Читать книгу Die Macht der ersten 1000 Tage - Dr. med. Matthias Riedl - Страница 27
WIE EPIGENETISCHE PRÄGUNG FUNKTIONIERT
ОглавлениеLange glaubten Forscher, dass allein unsere Gene das sind, was vererbt wird. Doch seit einigen Jahren wird dank immer neuer Studien immer klarer: Unsere Gene sind nichts Fixes, Gegebenes, Unveränderliches – sie reagieren vielmehr auf Umwelteinflüsse.13
Wie genau das geschieht, wie sich Lebensumstände in unser Genom einbrennen, wissen Forscher inzwischen recht genau. Das Spannende: Während bei der Evolution in Zeitlupe Mutationen die DNA verändern, die jeder Zellkern in sich trägt, bleibt dieser Bauplan bei der epigenetischen Prägung unverändert. Stattdessen gibt es vor allem drei Mechanismen, die die Aktivität der Gene beeinflussen – und damit körperliche Prozesse und Entwicklungen. Ein faszinierendes Beispiel für einen solchen epigenetischen Effekt sind die sogenannten »Agouti«-Mäuse: Durch die Aktivierung des Agouti-Gens bekommen die Mäuse ein gelbes Fell anstelle des typischerweise braunen. Bei Agouti-Mäusen ist das Risiko für krankhaftes Übergewicht, Diabetes und einige Tumorerkrankungen erhöht. Das Faszinierende: Erhalten die Mäuseweibchen, wenn sie trächtig sind, eine besondere Nahrung – unter anderem reich an B-Vitaminen –, bringen sie weniger Nachkommen mit agoutitypischer Fellfärbung zur Welt. Entsprechend ist die Adipositasneigung der Tiere verringert.
Ein Umwelteinfluss, in diesem Fall die Ernährung des Weibchens, hatte im Versuch also die Genaktivität ihres Nachwuchses beeinflusst. Wie genau das funktioniert, erforschen Wissenschaftler weltweit. Der am besten untersuchte epigenetische Mechanismus ist die sogenannte Methylierung. Dabei stehen Methylgruppen im Zentrum: organische Verbindungen, die an sämtlichen Genen anhängen können – und dann wie eine Art Vorhängeschloss wirken. Weist ein Gen viele Methylgruppen auf, ist der Zugang zu ihm schwieriger und mitunter komplett blockiert. In der Folge kann die Zelle die Informationen, die das Gen kodiert, kaum oder eben gar nicht mehr entziffern – wie bei einem Text, in dem Buchstaben oder ganze Sätze geschwärzt sind. Das Gen ist inaktiv.
Diese Methylierung regelt also, welche der etwa 20 000 bis 25 000 menschlichen Gene aktiv sind – und welche nicht. Jeder Mensch trägt dabei sein persönliches, ganz individuelles Methylierungsmuster in sich. Anders als die Genstruktur an sich ist dieses Muster veränderbar. Mal mehr, mal weniger – und bei einigen Genen sogar ein Leben lang.
Indem Umwelteinflüsse und unser Lebensstil also das Methylierungsmuster der Gene verändern, bestimmen sie mit, wie wir uns entwickeln. Rauchen, regelmäßiger Alkoholkonsum, Stress, zu wenig oder zu viel Nahrung, gute oder eher ungesunde Lebensmittel: Für Dutzende Einflussfaktoren haben Forscher im Methylierungsmuster inzwischen charakteristische Veränderungen nachgewiesen. Damit konnten sie zeigen, dass sich die Art, wie wir leben, buchstäblich in unseren Körper einprägt.
In den meisten Untersuchungen dienen den Forschern zwar Mäuse oder andere Säugetiere als Musterorganismen – sie haben entsprechende epigenetische Veränderungen jedoch auch schon beim Menschen gefunden. Da die Methylgruppen – oder eben ihr Fehlen – so zuverlässig anzeigen, unter welchen Bedingungen sich ein Organismus entwickelt (hat), nennen Forscher die entsprechenden Muster »epigenetische Marker«.
Das Besondere: Diese spezifischen Veränderungen an den Genanhängseln erwerben nicht nur wir selbst im Laufe unseres Lebens – sie sind auch vererbbar. In dem Moment also, in dem ein einzelnes Spermium das Rennen zur Eizelle gewinnt und die erste Zellteilung auslöst, geben Vater und Mutter nicht nur ihre DNA weiter – quasi die Hardware. Sondern zugleich auch ein spezifisches Methylierungsmuster – quasi die Software. Sie bestimmt, welche Programme im Körper laufen sollen und welche eher nicht. Mitunter, so legen es neue Studien nahe, tragen unsere Gene sogar Muster, die noch aus der Generation unserer Großeltern stammen.14
Das Umfeld, in dem unsere Eltern und deren Eltern aufgewachsen sind, beeinflusst also direkt die Art und Weise, wie wir uns entwickeln. Hunger oder Überfluss, Rauchen oder Nichtrauchen, Gemüse oder Fast Food: Die Lebensweise unserer nahen Verwandten hinterlässt über das Methylierungsmuster buchstäblich Spuren an unseren Genen. Diese sogenannte epigenetische Prägung, die wir von den eigenen Eltern erfahren, lässt sich zwar nicht komplett rückgängig machen – aber wir können sie zumindest teilweise beeinflussen. So, wie wir am Computer mitunter Programme löschen oder neue hinzufügen, bestimmt unsere Lebensweise im Laufe der Jahre mit, welche Methylgruppen dazukommen oder verschwinden, welche Gene an- und welche abgeschaltet werden.
