Читать книгу Mein täglicher Begleiter - Dorothee Adrian - Страница 16
2. „Die unsichtbare Gemeinde“: Der Neukirchener Kalender als Ort des Glaubens
Оглавление„Mein Vater hat ihn mir bekannt gemacht. Alle sechs Kinder und meine Mutter, abends vor dem Schlafengehen, saßen wir im Kreis, und Vater hat den Tageszettel vorgelesen. Hinterher haben wir darüber gesprochen. Es waren die 50er Jahre. Als alleinstehende berufstätige Frau vermisste ich später das gemeinsame Mittagessen sehr. Mit wem sollte ich reden?! Da sah ich Ende der 70er Jahre wieder die Anzeige für den Neukirchener Abreißkalender. Er ist mein bester Gesprächspartner zum Mittagessen geworden. Wie die Autoren es immer wieder auf den Punkt bringen, ist sehr zum Staunen. Gerade die erste Seite. Habe ich sie zu Ende gelesen, kann ich sagen: ja, so ist es, und der oft beschriebene Alltag auf der Rückseite bewegt.“
Elisabeth Baltzer, Trostberg
Einer, der den Neukirchener Kalender nachhaltig geprägt hat, war Karmel Kohler, Schriftleiter von 1952 bis 1980, seit 1974 auch Mitherausgeber. Seine damaligen Kollegen beschreiben ihn als jemanden, der mit Fantasie, theologischer Leidenschaft und Einfühlungsvermögen den Auftrag ernst nahm, durch den Kalender die Menschen mit der lebendigen und anschaulichen Auslegung eines Bibelwortes zu erreichen und im Wachsen des Glaubens zu begleiten. In der Überzeugung, dass vom Kalender inspirierende und ermutigende Wirkungen in den verlegerischen und den diakonischen Bereich des Erziehungsvereins ausstrahlen können, war in seinem Umfeld die Rede vom Kalender als „Herzkammer des Erziehungsvereins“.
Pfarrer Heinz-Walter Siering war von 1980 bis 2004 Redakteur des Neukirchener Kalenders. „Als ich hier in der Kalenderredaktion hauptamtlich angefangen habe, da bin ich ganz bewusst Gemeindepfarrer geblieben. Ich hatte jetzt keine Gemeinde, die ich sah, sondern die ich nicht sah, die aber sehr groß war.“ Zum Vikariat 1960 habe die Rheinische Kirche ihn nach Neukirchen in den Erziehungsverein „verbannt“, wie er sagt, was sich dann aber doch als gar nicht so schlecht herausstellte: „Denn ich habe dort meinen Vorgänger Karmel Kohler kennen gelernt und habe in meinem Vikariat – neben vielen anderen Dingen im Erziehungsverein – freudigst am Kalender mitgearbeitet!“ Es folgten mehrere Jahre im Pfarramt und als Karmel Kohler in Rente ging, wurde Heinz-Walter Siering als sein Nachfolger vorgeschlagen. „Da habe ich gedacht, wäre ja ganz schön, sich wieder mal intensiv und konzentriert mit der Bibel zu beschäftigen, so für ein paar Jahre, und dann gehe ich wieder zurück. Aber dann bin ich geblieben.“ Reizvoll sei gewesen, sehr viel Feedback zu bekommen. Viele Leser meldeten sich postalisch, Siering antwortete, „und manchmal wurde daraus richtige Briefseelsorge.“ Ab und zu sei der Aufhänger zum Schreiben auch eine Meinungsverschiedenheit bezüglich einer Andacht oder einer Geschichte auf der Rückseite des Kalenders gewesen, „dann hab ich freundlich darauf geantwortet, und dann kam beim zweiten oder dritten Brief eine lange Lebensgeschichte und sehr viele Probleme. Dann habe ich versucht, ein bisschen weiterzuhelfen. Doch wenn es nicht weiterging, habe ich geschrieben: ‚Gehen Sie doch zu Ihrem Pfarrer! Der freut sich, der wartet auf Sie!‘ Und dann habe ich des Öfteren die Antwort bekommen: ‚Aus der Kirche bin ich schon längst ausgetreten. Mit dem Pfarrer habe ich nichts zu tun. Der Neukirchener ist das einzige, was mich mit der Bibel und mit Gott in Verbindung hält.‘“ Er habe immer mehr gemerkt, dass sehr viele Menschen auf den Kalender angewiesen waren, die ihn liebten und schätzten „und die sehr trost- und hilfsbedürftig waren. Das prägte dann auch meine Arbeit, weil ich versuchte, einen Kalender zu machen, der darauf einging.“
Inge Keidel, die von 1975 bis 2008 als Assistentin des Direktors des Erziehungsvereins arbeitete, hat es ähnlich empfunden wie Siering: „Es kamen Anrufe von Menschen, die oft einsam waren und sonst niemanden kannten, mit dem sie reden konnten. Über den Kalender haben sie Vertrauen gefasst.“ Eine Frau aus Berlin habe sich einmal gemeldet, die sehr jung von ihrem Mann verlassen worden war. Sie war wohlhabend und spendete regelmäßig an den Erziehungsverein. „Als ich dann in Berlin Freunde besucht habe, habe ich mich mit ihr getroffen und wir haben uns ein wenig angefreundet.“ Als der Kirchentag 2003 in Berlin war, meldete sich diese Frau und sagte, sie würde gerne Gäste aus Neukirchen aufnehmen, weil sie sich durch den Kalender verbunden fühlte.
