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Wieder zu Hause suchte Anja, sobald sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, als Erstes sämtliche Lieblingsaufenthaltsorte ihres Katers ab. Die zusammengefaltete Decke auf der Couch im Wohnzimmer, die Yin vor allem für seine ausgiebigen Nickerchen während des Tages benutzte, war leer. Auch Anjas Bett im Obergeschoss, in dem das Tier gewöhnlich schlief, nachdem es von seinen anstrengenden nächtlichen Streifzügen zurückgekehrt war, war verwaist. Er saß auch nicht auf dem Fensterbrett ihres Arbeitszimmers, das sie kaum noch betrat, weil es zu viele unangenehme Erinnerungen an ihren an diesem Ort verstorbenen Mann erweckte. Yin wiederum nutzte es gern als Aussichtspunkt, denn von dort hatte er einen hervorragenden Ausblick über sein Reich, das vermutlich aus ihrem Grundstück und den angrenzenden Gärten der Nachbarn bestand. Vor der Terrassentür, wo er immer dann teils sehnsüchtig, teils missmutig hinaus starrte, wenn es draußen zu ungemütlich für ihn war, weil es regnete, stürmte, blitzte oder donnerte, hockte er ebenfalls nicht. Er war auch nicht in der Küche, einem weiteren seiner Lieblingsorte, weil dort unter dem Fenster seine Näpfe mit Wasser und Katzenfutter standen. Und auch sonst war nirgends eine Spur von Yin zu entdecken. Sie ging daher davon aus, dass er noch immer draußen unterwegs war.

Angesichts des Schicksals, das die Katze der verschwundenen, vermutlich getöteten Carina Arendt getroffen hatte, machte sie sich inzwischen natürlich große Sorgen um den Kater. Allerdings rief sie sich in Erinnerung, dass das andere Tier nicht draußen, sondern von jemandem getötet worden war, der ins Haus eingedrungen war. Das gab ihr die Hoffnung, dass Yin nichts passierte, solange er im Freien unterwegs war. Und die Wahrscheinlichkeit, dass derselbe Täter auch in ihr Haus eindrang, war vermutlich eher gering.

Bist du dir sicher?

Ihre innere Stimme hatte die Angewohnheit, ihr ausgerechnet die Fragen zu stellen, die Anja nicht hören und auf die sie lieber keine Antwort haben wollte. Sie ignorierte sie deshalb einfach, was in der Regel aber nicht lange funktionierte.

Da sie momentan nichts anderes tun konnte, als darauf zu warten, dass Yin zurückkam, saß Anja am Küchentisch und grübelte.

Sie musste immer wieder an die Nachricht denken, die sie bekommen hatte. Und natürlich an das Polaroidfoto, das noch immer in der Innentasche ihrer Lederjacke steckte. Das Foto hatte jeden Zweifel darüber beseitigt, wer ihr den Umschlag vor die Tür gelegt hatte. Wie sie es von Anfang an vermutet hatte, steckte der Mörder ihres Vaters dahinter. Die Polaroidaufnahme war der Beweis, dass es sich um mehr als eine bloße Vermutung handelte. Sie hatte seit dem letzten Mal eine geraume Weile nichts mehr von ihm gehört, aber ständig insgeheim damit gerechnet, dass er sie früher oder später wieder aufs Korn nahm.

Damit war klar, dass der Mann, der sich Jack nannte, hinter der Geschichte steckte.

Aber wer ist die Person, die Carina Arendt in ihrem Badezimmer angegriffen und höchstwahrscheinlich getötet hat?

Wie in den früheren Fällen, in denen Anja es mit dem Mörder ihres Vaters zu tun bekommen hatte, bediente er sich offensichtlich auch hier wieder eines willfährigen Helfers, der für ihn die blutige Arbeit erledigte.

Aber wieso hatte er ihr die Nachricht geschickt und damit auf die Tat seines Handlangers aufmerksam gemacht, nachdem er sich andererseits zuvor so viel Mühe gegeben hatte, die Blutspuren im Bad zu entfernen? Außerdem hatte er auch den Bademantel hängen lassen und die Fußspuren nicht beseitigt. Wozu? Wollte er Anja in die Ermittlungen hineinziehen und erreichen, dass sie seinen Gehilfen jagte?

