, eine Kleinigkeit essen? Ich habe guten Hunger.“

„Oder wir lassen uns was mitgeben, setzen uns auf die Terrasse und lauschen dem Tuckern der Frachter auf dem Rhein.“

„Martin, es ist stockfinster, erbärmlich kalt und Winter obendrein. Wie lange hast Du überhaupt Zeit?“

„Ich rufe Ella an, dass wir morgen noch zu tun haben, wenn Du mich noch gebrauchen kannst. Das hatte ich mit ihr schon so besprochen.“

„Gern. Dann lass uns zu Rino gehen, bevor der seine Küche schließt. Hinterher können wir immer noch überlegen, ob wir am Rhein spazieren gehen oder uns in die Kälte hocken und die Schiffe zählen.“

Sie lachten. Martin erreichte Ella sofort. Sie wünschte ihnen einen schönen Abend, sie müsse sowieso noch arbeiten. „Hast Du Vera das Päckchen gegeben?“

Hatte er nicht. „Ich hole es sofort. Es liegt noch im Wagen.“ Er ging zum Auto und gab es Vera. „Du weißt schon was es ist, meinte Ella.“

„Ja ja“, sagte Vera, „ich soll mir das mal ansehen, wenn ich Lust habe. Und dann soll ich es behalten. Muss mal gucken, dass das hier in dem Chaos nicht verloren geht. So, lass uns gehen.“

Rino freute sich, sie beide zu sehen. Sie tauschten sich wechselseitig ein wenig über die Befindlichkeiten aus. Rino gab sein Bedauern über den Tod der netten alten Dame zum Ausdruck und sagte, dass die im Frühling immer so begeistert war vom gebratenen Spargel mit Parmesan. „Alle wollen immer die deutsche Variante, gekocht, mit Butter übergossen, Petersilie, möglicherweise eine dicke Sauce Hollandaise und geräucherten Schinken dazu. Ich hab die Leute zu den deutschen Kollegen geschickt. Ihre Mutter aber wusste meine Zubereitung sehr zu schätzen.“

Heute hatte er auch wieder ein köstliches Menü im Angebot. Ein Thunfischtartar auf Gurkenspiegel, Papardelle mit Pfifferlingen und Tiroler Speck, Lammcarré mit Bohnen und Kartöffelchen und ein wunderbares Dessert mit Tiramisu, Panna cotta und Früchten. Sie hatten sich der von Rino vorgeschlagenen Weinbegleitung angeschlossen. Nach dem Espresso spendierte der Chef ihnen noch einen Grappa.

„Ich muss Dich endlich mal in Lübeck besuchen kommen. Ich weiß ja immer noch nicht, wie Du da oben eigentlich wohnst.“

„Jedenfalls ist es nicht so zugestellt mit allem Möglichen wie hier in dem Ambiente“, sagte Vera. „Ja, komm doch gerne mal. Du bist immer herzlich willkommen, das ist doch klar. Vielleicht kommst Du alleine hoch. Ich vermute, Ella hat Probleme damit. In den vergangenen Jahren hat sie mich immerhin regelrecht gemobbt.“

„So etwas gibt es doch mal, Vera. Und es scheint doch vorbei zu sein. Und zwar plötzlicher, als ich es gedacht hätte.“

„Ja, irgendwie überraschend. Sie war praktisch so wie früher, als hätte es diese ganze Zeit dazwischen nicht gegeben.“

„Vielleicht hat sie ja auch Lust mitzukommen, nach Lübeck“, sagte Martin. „Ja, wir kommen zusammen.“

„Meinetwegen“, sagte Vera, aber es klang nicht sehr begeistert.

Martin winkte Rino heran. „Ich möchte zahlen, bitte. Ich lad Dich ein, Vera.“

„Du bist es doch, der mir hilft, den ganzen Mist aus dem Keller zu ziehen, da bin ich ja wohl dran.“

„Vera, ich möchte nicht, dass Du das so siehst. Es ist genauso mein Anliegen. Ich habe so viel von Deiner Familie genommen und bekommen. Da kann ich wohl mal ein bisschen mit aufräumen.“

„O.k. Das sehe ich ein. Danke, Bruder.“ Sie stießen mit dem restlichen Schluck Grappa an und schauten sich tief in die Augen.