Pastor Dr. Rudolf Weth war von 1973 bis 2003 Direktor des Erziehungsvereins und schreibt bis heute – ebenso wie seine Frau Irmgard Weth – Andachten für den Kalender. „Der Kalender wurde und wird von vielen Lesern ja regelrecht als Seelsorger empfunden,“ sagt er, „und das ist dann auch eine Brücke zu dem seelsorgerlichen Bereich der Arbeit im Erziehungsverein, wo Menschen leben, die schwierige Situationen zu bewältigen haben.“ Auf vielen der Rückseiten sei ja gerade das oft ein Thema: dass Menschen in ihrer Notlage begleitet werden. „Im Vordergrund stand immer der tröstende Charakter des Kalenders.“
Pfarrer Hans-Wilhelm Fricke-Hein, seit 2003 Direktor und Theologischer Vorstand des Erziehungsvereins und als solcher auch Herausgeber und einer der vielen Autoren des Kalenders, spricht auch von „einer besonderen Gemeinde,“ wenn es um die Leser geht. Zu den meisten gebe es keinen Kontakt, aber immer, wenn sich jemand per Post oder immer öfter auch per E-Mail meldet, bekomme die Lesergemeinde ein Gesicht mehr. Leserinnen und Leser melden sich meist dann, wenn ihnen etwas besonders gut gefällt, so Fricke-Hein, oder wenn sie etwas außerordentlich geärgert hat. Manchmal schrieben sie auch sehr persönliche Anliegen. Der Neukirchener sei schon ein „Trostkalender“, wie er von manchen bezeichnet werde, was aber nicht heißen müsse, „dass jemand besonders traurig sein muss, um den Kalender zu lesen!“ Eher im Sinne eines Beistands, einer Unterstützung für den Tag. „Ich denke, solange die Menschen das Gefühl haben und erfahren, dass es ihnen gut tut, den Kalender zu lesen“, so Fricke-Hein, „haben wir das Ziel erreicht.“
Im Winter melden sich mehr Leserinnen und Leser als im Sommer, berichtet die Redaktionsassistentin Birgit Schubert. Manche suchen eine bestimmte Rückseite, die sie in Erinnerung haben, aber nicht mehr finden, oder bitten um das Kalenderblatt am Geburtstag der Mutter vor 80 Jahren. Wieder andere vermissen den Kalender, weil sie ihn verloren haben oder wider Erwarten doch nicht geschenkt bekamen, und fragen im Laufe des Jahres an, ob es noch Exemplare gibt. Seelsorgerliche oder theologische Anfragen werden von Ralf Marschner, dem Redakteur des Kalenders, und Hans-Wilhelm Fricke-Hein bearbeitet. „Aber manchmal möchte auch einfach jemand ein Lob äußern“, erzählt Schubert. Manche Telefonate seien richtig ermutigend: „Zum Beispiel wenn eine Leserin anruft, die ganz wach und jung klingt, und dann erzählt, dass sie schon 85 Jahre alt sei und nicht mehr aus dem Haus kann, dass der Kalender ihr aber täglich sehr viel gibt.“ Oder wenn sich jemand melde, um zu erzählen, dass eine Andacht genau in seine Situation hineinpassen würde. „Das ist dann für mich wie ein Wunder, denn der Text ist ja rund zwei Jahre vorher entstanden!“ In solchen Momenten werde eine Dimension über das tägliche Lektorieren hinaus erlebbar: „Das ist dann Gottes Timing“.