Der Gedanke war abenteuerlich, aber nicht grundsätzlich abwegig. Von daher behielt Anja ihn vorerst im Hinterkopf.

Stattdessen dachte sie über Plattner, den Kollegen vom Kriminaldauerdienst nach. Für ihre Begriffe hatte er zu oft gegrinst oder gelächelt. Vor allem angesichts dessen, was in dem Haus möglicherweise passiert war. Außerdem irritierte sie seine Faszination für Todesfälle, die sie weder begreifen noch begrüßen konnte.

Bevor sie allerdings noch länger über den KDD-Beamten nachdenken konnte, klingelte ihr Festnetztelefon. Sie wunderte sich, wer so spät noch anrief. Doch als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, sah sie, dass es noch gar nicht so spät war, wie sie gedacht hatte. Es war ihr nur so vorgekommen, weil in den letzten zweieinhalb Stunden so viel passiert war.

Während Anja in den Flur ging, dachte sie darüber nach, wer der Anrufer sein könnte. Vielleicht war es Tanja, die wissen wollte, was Anja herausgefunden hatte und ob es ihr gutging.

Doch als Anja das schnurlose Telefon nahm, stand auf dem Display nicht der Vorname ihrer Cousine, sondern der ihrer Mutter. Da Dagmar wusste, dass Anja selten vor Mitternacht schlafen ging, rief sie manchmal sogar noch spätabends an.

Anja seufzte. Während es ein weiteres Mal klingelte, überlegte sie, ob sie den Anruf entgegennehmen oder so tun sollte, als wäre sie nicht zu Hause.

Die Gründe, die für ein Telefongespräch mit Dagmar sprachen, überwogen schließlich. Erstens würde das Telefonat sie vom Nachgrübeln abhalten, das vermutlich ohnehin zu nichts führte. Außerdem verging die Zeit dann rascher, bis Yin nach Hause kam. Im Übrigen hatte sie seit fast einer Woche nicht mehr mit ihrer Mutter telefoniert. Ein Gespräch war daher längst überfällig, denn Dagmar erwartete, dass sie regelmäßig miteinander sprachen.

»Hallo, Mama«, sagte Anja, sobald die Verbindung stand. »Wie geht’s dir?«

Dagmar Fröhlich erwiderte die Begrüßung. Sie erging sich zunächst in der Schilderung diverser kleinerer körperlicher Beschwerden, die Anja allesamt nicht besonders schwerwiegend vorkamen. Anschließend listete sie eine Reihe von Problemen auf, die Anja angesichts dessen, was sie heute in Carina Arendts Haus vorgefunden hatte, wie Kinderkram erschienen. Sie ließ ihre Mutter dennoch munter drauflos schwadronieren, steuerte ab und zu einen einsilbigen Kommentar bei, hörte in Wahrheit aber überhaupt nicht richtig zu.

Dagmar war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet. Ihr Ehemann Josef Fröhlich betrieb eine Druckerei, in der sie im Büro tätig war. Durch die Heirat hatte Anja nicht nur einen Stiefvater bekommen, den sie gern hatte, sondern mit seinem Sohn Sebastian darüber hinaus auch einen Stiefbruder, den sie von Anfang an nicht besonders leiden konnte.

Als ihre Mutter daher von Sebastian erzählte, der in einer Einliegerwohnung in seinem Elternhaus lebte und Sanitäter war, zog Anja eine Grimasse und schaltete auf Durchzug. Sie stand mit dem Telefon am Ohr im Flur und starrte auf die Katzenklappe neben der Haustür, als könnte sie durch pure Willenskraft bewirken, dass die Klappe aufging und ihr Kater durch die Öffnung schlüpfte. Doch das passierte natürlich nicht.

Schließlich beendete Dagmar ihren Monolog und fragte: »Und wie geht’s dir so?« Eine Frage, die automatisch eine aktivere Beteiligung Anjas an der Unterhaltung nach sich zog.