Wie verblüffend die Effekte der Epigenetik sind, zeigen immer neue Studien. Ein aktuelles Beispiel lieferte ein Team um Forscher vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns, das Mäusen weniger zu essen gab als normal.15 Die Wissenschaftler konnten zeigen: Infolge des Nahrungsentzugs wurden jene Gene epigenetisch abgeschaltet, die dafür sorgen, dass Fett verstoffwechselt wird. Das bedeutet: Die Mäuse bauten Fett eher ab, statt es – wie es mit zunehmendem Alter immer stärker passiert – einzulagern, vor allem in der Leber. Das schützte die Mäuse vor gesundheitlichen Problemen, die infolge des zunehmenden Fettanteils typischerweise im Alter drohen – wie etwa einer Insulinresistenz als Diabetessymptom. Das beeindruckende wie knappe Fazit: Mäuse, die 40 Prozent weniger Nahrung aufnahmen als normalerweise, hatten eine um 30 Prozent erhöhte Lebenserwartung – auch dank einer epigenetischen Umprogrammierung.
Dass solche Prozesse auch bei uns Menschen ablaufen und funktionieren, davon sind Wissenschaftler inzwischen überzeugt. Das Wissen um epigenetische Prägung hilft beispielsweise, gesellschaftlich kritische Phänomene besser zu verstehen – wie etwa die Beobachtung, dass Menschen, die in relativer Armut leben, häufiger krank sind. Wie sich der sozioökonomische Status in unserem Epigenom ausdrückt, hat beispielsweise ein Team um Dr. Thomas McDade, Anthropologe an der Northwestern University in Illinois, untersucht.16 Die Forscher nahmen Gesamtgenom-Analysen von 489 Probanden unter die Lupe, die sich in Einkommen, Bildung und Lebenssituation deutlich voneinander unterschieden – in der Hoffnung, auf diese Weise Mechanismen zu entdecken, die der Verknüpfung von sozioökonomischem Status und Gesundheit zugrunde liegen. Das Ergebnis: Bei den Probanden, die in Armut lebten, wurde eine erhöhte Methylierung an etwa 2500 Genen nachgewiesen – also an einem Zehntel des Gesamtgenoms. Dabei standen die Gene in Beziehung zur Ausbildung des Skeletts, der Immunantwort und neurologischen Entwicklung. In diesen Bereichen waren Gene aufgrund der höheren Methylierung weniger aktiv.
Studien wie diese, so die Hoffnung der Forscher, könnten in Zukunft nicht nur dazu dienen, gezielter Medikamente für bestimmte Krankheiten zu entwickeln. Sondern auch Argumente für die öffentliche Diskussion liefern, damit Bedürftige mehr Unterstützung erhalten, dank derer sie die Armut überwinden können.
Darüber hinaus kann das Wissen um das Prinzip der epigenetischen Evolution jedem Einzelnen von uns helfen. Indem wir darüber Bescheid wissen, dass sich unser Lebensstil in epigenetischen Veränderungen zeigt und damit langfristig beispielsweise Stoffwechselprozesse verändern sowie das Risiko für Krankheiten erhöhen kann, haben wir eine Möglichkeit, dieses Risiko zu steuern.
Eine besondere Chance haben Eltern. Wissenschaftler finden immer mehr Belege dafür, wie erstaunlich groß der Einfluss ist, den Eltern in epigenetischer Hinsicht auf ihre Kinder haben. Denn, so eine Erkenntnis der Wissenschaft: Nie wieder verändert sich unser Methylierungsmuster so stark wie in den ersten 1000 Tagen unseres Lebens. Aktuelle Studien zeigen, wie sehr Vater und Mutter mit ihrem eigenen Lebensstil ihre Kinder beispielsweise daraufhin epigenetisch prägen, wie effektiv die Fettverbrennung ist – und mit welchem Risiko für Übergewicht und bestimmte Krankheiten, allen voran Diabetes, ihr Nachwuchs zur Welt kommt.17
Mit diesem konkreten prägenden Einfluss der Eltern – und des näheren Umfeldes – wird sich das nächste Kapitel befassen. Denn Mutter und Vater sind die Hauptinstanzen, wenn es um die Frage geht, wie gesund Kinder durch die Welt und ihr Leben gehen. Wie kommt es, dass das eine Kind Käse zum Frühstück liebt – und das andere Schoko-Nuss-Creme? Warum hat das eine von Geburt an ein höheres Risiko, Übergewicht zu entwickeln, als seine Freunde? Die nächsten Seiten werden es verraten.