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DAS PROBLEM – DIE EVOLUTION HAT EIN PROGRAMM VERGESSEN

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Der Blick auf unser evolutionäres Erbe zeigt: Die Gene bestimmen mit, was wir gern essen, wie viel wovon uns guttut – und wie wir Nahrung verstoffwechseln. Die Evolution ist also die älteste und nachhaltigste Form der Prägung, die wir Menschen erfahren haben und die unseren Alltag bis heute wirkmächtig bestimmt. Dank unserer Gene ist der menschliche Körper beispielsweise derart gut an mögliche Mangelzeiten angepasst, dass wir diese nicht nur überstehen – zeitweises Nichtessen hält uns sogar gesund, wie immer mehr Studien belegen. Über Jahrtausende hinweg hat uns dieses faszinierende Zusammenspiel verschiedener vererbter Mechanismen also das Überleben gesichert – und dafür gesorgt, dass wir den gesamten Erdball besiedeln konnten.

Nur mit einer Sache hat die Evolution nicht gerechnet: dem Überfluss. Es ist ein unwahrscheinliches Faszinosum der Geschichte, dass seit einigen Jahrzehnten für Milliarden Menschen beinahe unbegrenzt Kalorien zur Verfügung stehen. Viel Essen ist also kein Luxus mehr, sondern Normalität. Auf diesen historischen Zufall sind wir nicht vorbereitet: Wir haben kein Gen, das unsere Körper in die Lage versetzt, dem allgegenwärtigen Überangebot an Nahrung ähnlich souverän zu begegnen wie über Jahrtausende hinweg dem Mangel infolge von Dürren und anderen Naturkatastrophen.

Vorratsschrank, Mega-Supermarkt, Eisdielen mit Sonderpreisen für die 20-Kugeln-XXL-Waffel: Für solche moderne Dekadenz sind wir genetisch schlicht nicht gemacht. Und werden es so schnell nicht sein – einfach weil die Evolution dafür zu langsam ist. Selbst wenn irgendein Mensch auf der Welt eine oder idealerweise gleich mehrere Mutationen in sich tragen sollte, die den Stoffwechsel auf diesen allgegenwärtigen Überfluss einstellen und es dem Körper damit erlauben würde, besser mit dem Zuviel an allem klarzukommen: Es bräuchte Hunderte Generationen, ehe sich diese merklich ausbreiteten. Nicht miteingerechnet der Faktor Zufall, der auch noch nötig wäre, um zu gewährleisten, dass sich ausgerechnet dieser Mensch mit den Mutationen und dessen Nachkommen erfolgreich fortpflanzen. Die Idee einer genetischen Anpassung an den Überfluss ist also nicht mehr als ein fantastisches, theoretisches Gedankenspiel.

Was dagegen bereits Realität ist, sind die negativen Folgen, die unser evolutionäres Erbe, und zwar jeder Teil für sich, in diesem geschichtlich so ungewöhnlichen Umfeld für uns heute hat. Ein besonders eindrückliches Beispiel liefern jene grundsätzlich so sinnvollen Mutationen, die eine gesteigerte Fetteinlagerung bedingen – und früher dem Überleben dienten. Heute dagegen sorgen sie bei Millionen von Menschen, die diese Mutationen in ihrem Erbgut tragen, für »schuldloses Übergewicht«, wie Biochemiker Vann Bennett es ausdrückt.10 In unseren modernen Zeiten, in denen mehr als nur ausreichend Nahrung rund um die Uhr bereitsteht, wird dieser ursprüngliche Vorteil zur Falle: Jene, die aufgrund ihrer genetischen Ausstattung buchstäblich »gute Futterverwerter« sind, werden schnell dick. Haben also zu Recht den Eindruck, »schon dann zuzunehmen, wenn sie ein Stück Torte nur ansehen«.

Zu diesen Menschen gehört etwa der US-amerikanische Psychologe und Genetiker Robert Plomin. In einem Interview mit der Zeitschrift »GEO« sagte er, dass er seine Gene hat untersuchen lassen. Diese besitzen die Mutationen. Plomin erklärt nun, wie wir alle der Tatsache begegnen sollten, dass unser genetisches Basisset nicht mehr zu unserer Umwelt passt: »… ich habe nicht aufgegeben, weil ich ein genetischer Fettwanst bin. Im Gegenteil: Seit ich weiß, dass ich zum Dicksein neige, fühle ich mich motiviert, noch mehr auf meine Ernährung zu achten.«11

Ähnlich verhält es sich mit dem Segen, den es einst bedeutete, als die Menschen Fleisch als protein- und energiereiches Lebensmittel auf ihren Speiseplan nahmen. Den ersten menschlichen Jägern der Geschichte lieferte der Leckerbissen die nötigen Bausteine für eine einzigartige Hirnentwicklung. Heute, da nicht nur das schiere Fleisch, sondern auch seine industriell verarbeiteten Folgeprodukte wie Salami, Schinken und Co. im Überfluss vorhanden sind und von uns auch im Übermaß verzehrt werden, macht uns der einstige Überlebensgarant krank: Die Arachidonsäure darin befeuert stille Entzündungen und kann so Krankheiten wie Rheuma, Diabetes und Bluthochdruck mitauslösen oder verschlimmern. Rotes Fleisch, regelmäßig in großen Mengen genossen, erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, an Darmkrebs zu erkranken.

Und schließlich, besonders fatal: das evolutionäre Erbe der Süßvorliebe und der Fett-Zucker-Gier. Die Industrie hat im Laufe weniger Jahrzehnte Tausende Produkte entwickelt, die diese angeborenen Programme triggern – und unsere genetischen Vorlieben aufs Perfideste bedienen. Wer nur den geringsten Heißhunger verspürt, kann ihn auf der Stelle stillen. Wer einmal Chips nascht, wird nicht nur nicht satt – er hat den ungesunden Nachschub bereits in Griffweite. Fasten, das gesunde Gegenprogramm, wird heute jedoch nur noch von den allerwenigsten regelmäßig praktiziert. Eine Auswirkung: Millionen Menschen sind übergewichtig – und leiden bereits an ernährungsbedingten Folgekrankheiten wie Diabetes und Schlaganfall. Besonders hart trifft es jene, die lange als Hungerkünstler bekannt waren, wie etwa die Angehörigen des Volkes der Pima-Indianer, die in Arizona in einer extrem trockenen und kargen Umwelt überleben mussten. Heute, da die Ernährung permanent mehr als gesichert ist, leiden die meisten Pima unter extremem Übergewicht mit all seinen üblen gesundheitlichen Konsequenzen.

Bis vor wenigen Jahrzehnten haben evolutionsbiologische Programme unser Leben verlängert. Heute, im Überfluss, verkürzen sie es. Wir sitzen in der Prägungsfalle.

Das Gute: Die Evolution in Zeitlupe, über Jahrmillionen hinweg, ist nicht der einzige Faktor, der unsere Gene prägt. Denn es gibt noch ein zweites Einflussprinzip, das mitbestimmt, welche Gene unser Ernährungsverhalten wie beeinflussen. Und diese zweite Evolution geschieht sehr viel schneller, quasi im Zeitraffer. Sie lässt sich sogar von jedem von uns, zumindest teilweise, beeinflussen – und, wenn die ersten Ergebnisse ungünstig waren, sogar rückgängig machen. Epigenetik heißt diese Art Evolution. Mit ihr beschäftigen sich die nächsten Seiten.

Die Macht der ersten 1000 Tage

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