»Mir geht’s gut«, gab Anja daraufhin ihre Standardantwort. Bis sie heute Abend den Umschlag auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, war das sogar im Großen und Ganzen die Wahrheit gewesen. Ihre Arbeit machte ihr wie immer Spaß; abgesehen natürlich von den zum Glück spärlich gesäten Tagen, an denen sie es mit Leichen zu tun hatte. Außerdem hatte nun schon eine ganze Weile niemand mehr versucht, sie zu töten, was sich ebenfalls positiv auf ihren Gemütszustand auswirkte. Einzig ihr Privatleben könnte etwas abwechslungsreicher sein, vor allem in Bezug auf das Thema Männer. Sie war in den letzten Monaten mit mehreren Männern ausgegangen, doch mehr als ein Restaurantbesuch war daraus nie geworden. In dieser Hinsicht war sie ein gebranntes Kind und deshalb extrem vorsichtig geworden. Aber wenigstens war sie nicht ganz allein, sondern hatte Yin.

Allerdings warf das, was sie am heutigen Abend erlebt hatte, einen tiefdunklen Schatten auf ihr Leben. Nicht nur, dass sie durch eine anonyme Nachricht erneut gegen ihren Willen in die Ermittlungen in einem möglichen Mordfall verwickelt wurde, musste sie sich nun auch noch Sorgen um ihren Kater machen. Außerdem hatte sie in den letzten Stunden mehrere Male das Gefühl gehabt, dass jemand sie aus dem Verborgenen beobachtete. Und schließlich war sie durch den Umschlag vor ihrer Tür an schreckliche Ereignisse aus ihrer Vergangenheit erinnert worden und musste seitdem auch wieder verstärkt an den Mörder ihres Vaters denken.

Apropos …

»Ich wollte dich eigentlich schon längst etwas fragen«, platzte Anja heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

»Was denn?«

Anja überlegte sich ihre Worte gut. Ihre Mutter und sie sprachen nie über den Tod ihres Vaters. Sie beide hatten bislang instinktiv davor zurückgescheut, so als wäre es ein Tabuthema, über das man einfach nicht redete. Außerdem gab es dazu im Grunde auch nichts zu sagen. Anja hatte damals seine Leiche gefunden und wusste daher über die Umstände seines vermeintlichen Selbstmordes bestens Bescheid. Zumindest hatte sie gedacht, alles darüber zu wissen, bis die Polaroidaufnahme ihres Vaters, die wenige Minuten oder Sekunden vor seinem Tod aufgenommen worden war, sie eines Besseren belehrt hatte. Seitdem wusste sie, dass er ermordet worden war, und der Mörder sich sogar noch im Haus aufgehalten hatte, als sie den Leichnam im Arbeitszimmer entdeckt hatte. Allerdings hatte sie ihrer Mutter nichts davon erzählt. Wieso sollte Anja sie auch mit diesem Wissen belasten, so wie es sie belastete, und sie beunruhigen? Noch dazu, wo sie den Bruder ihres Vaters dieses Mordes und zahlreicher weiterer Straftaten verdächtigte.

Doch nun, wo sie, ausgelöst durch die jüngsten Ereignisse, schon einmal damit angefangen hatte, wollte sie auch keinen Rückzieher mehr machen, sondern das Thema, das ihr bereits seit einiger Zeit auf den Nägeln brannte, endlich zur Sprache bringen.

»Anja? Bist du noch dran?«

Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte lange überlegt und geschwiegen.

»Ja, natürlich.«

»Du wolltest mich etwas fragen.« Eine Spur von Ungeduld schwang in der Stimme ihrer Mutter mit, genauso wie früher, wenn Anja nicht gleich mit der Sprache herausgerückt war.

»Als Papa damals gestorben ist …«, begann Anja die ungewohnten Worte auszusprechen und verstummte dann, als sie hörte, wie ihre Mutter geräuschvoll die Luft einsog, denn damit hatte sie gewiss nicht gerechnet.

