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Anja griff erneut in die Tasche ihres Kapuzenpullis und holte zwei Überschuhe aus Polypropylen heraus, die sie nacheinander über ihre Schuhe streifte. Ihr Eindringen in das scheinbar verlassene Haus war bereits grenzwertig, da wollte sie nicht auch noch die Arbeit der Kriminaltechnik sabotieren, falls an diesem Ort eine Straftat begangen worden war.

Sie schob die Terrassentür weit genug auf, sodass sie bequem durch die Öffnung schlüpfen konnte, und betrat dann das stille Haus.

Schon von draußen hatte sie kleine Pfützen schmutzigen Wassers auf dem Parkettboden entdeckt, die in einer direkten Linie von der Terrassentür zur Zimmertür führten. Scheinbar hatte vor ihr jemand anderes, vermutlich während des Regens, mit nassen Schuhen und feuchter Kleidung, von der das Regenwasser tropfte, das Haus durch die Terrassentür betreten und dabei diese Spuren hinterlassen. Sie bemühte sich, nicht hineinzutreten, und hielt sich links davon. Als sie die Terrassentür schließen wollte, stellte sie fest, dass das nicht möglich war. Sie warf daraufhin einen genaueren Blick auf den Schließmechanismus und sah, dass die Tür aufgehebelt und die Verriegelung zerstört worden waren.

Allmählich verdichteten sich die Hinweise, dass an diesem Ort etwas nicht in Ordnung war. Doch da Anja jetzt im Haus war, wollte sie sich wenigstens kurz umsehen, bevor sie die zuständigen Kollegen informierte.

Sie ging neben den nassen Fußspuren in die Hocke und nahm sie genauer in Augenschein. In der Nähe der Tür waren die Wasserpfützen noch am größten und deutlichsten, wurden dann aber stetig kleiner, je weiter sie sich davon entfernten. Teilweise waren sie auch bereits getrocknet und hatten nur eine braune Schmutzschicht auf dem Parkett hinterlassen. Hier und da war sogar das Profil eines Stiefels erkennbar. Wer immer vor ihr auf diesem Weg ins Haus gekommen war, hatte sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Spuren seines Eindringens zu verwischen. Zum Vergleich stellte Anja ihren rechten Fuß direkt neben einen besonders deutlich erkennbaren Abdruck und stellte fest, dass der Stiefel, der diese Spur hinterlassen hatte, ein paar Nummern größer als ihr Turnschuh gewesen sein musste.

Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah sich im Wohnzimmer um, das mit hochwertigem Mobiliar geschmackvoll eingerichtet war. Es war sauber und aufgeräumt. Nirgends herrschte die geringste Unordnung, und alles war scheinbar an seinem Platz.

Es gehörte zu Anjas täglicher Routine, die Wohnungen und Häuser vermisster Personen zu durchsuchen. Deshalb hatte sie im Laufe der Zeit auch ein Gespür dafür entwickelt. Hier deutete ihrer Meinung nach nichts darauf hin, dass die Bewohnerin vorhatte, für längere Zeit wegzugehen. Wenn, dann hatte sie das Haus nur für kurze Zeit verlassen und vorgehabt, bald wieder zurückzukommen.

Falls sie das Haus überhaupt verlassen hat!

Anja rief sich in Erinnerung, dass dies hier – noch? – kein Vermisstenfall war. Aus diesem Grund war sie auch nicht als Ermittlerin der Vermisstenstelle in offiziellem Auftrag hier. Sie war nur hier, um sich einen raschen Überblick über die Situation zu verschaffen und dann die zuständigen Stellen einzuschalten, sollte das notwendig sein. Daher konnte sie sich auch nicht so viel Zeit lassen wie gewöhnlich, wenn sie die Wohnungen vermisster Personen durchsuchte, sondern wollte endlich einen Zahn zulegen.

Als sie das Wohnzimmer durchquerte und sich dabei weiterhin neben den nassen Fußspuren hielt, entdeckte sie an der Wand mehrere gerahmte Fotografien. Interessiert ging sie hin und sah sich die Aufnahmen aus der Nähe an. Auf fast allen war die Frau zu sehen, die sich auch auf dem ausgedruckten Foto befand, das Anja bekommen hatte.

Carina Arendt, rief sie sich den Namen in Erinnerung.

Diese letzte Bestätigung hätte sie nicht mehr gebraucht. Dennoch hatte Anja damit einen weiteren Beweis, dass die Frau aus der geheimnisvollen Vermisstenmeldung, die sie auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, tatsächlich die Bewohnerin dieses scheinbar verlassenen Hauses war.

Auf den Fotografien an der Wand war die Frau teilweise deutlich jünger als auf dem, das Anja zugespielt worden war. Teilweise hatte sie darauf auch längere Haare oder eine andere Frisur. Auf mehreren Aufnahmen war auch ein dunkelhaariger Mann zu sehen, zu dem die Frau eine innige Beziehung zu haben schien, denn sie hielten sich im Arm oder schmiegten sich aneinander. Entweder handelte es sich um den Ehemann, den Lebenspartner oder einen Bruder der Frau. Auch die schwarze Katze war auf zwei Fotos verewigt worden.

