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Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …

Der Regenmann sah zum Himmel und lächelte zufrieden.

Die lückenlose Wolkenschicht hing wie eine erstickende schwarze Decke über der Stadt. Da weder die Sterne noch der Mond zu sehen waren, war die Nacht nahezu stockfinster. Darüber hinaus regnete es in Strömen.

Doch er war über all das nicht unglücklich. Im Gegenteil. Er mochte die Dunkelheit, denn in ihr konnte er sich vor den anderen verbergen. In ihrem Schutz konnte er seine sogenannten Mitmenschen beobachten, ohne dass sie ihn sahen und etwas davon bemerkten. Und wenn es, so wie jetzt, auch noch wie aus Eimern schüttete, fühlte er sich erst recht in seinem Element – beinahe wie ein Fisch im Wasser.

Der Regenmann, wie er sich nicht nur wegen seiner ausgeprägten Vorliebe für Regenwetter selbst nannte, kauerte im Schutz einiger Büsche auf der Rückseite des Grundstücks, das in unmittelbarer Nähe des Waldfriedhofs lag, und beobachtete das Haus. Er trug einen mattschwarzen Regenparka, dessen Kapuze er sich über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte. Dazu eine Regenhose, Gummistiefel aus Neopren und extra dicke Einweghandschuhe aus Nitril; alles ebenfalls in Schwarz, sodass er nahezu vollständig mit der geliebten Dunkelheit verschmolz, die ihn wie ein Tarnmantel umgab und für neugierige Augen so gut wie unsichtbar machte. Allerdings sorgten sowohl die Uhrzeit als auch das Wetter ohnehin dafür, dass die Leute zu Hause blieben und nur dann einen Fuß vor die Tür setzten, wenn es absolut notwendig war.

Während er das Haus beobachtete und die Vorgänge darin durch verschiedene Fenster und die Terrassentür aufmerksam im Auge behielt, lauschte er den Regentropfen, die beständig auf seine Kapuze und seine Schultern fielen. Der Rhythmus, mit dem die schweren Tropfen ihn trafen, veränderte sich ständig und bildete Laute, die außer ihm niemand verstehen konnte. Nur er war dank langjähriger Übung dazu in der Lage, das Getrommel in verständliche Worte zu übersetzen. Auch aus diesem Grund war er der Regenmann. Denn der Regen sprach zu ihm; und der Regenmann hörte ihm geduldig zu und tat, was der Regen ihm riet oder von ihm verlangte.

Bald ist es so weit, wisperte der Regen in diesem Moment in seiner plätschernden Regentropfenstimme.

Der Regenmann nickte nur. Es war nicht notwendig, dass er laut sprach. Der Regen verstand ihn auch ohne Worte, denn sie beide waren inzwischen ein eingespieltes Team.

Schon als er ein kleines Kind gewesen war, hatte er zum ersten Mal den unwiderstehlichen Drang verspürt, nach draußen zu gehen, sobald es nach Einbruch der Dunkelheit zu regnen angefangen hatte. Je heftiger der Regen herunterprasselte, desto stärker war auch sein Verlangen, sein Kinderzimmer und das Haus zu verlassen. Doch da zunächst seine Eltern und später seine Pflegeeltern das nie erlaubt hätten und von seiner absonderlichen Liebe für den Regen nichts erfahren durften, weil sie ihn sonst vermutlich für noch merkwürdiger gehalten hätten, als sie das ohnehin schon taten, wartete er immer, bis sie schliefen. Erst dann zog er seine rote Regenjacke über den Schlafanzug und seine quietscheentengelben Gummistiefel an und schlich auf Zehenspitzen aus dem Haus. Es waren die schönsten Stunden seiner Kindheit, als er im Schutz des Regens und der Dunkelheit durch die menschenleeren Straßen, über verlassene Hinterhöfe und durch einsame Gärten huschte, um aus dem Verborgenen heraus heimlich seine Mitmenschen zu beobachten. Dabei lernte er im Laufe der Jahre die Sprache des Regens, der ihm alles über die Welt beibrachte, in der er lebte, und über die Menschen erzählte, die er beobachtete.

Damals war er natürlich noch nicht der Regenmann. Schließlich war er noch ein Kind und gewissermaßen in der Ausbildung. Erst mit seinem ersten Mord vor wenigen Wochen war er zum vollwertigen Regenmann geworden. Die Tat war so etwas wie seine Abschlussprüfung gewesen, sein Gesellenstück. Indem er sie mit Unterstützung des Regens erfolgreich ausgeführt hatte und hinterher nicht erwischt worden war, hatte er die praktische Prüfung mit Bravour und Auszeichnung bestanden.

Seitdem war er der Regenmann.

Und als solcher, also in offizieller Mission, war er heute hier.

Denn es galt, in dieser herrlich regnerischen und stockfinsteren Nacht einen weiteren Mord zu begehen.

