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Missionar mit Kalenderblättern
ОглавлениеLothar Radtke, Jahrgang 1939, Hilchenbach (Kreis Siegen-Wittgenstein)
Ich gehöre zwar nicht zur Occupy-Bewegung, bin aber doch ein Aktivist. Ein Aktivist des Neukirchener Kalenders! Seit den achtziger Jahren verteile ich immer wieder Blätter aus dem Kalender. Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre von Haus zu Haus. In unsere Urlaubsplanung fließt oft auch die Überlegung ein, wo wir etwas vom Kalender weitergeben möchten.
Was mich am Kalender so überzeugt, ist zum einen, dass die Leute, die dort mitwirken, sehr kundig sind und wirklich den Nagel auf den Kopf zu treffen vermögen. Das benötigen wir heute! Die Autoren belegen immer wieder, dass die Bibel ein aktuelles Buch ist und sich daran nichts geändert hat. Heute Morgen habe ich, angeregt durch das Kalenderblatt, noch mit meiner Frau darüber diskutiert, dass man Vorteilsnahme und Bestechung heute noch genauso vorfindet wie zu biblischen Zeiten. Jemanden zu beköstigen, weil man sich einen Nutzen davon erhofft, oder auch Fallstricke zu legen, um seine Macht auszubauen: Genau so können Sie es im Buch der Könige oder bei Samuel und auch im Neuen Testament lesen. Das wird von den Verfassern des Kalenders auch so gesehen, sie übertragen die Texte also in die heutige Zeit. Und die Rückseite, was man da alles erfährt! Ich schätze auch die guten Literaturangaben. Da habe ich zum Beispiel über ein empfohlenes Buch einen Mann kennen gelernt, den nannte man Halleluja-Joe. Er war Zuhälter von zehn Damen und hat ein Schweinegeld verdient. An einem Tag ging es ihm gar nicht gut, weil er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Da lag er in Frankfurt im Rinnstein, alle sind an ihm vorbeigelaufen, nur ein Heilsarmist hat sich zu ihm heruntergebeugt, hat ihn gepackt, mitgenommen, ihn gewaschen und ihm abends eine Suppe gegeben. Das hat bei ihm so eingeschlagen, dass er all sein Geld der Kirche gespendet hat und selber auch Heilsarmist geworden ist.
Zum anderen sehe ich beim Kalender, der ja zum Erziehungsverein gehört, die Verbindung von Reden und Tun. Ich habe mir einmal die Einrichtung zeigen lassen. Was die da machen! Das hat mich überzeugt. Die nehmen Jugendliche aus zerrütteten Familien auf. Die Jugendämter wissen nicht mehr wohin mit diesen armen Kindern, die mit 8, 9, 10 Jahren in Alkoholikerkreisen groß werden mussten. Und da kümmern die sich um Menschen, die Hilfe brauchen. Das war für mich das Zünglein an der Wage, dass ich voll und ganz hinter dem Kalender stehe. Bei anderen christlichen Schriften hätte ich Bedenken, sie so zu verteilen.
Der Neukirchener begleitet mich schon seit meiner Konfirmandenzeit, denn unser Pastor in Bünde im Kreis Herford hatte ihn immer im Pfarramt hängen. Außerdem hing er auch im CVJM-Begegnungssaal. Wenn wir mit dem CVJM eine Zeltfahrt gemacht haben, unterwegs mit dem Fahrrad, den Kochtopf hintendrauf, hatten wir neben der Bibel auch den Neukirchener dabei. Irgendwann dachte ich: Vielleicht könnte man den ja auch persönlich nutzen! Und machte mich im Buchhandel auf die Suche. Und so hing er dann bald in meinem studentischen Arbeitszimmer. Ich wurde Lehrer für Biologie und Chemie, und jeden Morgen lasen wir zu Hause das Kalenderblatt und die Bibellese. Danach konnte ich mich geruhsam an mein Tagwerk begeben und war schon um sieben Uhr morgens an meiner geliebten Schule, wo ich alles vorbereiten konnte. Diese „Ausrüstung“, so nenn ich das mal nach Luther, die hat mir immer geholfen, in manchem Widerstand zu leisten und für anderes Verständnis aufzubringen. Das Lesen des Kalenderblattes und der Bibelstelle hat mir für den Tag unheimlich viel Kraft gegeben!
