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Gerade einmal zwanzig Minuten später stand sie vor dem Haus, dessen Anschrift auf dem Papier stand.

Sobald sie sich spontan dazu entschlossen hatte, hierherzukommen und nachzusehen, hatte sie als Erstes ihre Cousine angerufen, um den Kinobesuch um ein paar Tage zu verschieben. Obwohl es extrem kurzfristig erfolgte, zeigte Tanja dennoch Verständnis. Anja brachte auch keine Ausrede vor, da sie ihre Cousine nicht belügen wollte, sondern legte ihr die wahren Umstände dar und erklärte, warum sie der Sache auf den Grund gehen musste. Tanja kannte ihre Cousine gut genug und wusste daher, dass sie diese nicht davon abbringen konnte, auch wenn es unter Umständen nicht ungefährlich war. Daher bat sie Anja lediglich, auf sich aufzupassen.

Nach dem Telefonat föhnte sich Anja die Haare, auch wenn diese ohnehin fast trocken waren und sich kaum noch in Form bringen ließen. Deshalb waren sie jetzt sogar noch zerzauster als sonst. Aber damit musste sie sich eben abfinden. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingsachen und zog zum Schutz vor dem Regen, die Kapuze des Pullis über den Kopf. Sie verließ das Haus und rannte los, so als hätte sie vor, noch ein paar spätabendliche Runden zu joggen. Allerdings lief sie nicht wie gewohnt in Richtung Westpark, sondern in die andere Richtung.

Bereits wenige Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.

Obwohl es inzwischen kaum noch regnete, nur vereinzelt fielen ein paar Tropfen, behielt Anja die Kapuze auf dem Kopf. Schließlich wusste sie nicht, was sie hier erwartete. Und falls jemand sie sah, würde die Kapuze es der Person erschweren, sie zu erkennen oder zu identifizieren.

Sie sah sich aufmerksam in alle Richtungen um, doch außer ihr war niemand unterwegs. Wie in der Straße, in der sie wohnte, gab es hier nur auf einer Seite bebaute Grundstücke, davor einen Bürgersteig und einen schmalen Grünstreifen, auf dem dünne Bäume und Laternenmasten standen. Mehrere Autos parkten auf dieser Seite am Straßenrand. Sowohl die Straße als auch der Bürgersteig waren menschenleer. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich zugewachsene Schienen, die nicht mehr genutzt wurden. Dahinter kamen zunächst ein Grünstreifen, dann ein Fußweg mit Sitzbänken und schließlich ein Holzlattenzaun, hinter dem der Friedhof lag.

Anja fröstelte unwillkürlich, als sie an ihr Erlebnis mit dem Apokalypse-Killer auf dem nächtlichen Waldfriedhof dachte. Rasch verdrängte sie die Erinnerungen, die wie Gewitterwolken in ihrem Bewusstsein heraufgezogen waren, und konzentrierte sich wieder vollständig auf das Hier und Jetzt. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche, konnte jedoch außer dem stetigen Tröpfeln von den Bäumen und dem Säuseln des leichten Windes nichts hören, das sie beunruhigte. Außerdem hatte sie auch nicht wieder das Gefühl, als ob jemand sie heimlich beobachten würde.

Sie beschloss, nicht darauf zu warten, bis sich das änderte und jemand kam, sondern endlich zu handeln. Deshalb öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentürchen, das ein leises Quietschen hören ließ, und betrat das Grundstück. Dabei verhielt sie sich völlig natürlich und ungezwungen, als gäbe es trotz der fortgeschrittenen Stunde einen triftigen Grund für ihr Hiersein. Denn falls jemand zufällig aus einem Fenster der Nachbarhäuser sah, wollte sie aufgrund ihrer dunklen Kleidung keinen falschen Eindruck erwecken und nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Als sie nur noch wenige Meter von der Haustür entfernt war, ging eine Lampe über der Tür an. In ihrem hellen Schein konnte Anja mühelos den Namen auf dem metallenen Türschild neben der Klingel lesen: C. Arendt.

Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, als sie realisierte, dass sie hier richtig war. Zumindest der Name stimmte mit demjenigen aus dem geheimnisvollen Umschlag überein. Die Möglichkeit, dass jemand sie nur verarschen wollte, indem er willkürlich eine Adresse in der Nähe genommen und sich dazu einen Fantasienamen ausgedacht hatte, schied damit schon einmal aus.

Es gab also jemanden namens C. Arendt. Und diese Person wohnte auch in diesem Haus.

Doch wie verhielt es sich darüber hinaus mit dem Wahrheitsgehalt des Wortes VERMISST! über dem abgedruckten Foto?

Da sie es nur erfahren würde, wenn sie klingelte, drückte Anja kurzentschlossen auf den Klingelknopf. Von drinnen war die Türglocke zu hören, die eine kurze melodische Tonfolge spielte.

Sie wartete ungeduldig, knabberte dabei nervös an ihrer Unterlippe und sah sich um. Der Vorgarten machte einen gepflegten und ordentlichen Eindruck. Er ließ erkennen, dass hier jemand wohnte, der sich gewissenhaft und intensiv darum kümmerte und in der Auswahl und Anordnung der Pflanzen und Blumen auch noch einen guten Geschmack bewiesen hatte. Beinahe war Anja ein bisschen neidisch. Sie hatte heute ein paar anstrengende Stunden Gartenarbeit hinter sich gebracht, doch deshalb sah ihr Grundstück noch lange nicht aus wie dieses hier. Und vermutlich würde es das auch nie tun, denn dazu fehlte ihr sowohl die Freude an der Gartenarbeit als auch das richtige Händchen dafür.

Leise seufzend wandte sie sich wieder der Haustür zu. Nach dem Verstummen der Türglocke war es innerhalb des Hauses wieder absolut still geworden. Nichts rührte sich und deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war und auf ihr Klingeln reagiert hatte.

Totenstille?

Anja ignorierte den irritierenden Gedanken. Obwohl sie insgeheim nicht mehr damit rechnete, dass ihr jemand öffnete, klingelte sie ein zweites Mal und übte sich weitere sechzig Sekunden, die ihr viel länger vorkamen, während sie sie in Gedanken abzählte, in Geduld.

Niemand zu Hause!, konstatierte sie schließlich das Offensichtliche, um sofort einschränkend hinzuzufügen: Zumindest niemand, der in der Lage wäre, zur Tür zu kommen, um sie zu öffnen.

Im Grunde hatte der Umstand, dass niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, aber noch nichts zu bedeuten. Möglicherweise war C. Arendt momentan im Urlaub. Oder sie hatte dieselbe Idee wie Anja und ihre Cousine gehabt und war an diesem Abend ins Kino gegangen.

Dennoch musste Anja natürlich ständig an das Wort denken, das in Großbuchstaben über dem Foto der Frau mit der schwarzen Katze stand: VERMISST!

Und je mehr Anja der Sache auf den Grund ging, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit dem Namen Carina Arendt tatsächlich verschwunden war.

Zum wiederholten Mal an diesem Abend hatte Anja das unangenehme Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie sah sich aufmerksam um, konnte aber noch immer niemanden entdecken. Dennoch blieb das Gefühl hartnäckig bestehen und ließ sich auch nicht abschütteln.

Anja ignorierte es daher, so gut es ihr möglich war, auch wenn das nicht leicht war und sie in ihrer Konzentration gestört wurde. Um keine Spuren zu hinterlassen, drückte sie mit dem Ellbogen probehalber gegen die Haustür, doch diese war fest verschlossen.

Was nun?

Es widerstrebte ihr, unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen. Deshalb beschloss sie, das Haus einmal zu umrunden und dabei durch jedes Fenster zu spähen. Vielleicht entdeckte sie dabei etwas, das es rechtfertigte, in das Haus einzudringen, weil Gefahr in Verzug war.

