Читать книгу Die Macht der ersten 1000 Tage - Dr. med. Matthias Riedl - Страница 24
»SPEZIFISCH-SENSORISCHE SÄTTIGUNG« – EVOLUTIONÄRES ERBE 8
ОглавлениеWie so oft hat die Evolution auch zum Mere-Exposure-Effekt eine Art Gegenspieler entwickelt. Sein Name in der Forschung: »spezifisch-sensorische Sättigung«. Gemeint ist damit das Phänomen, dass wir gegen jeden Geschmack eine Abneigung entwickeln, wenn wir ihn extrem oft erfahren.
Besonders leicht beobachten können diesen Effekt all jene Menschen, die ein Lieblingsgericht haben, das es nur zu bestimmten Zeiten gibt. Wie zum Beispiel Spargel mit Kartoffeln, Schinken und geklärter Butter. Zu Beginn der Saison, meist ab Mitte April, wollen Spargelfans dieses Essen am liebsten täglich vor sich auf dem Teller haben. Und sind davon überzeugt, dass sich das bis zum Ende der Spargelzeit auch nicht ändern wird. Doch schon nach wenigen Tagen wird die Sehnsucht nach den zarten Stangen weniger, die Pausen zwischen den Spargelmahlzeiten immer länger. Und wenn dann am 24. Juni das Gemüse zum letzten Mal geerntet wird, sind die meisten Spargelfans gar nicht wirklich traurig darüber.
Wie nicht anders zu erwarten, hat auch dieses evolutionärbiologische Programm einen Sinn: Es soll uns davor bewahren, dauerhaft einseitig zu essen. Denn so lecker ein persönlicher Nahrungsmittel-Favorit auch sein mag – keiner kann uns langfristig mit allen Nährstoffen versorgen, die wir brauchen. Spannend: Je gesünder und ausgewogener ein Lieblingsessen, desto länger dauert es, bis wir es nicht mehr sehen können. Ein gutes Beispiel ist griechischer Salat mit Feta und ordentlich Olivenöl: Er liefert gesunde Fette, dazu Eiweiß und jede Menge Vitamine und Ballaststoffe – in einem so guten Mix, dass Griechenlandfans wie ich ihn über erstaunlich lange Zeit täglich auf den Tisch bringen können.
Bei Kindern dauert es meist generell etwas länger, bis sie ein Lebensmittel buchstäblich »satt haben«. Bei ihnen streiten die einzelnen Programme untereinander noch um die Vorherrschaft – mit Vorteilen für jene, die die Sicherheit von Lebensmitteln garantieren, gegenüber jenen, die auf Abwechslung pochen. Was zu den allseits bekannten Diskussionen am Esstisch führt, wenn etwa der zweijährige Leon mal wieder nur Nudeln pur essen möchte, während seine ein Jahr ältere Schwester Mia konsequent nur die Tomatenstücke aus dem bunten Salat fischt und alles andere stehen lässt.
Angst, dass Kinder an Nährstoffmangel leiden könnten, wenn neue Lebensmittel erst langsam akzeptiert werden, braucht niemand zu haben. Unsere intuitive Ernährungsintelligenz schreit laut genug, wenn es eng wird! Das wies die amerikanische Kinderärztin Clara Davis schon in den 20er und 30er Jahren nach – mithilfe von Experimenten, die heute aus ethischen Gründen zum Glück nicht mehr möglich wären. Beispielsweise ließ sie Jungen im Alter zwischen sechs und elf Monaten über ein halbes Jahr hinweg selbst entscheiden, was diese essen wollten.9 Zur Wahl standen 36 Lebensmittel, von Äpfeln über Karotten bis zu Innereien und Fisch. Zwar gab es während der sechs Monate immer wieder Phasen, in denen die Kinder sehr einseitig wählten – insgesamt aber war ihre selbst ausgesuchte Ernährung ausgewogen.
Das ist natürlich kein Plädoyer, Kinder generell selbst entscheiden zu lassen, was sie essen, gerade in unserer Zeit, in der die Supermärkte überquellen vor lauter ungesunden Fertigprodukten – im Gegenteil. Die Kinder der Studie wurden zum Teil häufig krank, was in dieser Zeit jedoch für normal befunden wurde. Die Beobachtung zeigt lediglich eindrücklich, dass jede geschmackliche Vorliebe eine Liebe auf Zeit ist – und irgendwann das evolutionärbiologische Programm zur Sicherung einer ausgewogenen Ernährung bei jedem von uns wieder auf »Go!« steht.