Ich habe dann gemerkt, dass die Blätter für den Altpapier-Container viel zu schade sind. Es gibt inzwischen wieder eine Art Faltblätter, in die man mehrere Blätter heften und dann als Umschlag weitergeben kann, die nutze ich rege. Mit Hilfe dieser Umschläge begann ich schon vor 30 Jahren, von Haus zu Haus zu fahren und Blätter zu verteilen. Zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Wir hatten im Urlaub immer die Räder dabei, ich schwang mich darauf und fuhr los. Was ich dabei alles erlebt habe, ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben! Nach der Wende fuhren wir bewusst in Orte in der ehemaligen DDR, weil dort so ein schweres Pflaster für die christliche Botschaft war. Oft begannen die Gespräche mit den Leuten ähnlich: „Halt, was machen Sie da?“ Ich sag: „Ich hab eine Botschaft.“ – „Ich brauch keine Botschaften!“ – „Aber ich habe eine besondere.“ – „Das sagen alle!“ Darauf sage ich „aber ich bin nicht ‚alle‘.“ „Ja wer sind Sie denn?“ – „Ich bin ein einfacher Christ.“ – „Sie sind bestimmt ein verkappter Zeuge Jehovas!“ Diese Aussage habe ich hunderte Male gehört, „dann können Sie gleich wieder weiterfahren.“ Nachdem ich glaubhaft belegt habe, dass ich kein Zeuge Jehovas bin, sondern ein einfacher, kleiner, überzeugter Lutheraner, durfte ich nähertreten, oft wurde ich sogar zu einer Tasse Kaffee eingeladen. An viele Begegnungen erinnere ich mich noch sehr gut. Da war zum Beispiel die Frau bei Marlow südlich von Rostock, die gerade ihre Wäsche abhängte und mich zunächst ähnlich wie gerade beschrieben ansprach. Sie kochte dann Kaffee und erzählte, dass sie gerade in der Scheidung stand. Ich fragte, wann sie und ihr Mann das letzte Mal gemeinsam am Tisch gesessen hätten. Das wollte ihr Mann schon lange nicht mehr, erzählte sie, morgens beim Frühstück wolle er seine Ruhe, abends nach der Arbeit käme er erst nach Hause, wenn er schon acht Köstritzer getrunken habe. Ich habe sie dann ermutigt, sich mit ihm doch noch einmal hinzusetzen, obwohl sie zunächst sagte, das sei „für die Katz“, damit er mal so richtig auspacken kann, warum er sich von ihr entfernt hat. Vielleicht mit Hilfe eines Nachbarn, der als dritte Person beim Gespräch dabei ist.
Ein anderes Gespräch, das mir sehr nahegegangen ist, hatte ich mit einer Frau, die nicht mehr leben wollte. „Sie haben mir erzählt, Sie seien Chemiker“, sagt sie. „Können Sie mir nicht etwas bringen? Ich will nicht mehr.“ Ich sage: „Den Teufel werde ich tun! Ich bringe Ihnen nichts! Was ich Ihnen bringen kann, ist eine Bibel.“ „Ach“, sagt sie, „die kann mir auch nicht helfen.“ – „Versuchen Sie es doch einmal. Jetzt werden Sie erstmal ganz ruhig, und dann kann ich Ihnen ein paar hilfreiche Bibelstellen nennen.“ Dann kam mir die Idee, sie auf ganz andere Gedanken zu bringen. Ich sagte: „Schauen Sie einmal, in Ihrem Garten wachsen noch nicht einmal Stiefmütterchen. Wie wäre es denn, wenn Sie damit beginnen, Ihren Garten schön zu machen? Sie könnten mit ein paar Stauden anfangen, an denen Sie sich freuen können. Das sind ja alles Gottes Geschöpfe.“ Nach einer Woche besuchte ich sie noch einmal, und tatsächlich hatte sich in ihrem Garten etwas getan.
Lothar Radtke
Und so bin ich im Laufe der Jahre immer wieder mit meinem Rad zu Leuten gefahren und habe ihnen Kalenderblätter gebracht. Wenn ich auf Ablehnung stoße, nehme ich sie wieder mit. Ich dränge mich niemandem auf, das darf man nicht, denn da richtet man sehr viel Schaden an. Jedes Wohngebiet besuche ich nur einmal. Ab und zu hilft mir auch meine Frau mit diesem und jenem Straßenzug, da kommt man besser vorwärts, und auch meine Kinder haben manchmal fleißig mitgeholfen. Manche Leute fragen mich: „Was bekommen Sie dafür?“ und können es kaum glauben, dass ich das gar nicht für Geld mache. Für mich sind diese Leute meine Nächsten, so verstehe ich die Bibel. Außerdem bin ich ja auf dem Fahrrad unterwegs, habe frische Luft und lerne viele Menschen kennen. Die Kräfte, die einem daraus erwachsen, die sind gewaltig!