Für eine Weile herrschte atemloses Schweigen in der Leitung. Anja hatte keine Ahnung, wie sie den Satz beenden sollte. Und ihre Mutter schien vor Schreck erstarrt zu sein und wusste scheinbar nicht, ob sie überhaupt etwas und wenn ja, was sie dazu sagen sollte.

»Hast du …« Anja stockte. »… danach irgendwelche Unterlagen über seine damaligen Fälle in seinem Arbeitszimmer gefunden?« Anja stieß erleichtert die Luft aus. Sie war froh, dass sie den Satz zu einem sinnvollen Ende gebracht und dabei weder gestammelt noch gestottert hatte.

Endlich ist es raus!

»Unterlagen?« Die Stimme ihrer Mutter klang unsicher und zögerlich, sodass Anja sich im ersten Moment fragte, ob sie noch immer mit derselben Person sprach. »Was für Unterlagen meinst du denn?«

»Private Unterlagen über die Fälle, die er bearbeitete, als …« Anja seufzte. »Du weißt schon. Damals sind doch diese drei Mädchen spurlos verschwunden. Eine davon, Helena König, ging sogar mit mir in eine Klasse. Die anderen beiden hießen Melanie Brunner und Daniela Forstner. Alle drei verschwanden innerhalb weniger Wochen nicht weit voneinander entfernt. Sie kannten sich nicht und hatten auch sonst kaum Gemeinsamkeiten bis auf ihr langes dunkelbraunes Haar. Papa und sein Kollege Hans Baumgartner leiteten damals die Ermittlungen, fanden jedoch nicht die geringste Spur der Kinder. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Und dann … dann starb Papa.« Sie hatte eigentlich sagen wollen: Und dann verübte Papa Selbstmord. Es war die offizielle Version, doch es wäre eine Lüge gewesen, die ihr nun, nachdem sie die Wahrheit kannte, nicht über die Lippen kommen wollte. »Die Fälle konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Ich … ich habe mich nur gefragt, ob Papa sich private Aufzeichnungen über diese Ermittlungen gemacht hatte.«

Erneut war es eine Weile still in der Leitung; so still, dass Anja sich unwillkürlich fragte, ob ihre Mutter nicht längst aufgelegt hatte. Aber dann hätte sie den entsprechenden Signalton gehört und nicht diese atemlose Stille. Doch bevor sie nachfragen konnte, meldete sich Dagmar von selbst zu Wort.

»Warum … warum willst du das denn wissen?«

»Ich …« So weit, sich eine vernünftige, aber gleichwohl harmlose Erklärung einfallen zu lassen, hatte Anja gar nicht vorausgedacht. Deshalb musste sie jetzt improvisieren und hoffte, dass sie sich nicht in dem Lügengeflecht verhedderte, das sie aus dem Stegreif knüpfen musste. »Ich habe mich vor Kurzem mit Hans Baumgartner getroffen«, sagte sie dann, was nicht einmal eine Lüge war, denn sie traf sich regelmäßig mit dem ehemaligen Freund und Kollegen ihres Vaters. »Wir haben unter anderem über die drei verschwundenen Mädchen gesprochen. Hans ärgert sich noch immer, dass sie diese Fälle nicht lösen konnten, und fragt sich immer wieder, was aus ihnen geworden ist. Ob sie noch leben oder längst tot sind? Ich … ich hab mir dann mal die Fallakten besorgt und durchgesehen. Und da … da dachte ich, ich frage dich mal, ob Papa damals private Aufzeichnungen zu den Ermittlungen hatte, die keinen Eingang in die offiziellen Ermittlungsakten fanden.«

Anja wischte sich die Stirn, denn sie war unwillkürlich ins Schwitzen gekommen. Immerhin hatte sie eine nachvollziehbare Begründung für ihr plötzliches Interesse geliefert.

»Hans Baumgartner?«, fragte ihre Mutter schließlich, und Anja atmete auf, denn allem Anschein nach hatte Dagmar die Erklärung akzeptiert. »Den habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. Ich glaube, seit … seit Franks Beerdigung nicht mehr. Wie geht es ihm denn?«

Anja war froh, dass sie nicht mehr lügen musste. Auch wenn sie Übung darin hatte, ihre Mutter zu belügen – als Teenager war es eine Notwendigkeit und daher tägliche Praxis gewesen –, tat sie es heutzutage nicht mehr gern und nur in äußersten Notfällen. Aber jetzt befand sie sich wenigstens wieder in vertrauten Gewässern und konnte die Wahrheit sagen.

