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Am nächsten Morgen trafen wir uns zunächst in Mr McKees Büro zur Besprechung. Max Carter war wieder dabei, auch wenn er sich wesentlich weniger lebhaft als sonst beteiligte, was wohl mit seinem Zahnarztbesuch zusammenhing. Später erfuhr ich, dass er am Vortag einen Weisheitszahn entfernt bekommen hatte.

Unser Chefballistiker Dave Oaktree erläuterte uns die Ergebnisse vom Tatort im Chez Jules. Die verwendeten Projektile stammten aus derselben Waffe, die auch Sonny D’Andrea getötet hatte.

„Anhand der Auftreffwinkel der einzelnen Schüsse konnten wir das Gebäude ermitteln, von wo aus geschossen worden ist. Der Täter hat sich auf das Dach gelegt und ganz ruhig abgewartet, bis es zu dem Treffen zwischen Jimmy Kim und Ben Camerone kam.“

„Das bedeutet, der Killer ist darüber informiert worden“, stellte Mr McKee fest.

Dave Oaktree zuckte mit den Schultern. „Das ist Ihre Schlussfolgerung, ich kann Ihnen nur die Spurenlage erläutern. Aber es sieht tatsächlich danach aus. Die Wachen wurden wohl deshalb erschossen, weil der Täter sonst damit rechnen musste, sofort verfolgt zu werden.“

„Und die Hunde?“, fragte ich.

„Gute Frage, Jesse“, stellte Mr McKee fest. „So wie ich das sehe gibt es zwei Möglichkeiten. Nummer eins: Ben Camerone steckte mit dem Täter unter einer Decke. Er hat sich mit Jimmy Kim getroffen, wusste aber, dass ein Risiko dabei ist und hat einen Hit-man auf dem Dach eines Nachbarhauses postiert.“

„Der musste natürlich die Hund ausschalten, damit seinem Boss nichts passiert“, nickte Milo.

„Möglichkeit zwei ist, dass jemand Jimmy Kim besonders hasste“, fuhr Mr McKee fort. „Die erschossenen Dobermänner sollten zusätzlich noch einmal die Überlegenheit des Killers demonstrieren und das Opfer erniedrigen. Schließlich war allgemein bekannt, wie sehr er an den Tieren hing.“

„Wir haben im Labor eine Rekonstruktion des Tathergangs vorgenommen“, sagte Dave Oaktree. „Mit Hilfe einer Computersimulation, den exakt ausgemessenen Schussbahnen der Projektile und den Positionen der betroffenen Personen lässt sich relativ eindeutig klären was vorgefallen ist. Danach sind die Hunde getötet worden, während sie sprangen. Die Brüstung hätte sie ansonsten nämlich für den Schützen verborgen. Die Hunde haben Ben Camerone genau in dem Moment angesprungen, als auf ihn geschossen wurde – und ihm damit das Leben gerettet. Camerone wurde vollkommen blutverschmiert aufgefunden. Er muss eine ganze Weile unter den Hunden gelegen gehaben und stand wohl auch unter Schock.“

„Das bedeutet, Möglichkeit 2 scheidet definitiv aus?“, vergewisserte sich Mr McKee.

Dave Oaktree nickte. „Natürlich besteht die theoretische Möglichkeit, dass der Schütze Camerone vor dem Angriff der Hunde bewahren wollte – aber das wäre extrem risikoreich gewesen. Nicht einmal der Scharfschütze eines SWAT-Teams hätte in dieser Situation eingegriffen.“

„Wo ist Camerone jetzt?“, fragte ich.

„Wir haben ihm Schutzhaft angeboten, da wir davon ausgingen, dass der Anschlag auch im galt“, erklärte Clive Dillagio. Der flachsblonde Italoamerikaner nippte an seinem Kaffeebecher und fuhr fort: „Aber Camerone wollte davon nichts wissen.“

„Und weshalb wollte er sich mit Jimmy Kim treffen?“, hakte Mr McKee nach.

„Angeblich war es umgekehrt, Jimmy Kim wollte sich mit ihm treffen. Es sei um das gegangen, was Mark Manetta zugestoßen ist. Mehr wüsste er nicht, denn zu dem Gespräch ist es dann nicht mehr gekommen.“

„Ich habe das nachgeprüft - Mark Manetta und Ben Camerone saßen mal zwei Jahre zusammen in einer Zelle auf Rikers Island“, warf Max Carter ein.