Neben den Fotografien hingen zwei gerahmte Urkunden. Bei einer handelte es sich um eine Diplomurkunde der Fachhochschule München, in der Frau Carina Arendt aufgrund der im Studiengang Architektur erfolgreich abgelegten Abschlussprüfung der akademische Grad »Diplom-Ingenieur (FH)« verliehen wurde. Laut der anderen Urkunde war Frau Dipl.-Ing. (FH) Carina Arendt als ordentliches Mitglied in den Verband deutscher Architekten (VDA) aufgenommen worden. Als sich Anja die Geburtsdaten auf den beiden Dokumenten ansah, wurde ihr klar, dass sich die Ähnlichkeit zwischen ihr selbst und Carina Arendt nicht auf das Geburtsdatum erstreckte, denn die andere Frau war mehr als zehn Jahre älter als sie.

Schließlich wandte Anja sich ab und ging, eingedenk ihres Vorhabens, sich zu beeilen, rasch zur Tür. Sie war geschlossen. Aus diesem Grund hatte Anja, als sie durch die anderen Fenster hereingeschaut hatte, auch nicht sehen können, dass im Wohnzimmer Licht brannte.

Sie öffnete die Tür, trat jedoch nicht sofort hindurch, sondern horchte erst einmal, ob sie aus den anderen Teilen des Hauses etwas hörte. Doch es blieb weiterhin gespenstisch still.

Totenstill?

Anja ignorierte ihre innere Stimme erneut, denn ein solcher Gedanke war in einer derartigen Situation alles andere als hilfreich.

Da sie nicht im Dunkeln herumstolpern wollte und außerdem darauf achten musste, keine Fußspuren zu verwischen, griff sie durch den Türrahmen nach draußen und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter.

Ihr kam der erschreckende Gedanke, dass urplötzlich etwas nach ihrer Hand greifen und sie nach draußen zerren könnte. Unter Umständen sogar derjenige, der die nassen Spuren auf dem Parkett hinterlassen hatte, schließlich hatte sie keine Gewissheit, ob er das Haus schon wieder verlassen hatte oder noch immer hier war.

Anja spürte, wie es ihr bei diesen Überlegungen eiskalt den Rücken hinunterlief und sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Sie fragte sich unwillkürlich, warum sie völlig unbewaffnet hierhergekommen war. Ihre Dienstpistole befand sich in der verschlossenen Schreibtischschublade ihrer Dienststelle, und ansonsten besaß sie keine Schusswaffe. Allerdings hätte sie sich in diesem Augenblick auch mit einem Küchenmesser, einem kleinen improvisierten Knüppel oder sogar ihrem Regenschirm mit der Metallspitze zufriedengegeben.

Dann ertasteten ihre Finger endlich den Lichtschalter und betätigten ihn, worauf im dunklen Flur augenblicklich das Licht anging.

Anja zog die Hand zurück und sah sich um. Der Hausflur lag, soweit sie ihn überblicken konnte, genauso verlassen vor ihr wie das Wohnzimmer. Sie stieg mit einem großen Schritt über die Fußspuren und Wasserlachen hinweg, die direkt zur Treppe nach oben führten.

Sie überlegte, ob sie weiterhin den Spuren folgen oder sich erst einmal in den anderen Räumen des Erdgeschosses umsehen sollte. Allerdings sah sie keinen Sinn darin, das Haus systematisch abzusuchen und damit Zeit zu vergeuden. Wenn sie den Wasserpfützen auf dem Boden folgte, würden diese sie vermutlich ohne Umwege an ihr Ziel führen. Und am Ende der Spuren müsste sie unweigerlich das finden, wonach sie suchte.

Anja erschauderte.

Erneut kam ihr der erschreckende Gedanke, dass die Person mit den nassen Schuhen noch immer im Haus sein könnte. Und sie war leichtsinnigerweise völlig unbewaffnet hierhergekommen. Sie dachte darüber nach, ob sie erst noch einen Abstecher in die Küche machen und sich dort ein scharfes Messer schnappen sollte. Dann wäre sie wenigstens nicht völlig wehrlos und würde sich nicht so ausgeliefert fühlen.

Doch damit würde sie unter Umständen einen Tatort verändern, was eine Todsünde für jeden Polizisten war. Und falls hier eine Straftat verübt worden war, dann hatte sie als erste Polizeibeamtin vor Ort die Pflicht, Maßnahmen zur Tatortsicherung einzuleiten, die verhinderten, dass der Tatort verändert wurde. Doch darum konnte sie sich später kümmern. Erst musste sie abklären, ob es sich hier überhaupt um einen Tatort handelte. Anschließend konnte sie immer noch die zuständigen Kollegen informieren und notwendige Sicherungsmaßnahmen durchführen.