»Hans hatte kurz danach einen schweren Autounfall und sitzt seitdem im Rollstuhl.«

»Davon hatte ich ja keine Ahnung. Jetzt weiß ich endlich, warum ich danach nichts mehr von ihm gehört habe. Hätte ich davon gewusst, hätte ich ihn besucht.«

»Es geht ihm gut«, versicherte Anja. »Er ist momentan in Berlin. Dort besucht er seinen Sohn, zu dem er in den letzten Jahren kaum noch Kontakt hatte. Ich soll dir übrigens liebe Grüße von ihm ausrichten.«

»Danke. Sag ihm auch einen schönen Gruß, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Vielleicht können wir ja mal zu dritt zum Essen gehen, wenn er wieder in München ist. Er und dein Vater waren nicht nur Kollegen, sondern auch gute Freunde. Und du hattest bereits damals einen Narren an Hans gefressen, weil er immer so lustig war.«

»Das ist er noch immer. Aber um auf meine Frage nach den Aufzeichnungen zurückzukommen.«

»Du meinst private Aufzeichnungen deines Vaters zu den Fällen der drei vermissten Mädchen?«

»Ja.«

Dagmar seufzte. »Frank hatte im Dienst immer ein Notizbuch bei sich, in dem er sich alles Wichtige notierte. Sobald ein Notizbuch voll war, begann er das nächste.«

Anja nickte, denn das tat sie genauso, sagte jedoch nichts, um den Gedankenfluss ihrer Mutter nicht zu unterbrechen.

»Er bewahrte die Notizbücher in einer Schublade seines Schreibtisches auf.«

»Und was ist … nach seinem Tod damit passiert?«

»Die Kollegen, die seinen …« Ein kurzes Stocken, das Anja kaum aufgefallen wäre, wenn sie nicht damit gerechnet hätte. »… Tod untersucht haben, nahmen die Notizbücher natürlich mit, um sie auszuwerten.«

Anja verdrehte enttäuscht die Augen. Soviel zu ihrer Idee, aus alten Aufzeichnungen ihres Vaters zu erfahren, ob er tatsächlich seinen Bruder verdächtigt hatte, drei Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren entführt und wahrscheinlich getötet zu haben. Wenn es wirklich so einfach gewesen wäre, dann wäre das bereits im Rahmen der damaligen Ermittlungen der Todesermittler ans Licht gekommen. Außerdem hatte der Mörder sicherlich alles mitgenommen, was ihn belasten könnte.

»Schade«, sagte Anja und seufzte. »Ich dachte nur, dass man … Ach egal. Ich muss jetzt ohnehin aufhören. Es ist schon spät und …«

»Warte mal!«, unterbrach ihre Mutter sie.

»Was ist?«

»Mir ist da wieder etwas eingefallen.« Dagmars Stimme hatte einen nachdenklichen Tonfall angenommen, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.

»Was denn?« Anja bemühte sich, nicht allzu ungeduldig zu klingen. Erregung hatte sie jäh erfasst und ließ sie nervös im Flur hin und her laufen, während sie an ihrer Unterlippe knabberte.

»Sein allerletztes Notizbuch haben sie damals nicht mitgenommen.«

»Warum nicht?«

»Entgegen seiner Gewohnheit hatte er wenige Tage zuvor ein neues Notizbuch begonnen, obwohl das vorherige noch gar nicht voll war«, antwortete ihre Mutter. »Ich weiß auch nicht, warum er das getan hat. Vielleicht hatte er sein Notizbuch kurzzeitig verlegt oder irgendwo vergessen, musste sich aber unbedingt Notizen machen. Die zuständigen Beamten nahmen deshalb nur die alten Notizbücher und das vorletzte mit. Von einem weiteren wusste damals niemand etwas, nicht einmal ich. Sie sagten, dass sie Franks Notizen zu Ermittlungszwecken benötigten. Außerdem enthielten sie vertrauliche Informationen über die Vermisstenfälle, die dein Vater bearbeitet hatte. Deshalb habe ich sie auch nicht zurückbekommen. Aber das war mir ohnehin egal. Ich hatte kein Interesse daran, Notizen über alte Fälle zu lesen. Darüber hinaus hatte ich damals anderes im Kopf.«

»Warum wusste damals niemand etwas von einem weiteren Notizbuch?«, fragte Anja.