Als sie wieder im Haus waren, fragte Vera: „Soll ich nun Decken holen und wir setzen uns auf die Terrasse, damit Du die Schiffe in der dunklen Nacht erspähen kannst und tuckern hörst?“

„Wahrscheinlich ist es doch zu kalt dafür, obwohl ich es mir gut vorstellen könnte.“

„Kein Problem“, sagte Vera und suchte ein paar Decken zusammen, „wir können es ja mal versuchen.“

Sie öffnete die Tür nach draußen. Augenblicklich zog die Kälte in den Raum. Sie stellten vier Stühle raus, Vera zog die Tür zu, und sie hüllten sich vollständig in die Decken ein, die Beine auf die vorderen Stühle gelegt. Sie saßen dicht beieinander und sagten nichts. Die schweren Kähne tuckerten gemächlich den Rhein hinunter, in der Gegenrichtung stampften sie mit voller Motorkraft flussaufwärts in den Süden. Martin fühlte sich wohl. Die Kälte spürte er nicht. An dieses Tuckern der Schiffe hatte er sich geklammert in der Zeit nach dem schrecklichen Unfall damals. Es war einfach da, zuverlässig und beständig, ohne Unterlass. Nachts hatte er sich ausgemalt, welche Größe das Schiff haben mochte, das gerade vorbeifuhr, ob ein Auto an Deck war und wie viele Bruttoregistertonnen es am Zielort zu löschen haben würde. Wie jetzt. Vereinzelt sah er die Silhouette eines Kapitäns in der Bootsführerkabine und versuchte sich vorzustellen, an was er wohl dachte auf seiner Fahrt in die dunkle Nacht.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, mit Vera über einige Dinge zu sprechen. Zum Beispiel endlich mal sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen über die Geschichte damals, als sie vor seinem Bett gestanden und er sich so saudämlich angestellt hatte. Oder mit ihr über ihrer beider Liebesleben zu sprechen. Wie sich alles so entwickelt hatte, seit ihrer Jugend. „Nein, nein“, rief er sich zurück. Er durfte diesen Moment auf keinen Fall mit heiklen Dingen belasten, er musste ihn einsaugen, diesen Abend, atmen und in Kopf und Seele festhalten. Als Reserve sozusagen, auf die er zugreifen würde, wenn das nötig war und er nicht mehr an diesem Ort verweilen könnte.

Er nahm Veras Hand, die sich bereitwillig um die seine schloss. Er legte eine Decke darüber, und sie saßen weiter da, ganz still, den Blick in die dunkle kalte Nacht gerichtet, auf die Schemen der schwer beladenen Kähne. Als sich der Frost allmählich doch bis unter die letzte Decke zu ihnen vorgekrochen hatte, gingen sie rein.

„Soll ich den Kamin anfeuern?“, fragte Martin.

Vera lächelte ihn an. „Ich weiß doch, dass Du das nicht magst. Wir gehen einfach ins Bett. Da besteht noch am ehesten die Chance, dass wir jemals wieder auftauen.“

Martin war froh darüber. Er dachte nicht einmal daran, wo das alles enden könnte. Obwohl es seinem Naturell entsprochen hätte abzuwägen, zu zagen und zu zaudern. Heute Nacht würde er Vera zeigen, was er immer schon für sie empfunden hatte und ihr beweisen, dass er nicht ein dummer Junge geblieben war. Da war nichts Schlimmes dran. Im Übrigen würde es sich auch gar nicht mehr vermeiden lassen, so wie ihm gerade zumute war. Nur keine Fehler.

Er folgte Vera in sein früheres Zimmer. Lore hatte die Zimmer ihrer Kinder - auch seines gehörte dazu - gelassen wie sie waren. Es stand alles an seinem Platz. Wie früher. Ein blasser Schein drang in den Raum, sonst war es dunkel. Vera schaltete das Licht nicht ein und zog sich aus. Ihren Slip behielt sie an. Er tat es ihr gleich, und sie krochen schlotternd und steif vor Kälte unter die Decke. Sie legten sich ganz nah beieinander, die eisigen Füße ineinander verschränkt. Diesmal war Vera es, die ihre Hand in seine legte. Er wandte ihr sein Gesicht zu und küsste sie auf den Mund, auf die Stirn und ihr Ohr. Sie strich ihm mit der freien Hand über seinen Kopf und streichelte seine Schulter mit einer zarten Ernsthaftigkeit, die ihn wahnsinnig machte. Er wagte sich vor bis zu ihrer Brust. Sie erzitterte.

„Martin“, sagte Vera ganz leise, „was wirst Du Ella sagen?“

„Ella?“, fragte Martin, als hörte er diesen Namen zum ersten Mal.

„Was wirst Du ihr sagen?“, wiederholte sie.

„Was soll ich ihr sagen? Nichts wahrscheinlich.“

„Willst Du es denn trotzdem?“

„Vera“, sagte Martin und drückte sie noch näher an sich, „ja ja unbedingt! Nein, ach verdammt noch mal, wahrscheinlich hast Du recht. Wenn Du schon von ihr sprichst. Vielleicht sollten wir uns wie Bruder und Schwester benehmen. Ja ja, Du hast vollkommen recht.“ Sie lagen jetzt wieder auf dem Rücken, eng beieinander, die Hände zusammen.