Aufgrund dieser Überlegungen verzichtete Anja darauf, sich zu bewaffnen, und folgte stattdessen den nassen Spuren zur Treppe. Nachdem sie im Treppenaufgang ebenfalls Licht gemacht hatte, warf sie einen vorsichtigen Blick nach oben; es war jedoch niemand zu sehen. Sie versuchte, wie sie es oft tat, ein Gespür für die Atmosphäre des Hauses zu entwickeln. Oftmals konnte sie spüren, ob eine Wohnung oder ein Haus verlassen war oder ob sich außer ihr noch jemand darin aufhielt. Es hätte sie beruhigt, wenn ihr das hier und jetzt ebenfalls gelungen wäre und sie gewusst hätte, dass sie allein im Haus war. Doch leider gelang es ihr nicht, sich in die Atmosphäre des Hauses einzufühlen. Sie zuckte mit den Schultern. Dann musste sie sich wohl oder übel überraschen lassen.

Als sie die Stufen nach oben stieg, hielt sie den Blick auf die Spuren gerichtet und bewegte sich am äußersten rechten Rand. Die Schuhüberzieher knisterten leise, und ihr eigener Herzschlag dröhnte ihr überlaut in den Ohren. Doch ansonsten war es im ganzen Haus mucksmäuschenstill.

Nachdem sie im Obergeschoss angekommen war, hielt sie erst einmal inne. Sie schaltete das Licht an und sah sich um. Sämtliche Türen waren geschlossen. Dunkle Flecken auf dem Teppichboden führten von der Treppe zu einer der Türen.

Anjas Erregung wuchs, denn sobald sie diese Tür öffnete, würde sie hoffentlich endlich erfahren, was hier los war. Ihr Herz klopfte schneller. Gleichzeitig begann sie zu schwitzen. Ihre größte Befürchtung bestand darin, hinter der Tür die Leiche der Bewohnerin zu finden. Deshalb versuchte sie, sich auf diesen Anblick vorzubereiten und dagegen zu wappnen. Sie wusste allerdings mit absoluter Sicherheit, dass der Fund eines Leichnams sie dennoch schockieren würde, gleichgültig, ob sie sich innerlich darauf vorbereitete oder nicht.

Nachdem sie noch einmal tief eingeatmet und die Luft wieder ausgestoßen hatte, marschierte sie neben den Feuchtigkeitsflecken durch den Flur. Unmittelbar vor der Tür, die ihr Ziel war, befand sich ein besonders großflächiger dunkler Fleck auf dem Teppich, als hätte die Person, die dafür verantwortlich war, hier eine Weile gestanden und gewartet.

Worauf?

Anja konnte sich eine Reihe von Antworten auf diese Frage vorstellen. Allerdings würde sie die Wahrheit vermutlich nie erfahren. Von daher war es müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, sodass sie es bleiben ließ.

Sie horchte aufmerksam, doch hinter der Tür war alles still.

Totenstill!

Anja schüttelte den Kopf. Der Gedanke, der sich mit einer Hartnäckigkeit in ihrem Bewusstsein festgesetzt hatte, als wollte er dort auf Dauer einziehen, war in diesem Augenblick absolut nicht hilfreich. Er ließ in ihrem Verstand eine Serie von Bildern der Frau von den Fotos entstehen. Auf jeder einzelnen dieser Momentaufnahmen war sie nicht mehr am Leben, und jede zeigte sie als Opfer einer anderen Todesart, jede furchtbarer als die vorherige.

Sie verdrängte die unerwünschten Überlegungen, die sie dazu veranlassten, unschlüssig an Ort und Stelle zu verharren, und sie letztendlich davon abhielten, endlich die Tür zu öffnen.

Anja gab sich daher innerlich einen Ruck und legte ihre Hand auf die Türklinke.

Die an sich alltägliche Bewegung erinnerte sie an andere Gelegenheiten, bei denen sie bestimmte Türen geöffnet hatte. Und es erinnerte sie vor allem daran, was sie jedes Mal dahinter entdeckt hatte.

An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters in ihrem ehemaligen Elternhaus, hinter der sie seine erhängte Leiche gefunden hatte.

An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Mannes Fabian, hinter der sie auch ihn erhängt aufgefunden hatte.

An die Schlafzimmertür ihres Ex-Freundes Konstantin Steinhauser, hinter der sie ihn in flagranti mit einer anderen Frau erwischt hatte.

An die Küchentür in einem alten, heruntergekommenen Bauernhof, hinter der sie ihren Stiefbruder Sebastian gefesselt auf einem Stuhl entdeckt hatte.

Erneut an die Tür zum ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters, hinter der sie auf ihre Cousine Judith gestoßen war, die sich in der Gewalt ihres Bruders befunden hatte, bei dem es sich um einen Serienkiller gehandelt hatte.

Es gab noch zahlreiche andere Türen und Ereignisse, doch die Eindrücke wechselten sich immer rascher ab, sodass Anja komplett den Überblick verlor und nicht mehr mitkam.

Also drückte sie rasch die Klinke nach unten, wodurch die Erinnerungsflut abrupt gestoppt wurde. Dann schob sie entschlossen die Tür auf und betrat den dahinterliegenden Raum.

DER REGENMANN

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