An jedem Fenster, zu dem sie kam, blieb sie kurz stehen. Mithilfe der Taschenlampenfunktion ihres Handys sah sie ins Innere des Hauses, konnte jedoch nichts entdecken, das ihr verdächtig vorkam. Auch wenn das Haus scheinbar verlassen war, schien darin alles so zu sein, wie es sein sollte. So gab es beispielsweise nicht die geringste Unordnung, geschweige denn umgeworfene Möbelstücke, was auf eine Auseinandersetzung hätte schließen lassen.

Sobald Anja um die zweite Ecke bog und die Rückseite des Hauses erreichte, sah sie jedoch einen hellen Lichtschein, der durch die Terrassentür und das Fenster daneben nach draußen fiel. Es sah genauso aus wie auf dem ausgedruckten Foto, das sie bekommen hatte. Die einzigen Unterschiede bestanden darin, dass in dem Bild, das sie jetzt vor Augen hatte, sowohl die Frau als auch die Katze fehlte.

Der Anblick sorgte dafür, dass Anja von einer düsteren Vorahnung erfüllt wurde. Ihr Herz klopfte daraufhin unwillkürlich noch heftiger.

Unmittelbar vor der Terrassentür blieb sie stehen. Durch die Scheibe sah sie ins erleuchtete Innere und versuchte dabei, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es war allerdings keine Menschenseele zu sehen; und auch von der Katze fehlte jede Spur.

Anja holte die Einweghandschuhe, die sie vorher benutzt hatte, um das DIN-A4-Blatt aus dem Umschlag zu holen, aus der Tasche des Kapuzenpullis und streifte sie über. Anschließend hob sie die rechte Hand und drückte mit den Fingern gegen den hölzernen Rand der Glastür. Sie rechnete mit Widerstand, weil sie glaubte, diese Tür wäre ebenfalls verschlossen. Doch die Terrassentür gab sofort nach und schwang geräuschlos nach innen.

Erschrocken zuckte Anjas Hand zurück.

Ihre düstere Vorahnung, die bislang allenfalls ein vages Gefühl drohenden Unheils gewesen war, verfestigte sich zu einer handfesten Befürchtung. Ein verlassenes Haus für sich allein genommen war noch nichts, wegen dem man sich übermäßige Sorgen machen musste. Ihr fielen auf die Schnelle ein Dutzend harmlose Erklärungen dafür ein. Aber ein verlassenes Haus, in dem Licht brannte und darüber hinaus die Terrassentür offen war, war etwas anderes.

Anja wandte sich ab und sah sich aufmerksam um. Der Lichtschein aus dem Wohnzimmer reichte nur wenige Meter weit. Dahinter herrschte nahezu undurchdringliche Finsternis. Darüber hinaus boten mehrere Büsche am hinteren Ende des Grundstücks, unmittelbar vor dem Grenzzaun zum Nachbarn, zusätzliche Deckung.

Irgendwo dort hinten musste sich jemand zwischen den Büschen verborgen gehalten haben, um die Bewohnerin des Hauses heimlich zu beobachten und das Foto von ihr und ihrer Katze zu machen.

Seit Anja die Rückseite des Grundstücks erreicht hatte, fühlte sie sich nicht länger beobachtet. Aus diesem Grund war sie auch davon überzeugt, dass momentan niemand hinter den Büschen oder in der Finsternis jenseits des erleuchteten Bereichs lauerte.

Beruhigt wandte sie sich wieder der Terrassentür zu, die einen Spaltbreit offenstand.

Anja überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte nach einem Vorwand gesucht, das Haus betreten zu können. Nur deshalb war sie nicht unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt, nachdem niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, sondern stattdessen um das Haus herumgegangen und hatte dabei durch jedes Fenster geblickt. Doch jetzt, wo sie einen triftigen Grund und die Möglichkeit dazu hatte, hineinzugelangen, ohne eine Tür aufbrechen oder ein Fenster einschlagen zu müssen, schreckte sie dennoch davor zurück.