„Warum hat sie nur davon angefangen?“, dachte Martin und war fast ein wenig wütend auf sie. Man hätte doch hinterher überlegen können, wie man damit umgeht. Oder hatte er schon wieder etwas falsch gemacht. Für heute jedenfalls war es gelaufen. Aber sollte es sich nochmal ergeben, würde er es nicht wieder verpatzen.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, es dämmerte noch, sah Vera ihn aus ihren fragenden Augen an. Ihre Hand lag auf seinem Bauch. Sie fielen übereinander her, als würde ihnen das Leben definitiv keine weitere Gelegenheit mehr hierzu geben. Die Gier war der Motor, von der Feierlichkeit des Vorabends keine Spur.

„So haben wir uns das beide nicht vorgestellt“, sagte Vera hinterher, „aber so ist es gekommen. Das ist nicht schlimm. Das kriegen wir schon hin. Darf ich Dir ein Ständchen spielen?“

Er nickte. Sie zog sich Slip und T-Shirt an und ging ins Zimmer nebenan. Als sie die ersten Takte spielte, kamen ihm die Tränen. Das war sein Stück, ihrer beider Stück, Musik voller Sehnsucht und Wehmut, sanfter Melodie und bestimmender Bässe. Das „Adagio in h-Moll“ für Klavier von Mozart. A Dagio, für Dagio, hatte er damals verstanden und es für die Widmung an einen italienischen Freund des Komponisten gehalten, als sie ihm, dem 13-Jährigen, den Titel des Stücks genannt hatte. Es war für ihn mit der Traurigkeit von damals verwoben, gleichzeitig versprach es Trost und Geborgenheit, in der Familie aufgenommen worden zu sein und in Vera eine echte Gefährtin gefunden zu haben. Und schön, zum Heulen schön.

„Jetzt mal halblang“, kam ihm Franks Spruch in Erinnerung. Er rieb sich die Augen. Er lag in seinem Kinderbett, wenn man es mal genau nahm, hatte soeben eine triebhafte Vereinigung mit der Schwester seiner Jugendjahre abgeliefert und schluchzte vor sich hin? Nichts war wieder gut, es war schon wieder vermasselt. Er stand auf, ging zu Vera und küsste ihr aufs Haar. Dann duschte er und zog sich an. Auch Vera hatte sich wieder ihre Aufräumkluft übergestreift. Sie kochte ihnen einen Tee.

„Seit Mamas Beerdigung träume ich von Zahlen. Es ist ein unangenehmer Traum voller wirren Zeugs. Noch im Traum wird mir übel. Und ich wache schweißgebadet auf. Er kommt jede Nacht wieder. Deswegen war ich auch heute Morgen so früh wach. Ich hatte das Gefühl, in einem Käfig zu stecken. Gefangen, in einem Käfig voller feindlicher Zahlen, die einen Geruch von Gefahr verströmten. Als ich aufwachte, war es wunderbar, dass Du bei mir warst.“

Sie räumten noch bis zum späten Nachmittag auf, sprachen kaum, soll das bleiben, kann das weg, und dann hatte Martin den Drang, schnell nach Hause fahren zu müssen.

„Hier, nimm die, Du bist jederzeit willkommen.“ Vera gab ihm zwei Schlüssel, die an einem Metallring befestigt waren, an dem auch eine Taschenlampe hing. „Ich werde in den nächsten Tagen nach Hause fahren, muss unterrichten. Die Leute haben die Stunden fest gebucht. Ich fahre vielleicht nächste Woche wieder runter. Du kannst gern in den Norden kommen. Und wenn es wieder wärmer wird, machen wir mal einen kleinen Törn, gehen segeln. Ich bin viel zu selten mit dem Boot unterwegs. Das liegt oben einsam im Hafen von Orth. Da sammeln sich nur die Meerpocken am Unterwasserschiff.“

Sie reckte sich und küsste ihm auf die Stirn. „Es war wunderbar, bis bald“, sagte sie dann, und Martin hatte wirklich keine Ahnung, was genau sie damit meinte.

Als er nach Hause fuhr, fühlte er sich aufgewühlt nach den zwei Tagen. Der Sommer in Frankreich kam ihm in Erinnerung, der Sommer ihrer Jugend. Die Reise war sowohl für ihn als auch für Vera völlig überraschend gewesen, und die Wochen in Frankreich waren alles andere als so gelaufen, wie Tante Lore es mit ihren Planungen im Sinn gehabt hatte.

SCHULD-LOS

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