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Der „Christliche Hausfreund“ als allmorgendliches Startsignal
ОглавлениеFriedrich von Eynern, Jahrgang 1927, Dinslaken
Ich wurde in eine bewusst christliche Familie hineingeboren, deren Eltern aus Großfamilien des 19. Jahrhunderts stammten und eng verbunden waren mit den evangelischen Kirchen in Barmen, der Bekennenden Kirche und dem CVJM in Oberbarmen und Heidt. Mir ist dieser „Christliche Hausfreund“ mein allmorgendliches Startsignal, seit ich lesen kann. Der Neukirchener Abreißkalender hing bei uns immer an der Wand und er war für mich, meine Eltern und Geschwister unsere geistliche Kost. Wenn wir morgens nicht zum Lesen kamen, haben wir das Blättchen nachmittags oder abends gelesen.
Wenn ich gefragt werde, was für mich der schönste Tag im Jahr war, dann sage ich wie aus der Pistole geschossen: Der erste Weihnachtstag, also der Weihnachtsmorgen. Den gestaltete mein Vater am Harmonium sitzend, er konnte wirklich gut spielen, obwohl man ihm die linke Hand im Ersten Weltkrieg weggeschossen hatte. Aber er konnte alle schönen Weihnachtslieder wunderbar begleiten und er hat uns jeden ersten Weihnachtstag in aller Frühe um sechs einen Familien-Weihnachtsgottesdienst gestaltet, der zum schönsten Erlebnis im ganzen Jahr wurde. Ich und meine zwei Geschwister genossen es und ich denke mit dankbarer Erinnerung daran zurück.
Als ich ein junger Mann war, herrschte Krieg. Eines Tages lasen wir in unserer Zeitung, dem „Generalanzeiger“, dass die Herstellung des Neukirchener Kalenders „aus kriegsgewichtigen Gründen“ ab sofort unterbleiben muss. Das hat mich nachdrücklich geärgert. Denn für politische Plakate mit idiotischen Texten war Papier genug vorhanden. Zum Beispiel: „Der Feind lügt; der Führer aber hat immer recht!“ Da mussten wir also während des Krieges ohne ihn auskommen.
Bald darauf wurde ich mit 17 Jahren eingezogen. Leider, es ließ sich nicht vermeiden. Zunächst wurde ich für ein halbes Jahr in den Arbeitsdienst einberufen, dann hatte ich eine Woche Urlaub, in der ich Zivilist war, und dann wurde ich zum Militär eingezogen und war bei der Wehrmacht. Damit ich auch im Krieg geistliche Nahrung zu mir nehmen konnte, hatte mir mein Vater ein nagelneues Neues Testament mit den Psalmen geschenkt, das ich immer bei mir trug. Eine Nacht verbrachten wir in einem Stall, wir schliefen auf Steckrüben, am nächsten Morgen ging es weiter – alles zu Fuß! Die Bahngleise waren von feindlichen Fliegern kaputt geschmissen worden, Fahrzeuge hatten wir nicht, höchstens mal einen Pferdewagen. Und auf einmal merkte ich: In meinem Mantel fehlt ja das Neue Testament! Dann bin ich, ohne mir Erlaubnis zu holen, zurückgelaufen zum Bauernhof, womit ich eine Bestrafung riskiert habe, aber ich habe es nicht gefunden – es war weg.
An der Front geriet ich dann 1945 in amerikanische Gefangenschaft in Frankreich. Dort gab es einen deutschen Pfarrer, eine vorbildliche Figur! Ihn fragte ich, ob er mir Ersatz beschaffen könnte. Er durfte beim CVJM einige deutsche Bücher holen, darunter auch Liederbücher, und brachte mir von dort ein Neues Testament mit.
In Gefangenschaft habe ich mir die Erlaubnis geholt, eine Geige zu leihen. Und ich konnte erwirken, dass wir nach und nach weitere Instrumente ins Lager holten, sodass wir bald ein richtiges Orchester zusammenhatten. Ich habe auch den Anstoß zur Gründung eines Chores gegeben, und ich kann nur sagen, mit dem Chor haben wir uns nicht blamiert! Die Amerikaner haben gestaunt, auf ihrer Weihnachtsfeier mussten wir singen. Ich habe mich dort in der Gefangenschaft mit einem Organisten angefreundet, ein großer Bach-Anhänger, der mir gezeigt hat, wie man Melodien mehrstimmig setzt.
Friedrich von Eynern
1946 kam ich dann aus dem Krieg zurück. Mein Elternhaus war noch im März 45 zerbombt worden. Ein Wahnsinn! Da musste ich mir mein Zuhause erst suchen. Ich bin dann wieder zu meinen Eltern gezogen. Und nach dem Krieg war auch plötzlich der Kalender wieder da. Meine Eltern hatten ein Harmonium, und manches Kalenderblatt hatte ein so schönes Gedicht hinten drauf, dass es mich gereizt hat, das in Töne zu setzen. So habe ich immer mal, von Zeit zu Zeit, wenn ich Lust hatte, etwas aus dem Kalender vertont. Das wurde aber nirgendwo gedruckt. Ich habe zwar eine musikalische Ader, aber ich bin doch ein Laie.
Die Rückwände fand ich meist gut gewählt, interessant und beständig schön. Neujahr war dann der irgendwie spannende Wechsel mit dem neuen Anblick. Als ich noch ein Kind war, da sprach mich die Rückseite des Kalenderblattes eher an als die mehr auf Erwachsene zugeschnittene Vorderseite. Später waren mir viele Kalenderblätter so wertvoll, dass ich sie über viele Jahre aufgehoben habe. Bis heute ist er für mich tägliche Nahrung für Geist, Leib und Seele. Jedes Jahr erfreut uns unsere Tochter, die mehrere Jahre im Erziehungsverein arbeitete, zu Weihnachten mit dem Kalender aus Neukirchen.