„Ich möchte, dass Camerone beschattet wird“, sagte Mr McKee. „Ich wette, dass er genau wusste, um was es hier geht!“

„Ich nehme an, Camerone hat sich auch aus dem Geschäft zurückgezogen, nachdem Big Tony seinerzeit verschwand“, vermutete ich

„Vollkommen richtig, Jesse. Nach Big Tonys Verschwinden und der Übernahme der Geschäfte durch Jack Gabrielli fand eine völlige Neustrukturierung des Syndikats statt. Da war wohl für ein paar Leute kein Platz mehr.“

„Und es macht natürlich weniger Aufsehen, diese Leute auszuzahlen, anstatt sie umzulegen“, stellte Milo fest. „Vorausgesetzt, man hat das nötige Kleingeld.“

„Das war vorhanden!“, gab ich zu bedenken. „Ich denke, das Riesenvermögen, von dem wir glaubten, dass Big Tony Damiani es ins Ausland geschafft hatte, reichte aus, um jeden zufrieden zu stellen und trotzdem noch genug übrig zu behalten.“

„Von wem sprichst du jetzt, Jesse?“, fragte Clive.

„Von Big Tonys Ehefrau Ava und seinem Neffen Jack Gabrielli“, sagte ich. „Dass Tom Buscellas Geständnis in Bezug auf den Mord an Lee Kim gekauft war, liegt für mich auf der Hand, auch wenn ich es nicht beweisen kann. Nehmen wir mal an, Gabrielli plante eine Palastrevolte im Syndikat...“

„Dann hatte er schlechte Chancen, weil Big Tony so fest im Sattel saß wie kaum jemand!“, warf Max ein.

„Also musste Gabrielli zwei Dinge tun: Dafür sorgen, dass die Justiz Big Tony aus dem Land treibt und die alten Gefolgsleute des großen Alten ruhig stellen.“

„Und das funktioniert mit Geld“, schloss Mr McKee.

„Jedenfalls hätten keiner von denen bei einem Mord an ihrem Patron mitgemacht“, fuhr ich fort.

„Fragt sich nur, weshalb Big Tony dann im Lake Tappan und nicht in Marokko gefunden wurde“, warf Orry ein.

„Da gibt es zwei Möglichkeiten“, sagte Mr McKee. „Entweder, es ist etwas schief gegangen und Big Tony hatte tatsächlich vor, sich der Justiz zu stellen. Vielleicht hatte er Jack Gabriellis Spiel durchschaut und wollte Buscella ein noch besseres Angebot machen, wenn er seine Aussage zurückzieht...“

„...oder Ava Damiani spielt hier die entscheidende Rolle!“, sagte ich.

Mr McKee nickte.

„Genau diesen Gedanken hatte ich auch.“

„Ava war erheblich jünger als Big Tony“, warf Max Carter ein. „Möglich, dass Mrs Damiani das Vermögen ihres Mannes allein genießen wollte.“

„Um das zu überprüfen, müssten wir sie erstmal finden.“

„Oder den Mann, der wahrscheinlich noch in Avas Nähe war, als Ray Kim ihre Spur in Marokko verlor! Ich spreche von Gary Simone!“, gab ich zurück.

Mr McKee machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich verstehe, was Sie meinen, Jesse, aber bislang ist das nur eine Theorie. Vermutungen, mehr nicht.“

„Ich weiß“, seufzte ich. „Mark Manetta wird sich alles zusammengereimt haben – zumindest nachdem Tony Damianis sterbliche Überreste aus dem Lake Tappan geborgen worden waren. Er hat schließlich die falschen Papiere für die Damianis besorgt. Und ähnliches gilt für die anderen Mordopfer – Jimmy Kim, Sonny D’Andrea und um ein Haar auch Ben Camerone.“

„Camerone und D’Andrea waren treue Gefolgsleute von Big Tony“, stellte Max fest. „Wir haben den Fall zwar erst nach dem Mord an D’Andrea auf den Schreibtisch bekommen, aber das lag nur daran, dass der Fall vorher im Zuständigkeitsbereich der örtlichen Polizei war.“

Mr McKee wandte sich an Clive. „Versuchen Sie, Camerone dazu zu bewegen auszusagen. Machen Sie ihm klar, dass er sonst wie D’Andrea endet! Der Killer wird nicht einfach so aufgeben.“

Clive beugte sich etwas vor. „Eine juristische Möglichkeit, ihn festzuhalten, sehen Sie aber nicht zufällig, oder? Das würde die Sache nämlich erheblich leichter machen.“

„Nein, aber ich werde noch über Rund-um-die-Uhr-Überwachung beantragen.“

Der 12 Romane Krimi Koffer Juni 2021

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