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Halt und Gottvertrauen in einer ausweglosen Zeit
ОглавлениеLiesl Liptak, Jahrgang 1922, Warstein
Meine Familie kommt aus Karlsbad im Egerland. Zum Studium war ich nach Prag gezogen, ich habe Geschichte und Biologie studiert und an einer biologischen Doktorarbeit geschrieben. Am 8. Mai 1945 marschierten die Russen in Prag ein. Ich durfte nicht einmal mehr in mein Labor, alles war zugesperrt, meine Doktorarbeit war weg. Ich wurde außerdem sehr, sehr übel behandelt und musste ein halbes Jahr Zwangsarbeit ableisten. Das war wirklich ganz schlimm. Zu Hause sind meine Schwester und meine Mutter in einer viertel Stunde aus dem Haus getrieben worden! So kurz hatten sie nur Zeit, um das Allernötigste einzupacken. Und mein Vater ist bei der Verhaftung durch die Tschechen zu Tode gekommen. Das war das Ende unserer Zeit als Familie dort. Wir wurden, wie alle Sudetendeutschen, vertrieben.
Als Katholiken kamen wir dann in das überwiegend evangelische Hessen, in die Nähe von Friedberg. Wir hatten null! Absolut nichts! Meine Mutter, meine Schwester und ich. Meine Schwester war fertig ausgebildete Studienrätin und hat uns mit ihrem Beruf das Überleben ermöglicht.
Weil es keine katholische Gemeinde im Ort gab, gingen wir jeden Sonntag in die evangelische Dorfkirche. Die Predigten des Pfarrers vermittelten uns Halt und Gottvertrauen in dieser für uns schier ausweglosen Zeit. Er war wirklich reizend und kam mit meiner Mutter, meiner Schwester und mir ins Gespräch. Er war sehr einfühlsam in unser Schicksal, ohne sich dabei irgendwie aufzudrängen. So fanden wir mehr und mehr Geborgenheit im Glauben. Früher waren wir auch gläubig, aber ohne viel darüber zu sprechen oder nachzudenken.
Das Interesse meiner Mutter jedenfalls wurde immer stärker. Wir zogen dann in einen größeren Ort, weil meine Schwester dort ans Gymnasium versetzt wurde. Als ich zum Studium nach Marburg zog, vermietete meine Mutter mein Zimmer unter – sie brauchte das Geld dringend. Ein Student der Technischen Hochschule Friedberg zog bei ihr ein, der gläubig war. Und da meine Mutter sich gerne über christliche Themen unterhielt, kamen sie sehr nett miteinander ins Gespräch, woraufhin er ihr zu Weihnachten einen Neukirchener Kalender schenkte. So kam der Kalender zu uns, und meine Mutter hat ihn geliebt! Jeden Tag hat sie ein Blatt abgerissen und gelesen, bis zu ihrem Tod 1963.
Liesl Liptak
Das Lesen des Kalenders hat uns schon sehr viel gebracht damals. Und ich muss ehrlich gestehen, ich liebe ihn auch! Als meine Mutter gestorben war, hat meine Schwester ihn mir immer geschenkt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der Kalender ein wenig mit der Veränderung der Welt eingerichtet. Die Texte sind ... ich will nicht sagen flotter, aber sie sind ein bisschen neuzeitlicher!
Ich gehöre zu einer sehr alten Generation. Angst vor dem Sterben habe ich nicht, aber ich weiß, dass das Leben sich jeden Tag ändern kann. Ich lebe aber noch selbstständig in meinem Haus und gehe einmal die Woche zum Seniorensport.
Inzwischen bekomme ich jedes Jahr zu Weihnachten einen Kalender von meiner Tochter, die Buchhändlerin ist. Ich finde die Erklärung des Evangeliums oder der Psalmen auf der ersten Seite sehr schön. Und auch diese etwas privatere Geschichte auf der Rückseite hat mir immer sehr gut gefallen. Mir gefällt es besonders gut, wenn Leute von Begegnungen erzählen, auch mit jüngeren Leuten. Es ist also jeden Tag mein abendlicher Abriss, bevor ich dann schlafen gehe oder noch mein Buch lese.