»Weil es nicht wie die anderen in seinem Arbeitszimmer war.«

»Wo war es dann?«

»Im Handschuhfach unseres Autos. Ich fand es erst ein halbes Jahr später, als ich den Wagen zur Inspektion brachte und den Fahrzeugschein und das Serviceheft suchte.«

Anja blieb mitten im Flur stehen, denn jetzt kam die Frage, die darüber entschied, ob sie erneut in einer Sackgasse gelandet war oder endlich einmal einen Durchbruch erzielen würde. »Und was hast du damit gemacht?«

»Ich wollte es an die für den Fall zuständigen Beamten schicken und legte es daher in eine Schublade im Wohnzimmerschrank, damit es nicht verlorenging«, sagte Dagmar.

»Und?«

»Dann habe ich es aber doch vergessen und erst Monate später wiederentdeckt. Da dachte ich mir, dass es vermutlich ohnehin keinen Sinn mehr hat, es den Ermittlern zu übergeben. Also packte ich es zu den anderen persönlichen Sachen deines Vaters in einen Karton, den ich in den Keller stellte.«

»Hast du den Karton immer noch?« Anja wagte es nicht einmal zu hoffen, aus Angst, im nächsten Moment maßlos enttäuscht zu werden.

»Wahrscheinlich schon«, sagte ihre Mutter und ließ damit einen Stein von enormer Größe vom Herzen ihrer Tochter poltern. »Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass ich die Sachen weggeworfen hätte. Außer natürlich, sie sind bei unserem Umzug in dieses Haus verlorengegangen. Aber das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Daher müsste der Karton eigentlich auf dem Dachboden stehen.«

»Kann ich morgen Vormittag vorbeikommen und mir das Notizbuch holen.«

»Morgen Vormittag?«, fragte Dagmar verwundert. »Bist du da nicht in der Arbeit?«

»Ich hab Urlaub.«

»Ach ja? Schön, dass ich das ganz nebenbei auch einmal erfahre.«

»Tut mir leid, Mama, aber daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

»Fährst du weg?«

»Nein.«

»Was hast du dann vor?«, fragte ihre Mutter. »So wie ich dich kenne, fällt dir daheim doch nur die Decke auf den Kopf, wenn du nichts zu tun hast.«

»Zu tun habe ich genug«, widersprach Anja. »Endlich habe ich Zeit, mich um den Garten zu kümmern. Und du weißt ja, wie gern ich Gartenarbeit verrichte.«

»Das war schon immer so«, sagte Dagmar. »Wie wäre es, wenn wir uns in den nächsten Tagen in einem Café oder Restaurant treffen?«

Anjas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Allerdings hatten sie sich eine Weile nicht mehr getroffen, sodass es auch dafür allmählich höchste Zeit war. Außerdem wollte sie das Notizbuch unbedingt haben. »Gute Idee«, sagte sie daher. »Ich kann dich ja in den nächsten Tagen anrufen, damit wir einen Termin ausmachen.«

»Schön. Ich freue mich schon darauf.«

»Und?«

»Was und?«

»Kann ich jetzt morgen früh kommen und das Notizbuch holen?«

Dagmar seufzte. »Ich weiß zwar nicht, was du dir davon versprichst, aber meinetwegen. Ich brauche dieses Notizbuch ohnehin nicht. Dein Vater hat mir nie von seiner Arbeit erzählt, und ich wollte, ehrlich gesagt, auch nichts davon wissen. Auf diese Weise konnten wir seinen Beruf und unser Privatleben besser auseinanderhalten. Du solltest dir daher am besten einen Mann suchen, der nicht bei der Polizei ist. Wie sieht es damit eigentlich aus?«

»Ich suche im Moment keinen Mann«, sagte Anja empört.

