Читать книгу Die Therapie entdeckt die Familie - Dr. med. Günther Montag - Страница 9
Die selbstlose Krankenschwester
ОглавлениеDie abstrakte Theorie erläutere ich am besten nun durch ein Beispiel aus einem Therapieverlängerungs- Antrag, da muss eine solche Verhaltensanalyse enthalten sein. Die Klientin ist eine an einem „burnout“ leidende aufopfernde Krankenschwester.
Bemerkung für Klienten: Keine Angst, die Sachbearbeiter der Krankenkasse lesen solch einen Antrag nicht, sondern er wird anonym in verschlossenem Umschlag an einen weit weg wohnenden Therapeuten geschickt, der ihn begutachtet.)
Verhaltensanalyse:
Exzesse: depressives, selbstanklagendes Grübeln. Jammern, Weinanfälle, Gefühle der Apathie und Leere.
Defizite: Autonome, nicht-leistungsbezogene Aktivitäten, Genießen allein. (Genuss ist nur mit Partner oder Verwandten zusammen möglich.) Behaupten eigener Rechte und Bedürfnisse gegenüber anspruchsvollen Patienten, Verwandtschaft
Qualitativ neues Verhalten: Unsicherheit wegen Überlegungen über Berufsaufgabe und mehr bewusst werdender Spannungen mit Partner
S: (Situation) Rolle einer einsamen Heiligen in der Arbeit. Überfordert sein, Schuldvorwürfe und Spannungen mit Partner.
O: (Organisation der Persönlichkeit) Fachlich patente und kompetente, aber selbstunsichere, zu quälenden Schuldgedanken neigende Krankenschwester, Selbstwertgefühl von Anerkennung, Zuwendung abhängig
R: (Reaktion) Überarbeiten, Selbstvorwürfe bei Erschöpfung, nach Ruhepausen wieder zu schnell wie Stehaufmännchen in die Arbeit rennend. Selbstanklagendes Grübeln. Das Wohlwollen anderer Menschen wird übersehen.
K: (Konsequenzen) Kolleginnen ziehen sich teilweise von überhohen Ansprüchen (an sie selbst, die sie aber auch indirekt an die Kollegen ausstrahlt) zurück, nichts ändert sich.
Aufrechterhaltende Bedingung: selbstabwertende Kognitionen „ich bin unzulänglich, ich bin an allem schuld und für alles verantwortlich“. Erwartungshaltung „niemand ist für mich da, wenn ich Hilfe brauche“.
Selbsthilfeversuche: bisher: Kompetenz in der Arbeit, Zeigen einer fröhlichen, selbstsicheren, lustigen „Maske“ dort.
Verhaltensaktiva: Verantwortungsvolles Ausfüllen des Berufes bisher, auch Kompetenz im Beruf (Pat. bekommt echtgemeintes Lob), Freude an Musik, Posaunenchor, kirchliche Mitarbeit.
Obwohl die Begriffe Reiz und Reaktion leicht vermuten lassen, dass in einer Verhaltensanalyse nur das beobachtbare Verhalten analysiert wird, bezieht eine moderne Verhaltensanalyse auch Gefühle, Gedanken und körperliche Prozesse mit ein, wie das Beispiel zeigt, dazu auch Einflüsse des erweiterten Umfelds des Patienten, wie zum Beispiel das Verhalten von Familienangehörigen, Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten.
Die Verhaltensanalyse kann für die Grundhaltungen und Grundmuster (auf einer Makro- Ebene ) und für Einzelsituationen (auf der Mikro-Ebene) stattfinden. Als Beispiel dafür ist ein Blick auf die Station der Krankenschwester denkbar: Sie hat Kaffeepause, ein Patient klingelt, sie springt in Sekundenschnelle auf, ohne Atem zu holen, anstatt zu delegieren.
Das Beispiel zeigt die VT-übliche Deutung des „burnout“ und der daraus folgenden Depression. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einem „Defizit des Lernens“, das heißt, der Klient habe in der Kindheit nicht genügend gelernt, der Verausgabung vorzubeugen, und müsse dies nun nachholen.
Ein ähnliches Deutungsmuster gibt es auch bei Symptomen der Angst – das Augenmerk wird hier auf die nicht genügend gelernte Durchsetzung und Selbstbehauptung gelegt, und entsprechend werden die Übungen der Therapie ausgelegt.