Was wenn die Frau tot war und sie im Haus ihre Leiche fand? Sie erschauderte bereits bei dem Gedanken daran, denn sobald sie sich einem Leichnam auch nur näherte, bekam Anja Herzrasen, Atemnot, Schwindelgefühle und heftige Schweißausbrüche. Sie machte daher nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche. Außer natürlich, es ließ sich partout nicht vermeiden, weil ihr Job es von ihr verlangte oder sie, wie es in der Vergangenheit leider viel zu oft der Fall gewesen war, zufällig darüber stolperte.

Sie dachte daher für einen Augenblick ernsthaft darüber nach, eine Funkstreife zu Hilfe zu rufen, damit die uniformierten Kollegen an ihrer Stelle das Haus durchsuchten. Schließlich war sie für diesen Fall – sofern es überhaupt ein Fall war – gar nicht zuständig, momentan nicht einmal im Dienst und hatte außerdem Urlaub.

Allerdings wollte sie hinterher auch nicht wie eine Idiotin dastehen, wenn es für all das hier eine harmlose Erklärung gab. Denn natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass die Bewohnerin das Haus verlassen und einfach nur vergessen hatte, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten und die Terrassentür zu verschließen. Vielleicht nahm sie auch gerade ein Bad und hatte deshalb nicht an die Tür kommen können. Oder sie schlief tief und fest, sodass sie nichts gehört hatte.

Deshalb widerstrebte es Anja, die Sache an die große Glocke zu hängen. Vielleicht war das alles letzten Endes doch nur ein makabrer Scherz. Aus diesem Grund wollte sie zunächst selbst nach dem Rechten sehen. Sollte sich ihre düstere Vorahnung erfüllen und es sich hier tatsächlich um einen Vermisstenfall oder unter Umständen sogar um einen Mordfall handeln, konnte sie die Kollegen immer noch informieren. Und falls sie bei der Durchsuchung des Hauses auf die Leiche der Bewohnerin stieß, war sie schließlich nicht gezwungen, sich ihr mehr als unbedingt notwendig zu nähern.

Außerdem, das spürte Anja in diesem Moment deutlich, musste sie das Haus unbedingt betreten, egal, ob sich darin eine Leiche befand oder nicht. Und es war letzten Endes auch gleichgültig, ob jemand ein perfides Spielchen mit ihr trieb, indem er sie mithilfe der Nachricht vor ihrer Tür manipuliert und hierhergelockt hatte, oder die Sache nur ein makabrer Scherz war. Sie musste sich selbst davon überzeugen und mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich ging. Schließlich war der Umschlag, der sie hierher geführt hatte, vor ihrer Haustür abgelegt worden. Außerdem gab es unzweifelhaft Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der Frau auf dem Foto, und das konnte kein bloßer Zufall sein. Schon aus diesem Grund nahm sie die Sache persönlich. Im Übrigen war sie es der Bewohnerin des Hauses schuldig, dass sie der Geschichte auf den Grund ging und selbst nach dem Rechten sah.

Anja wurde noch immer von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Dabei beschlich sie vor allem die Angst, bei der Durchsuchung des Hauses über die Leiche der Bewohnerin zu stolpern. Allerdings hatte sie nicht vor, sich vor dieser Angst beherrschen zu lassen, sondern würde sich ihr stellen.

Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte und rasch zu einer Entscheidung gelangt war, atmete Anja tief durch.

Wenn sie wissen wollte, was hinter der mysteriösen Nachricht steckte, die sie erhalten hatte, und warum das Haus scheinbar verlassen war, obwohl Licht brannte – und das wollte sie unbedingt! –, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu betreten.

DER REGENMANN

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