»Solltest du aber besser«, meinte ihre Mutter. »Irgendwann hast du deine beste Zeit hinter dir und dann ist es zu spät.«

»Mama!«

»Schon gut.« Dagmar seufzte. »Ich sage ja schon nichts mehr. Schließlich hast du noch nie auf das gehört, was ich gesagt habe.«

»Ich hab sehr wohl darauf gehört.«

»Ja, natürlich. Aber nur, um dann das genaue Gegenteil davon zu tun.«

Da ihre Mutter damit nicht unrecht hatte, beschloss Anja, das Thema zu wechseln.

»Bist du morgen Vormittag zu Hause?« Sie hoffte nicht, denn sie wollte ihren Besuch so kurz wie möglich halten, nahm es aber in Kauf.

»Tut mir leid, aber da bin ich in der Druckerei. Wie wäre es, wenn du am Nachmittag vorbeikommst, denn dann bin ich wieder zu Hause.«

»Es wäre mir aber lieber, wenn ich das Notizbuch schon am Vormittag holen könnte«, antwortete Anja. »Wir sehen uns ja ohnehin in den nächsten Tagen zum Kaffeetrinken oder Essen.«

»Ich weiß wirklich nicht, warum du es auf einmal so eilig hast«, sagte ihre Mutter. »Ein Vierteljahrhundert hat kein Mensch einen Blick in dieses Notizbuch geworfen. Bis vor wenigen Minuten wusstest du nicht einmal, dass es überhaupt existiert. Und jetzt kann es dir gar nicht schnell genug gehen, es in die Finger zu bekommen. Was hat das zu bedeuten?«

»In dem Notizbuch stehen Dinge, die Papa wenige Tage oder sogar Stunden vor seinem Tod hineingeschrieben hat. Und bislang hat niemand sie gelesen. Womöglich ist etwas dabei, das neues Licht auf die damaligen Ermittlungen wirft und einen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen liefert. Wie ich bereits sagte, wurden die Fälle der drei verschwundenen Mädchen niemals aufgeklärt, und sie sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wenn in dem Notizbuch etwas steht, das außer Papa niemand wusste, sodass er sein Wissen mit ins Grab nahm, und das dazu dienen könnte, die Fälle nach all den Jahren aufzuklären, dann möchte ich das so schnell wie möglich erfahren. Das bin ich nicht nur den drei verschwundenen Mädchen, sondern auch Papa schuldig.«

»Na schön«, gab sich Dagmar schließlich geschlagen. »Komm einfach morgen früh vorbei. Du hast ja einen Schlüssel. Das Notizbuch ist in einem Umzugskarton, der mit dem Vornamen deines Vaters beschriftet ist. Der Karton müsste im Speicher stehen. Allerdings kann ich dir nicht sagen, wo genau. Du wirst also danach suchen müssen. Bring aber bitte nicht alles durcheinander.«

»Ich doch nicht«, sagte Anja, die maßlos erleichtert war und es kaum erwarten konnte, endlich dieses Notizbuch in Händen zu halten. Sie erhoffte sich davon nicht nur einen Durchbruch in den Fällen der drei verschwundenen Mädchen, die vor Jahrzehnten ergebnislos zu den Akten gelegt worden waren. Sondern sie hoffte auch, dass sie durch die Notizen ihres Vaters endlich erfuhr, wen er damals verdächtigt hatte. Schließlich musste sein Mörder einen Grund gehabt haben, ihn zu töten und es wie einen Suizid aussehen zu lassen, sonst wäre er dieses Risiko nicht eingegangen. Und eine drohende Verhaftung war Grund genug, einen Polizisten und sogar den eigenen Bruder zu ermorden. »Du kennst mich doch, Mama.«

»Eben«, erwiderte ihre Mutter humorlos. »Deswegen sage ich es ja.«

DER REGENMANN

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