Der Regenmann lächelte bei dem Gedanken an das, was schon bald passieren würde. Er konnte es kaum erwarten, endlich loszuschlagen, und zitterte vor Erregung.

Warte noch ein bisschen, flüsterten die Regentropfen ihm zu. Warte auf eine günstige Gelegenheit. Schon bald wird es so weit sein. Hab nur noch ein wenig Geduld.

Obwohl er kein geduldiger Mensch war, nickte der Regenmann. Er hatte verstanden und würde tun, was der Regen ihm sagte. Bisher war dieser ihm stets ein zuverlässiger Mentor und guter Ratgeber gewesen. Der Regen hatte ihm vor seinem ersten Mord gesagt, worauf er besonders achten musste. Und er hatte ihm eingeschärft, was er unter allen Umständen vermeiden sollte, weil er sonst unweigerlich geschnappt werden würde. Nur deshalb hatte er nach der Tat ungesehen und unerkannt verschwinden können. Dafür und für die unzähligen Stunden des Unterrichts während der letzten Jahre schuldete und zollte er dem Regen tiefen Respekt und unendliche Dankbarkeit.

Obwohl die Tropfen des heftigen Regens noch immer ohne Unterlass auf seine Kapuze und seine Schultern prasselten, bildeten sie keine Worte mehr. Der Regen wartete nun schweigend und ebenso gespannt wie er auf den richtigen Moment.

Der Regenmann begann nahezu lautlos vor sich hin zu summen. Als die Regentropfen die Melodie aufnahmen, sang er zu ihrer Begleitung leise ein paar Worte, die beinahe dem korrekten Liedtext entsprachen, die er jedoch ein wenig abgeändert hatte, damit sie besser zu ihm passten:

»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

Obwohl die Worte nur ein Hauch waren und darüber hinaus im Stakkato des Starkregens untergingen, verstummte der Regenmann nach dieser einen Zeile sofort wieder. Die Frau im Haus, die er nun schon seit einer Stunde geduldig beobachtete, konnte ihn zwar auf keinen Fall hören, dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Der Regen würde es ihm nie verzeihen, wenn er hier und heute einen Fehler beging und versagte.

Deshalb beschränkte er sich von nun an wieder vollständig aufs Beobachten und verhielt sich dabei mucksmäuschenstill.

Da im Wohnzimmer des Hauses Licht brannte, konnte er dabei zusehen, wie die Frau in diesem Moment wieder das Zimmer betrat und mit ihrer Katze sprach. Natürlich konnte er die Worte der Frau ebenso wenig hören wie sie zuvor seinen leisen Gesang. Dafür war der Regen zu laut und er zu weit entfernt. Außerdem befand sie sich innerhalb des Hauses, und er kauerte draußen im Garten zwischen den Büschen. Er konnte jedoch sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Das Tier reagierte allerdings nicht auf die Worte der Frau mit den kurzen blonden Haaren. Es saß direkt vor der Terrassentür und starrte nach draußen.

Der Regenmann erwiderte den Blick der Katze und erschauderte. Obwohl er hinter den Büschen hockte, die Regentropfen einen dichten Vorhang bildeten und er in seinen schwarzen Regensachen mit der Dunkelheit verschmolz, hatte er dennoch das Gefühl, dass das Tier ihn ansah. Es starrte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, genau in seine Richtung. Unter Umständen spürte es mit seinen viel feineren Sinnen seine Gegenwart.

Blödes Vieh!

Er mochte keine Tiere, schon gar keine Katzen. Auf seinen nächtlichen Streifzügen war er vielen begegnet und hatte stets einen Bogen um sie gemacht. Vor allem konnte er es nicht ausstehen, wie sie ihn ansahen: ohne jede Furcht und so wissend und gleichzeitig berechnend. Als könnten sie in sein Innerstes sehen, seine verborgensten Gedanken erfassen und wüssten alles über ihn, sogar seine finstersten Geheimnisse.

Er erschauderte erneut unter dem intensiven Blick des Tiers.

Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn die Frau überhaupt keine Katze gehabt hätte. Doch er war einen Deal eingegangen und hatte zugestimmt, sie zu töten. Deshalb musste er jetzt auch mit ihrem Haustier klarkommen, ob er wollte oder nicht.

Er seufzte tief. Dann wandte er rasch den Blick von der Katze und sah wieder zu der Frau.

Der Regen schien seine Nervosität und Verunsicherung zu spüren. Er sprach wieder in seiner sanften Regentropfenstimme zu ihm.

Die Katze ist kein Problem, flüsterte der Regen, denn sie ist kein Gegner für dich. Zuerst tötest du die Frau und anschließend kümmerst du dich um das Tier. So ist es vereinbart.

Der Regenmann war dankbar für die Worte des Regens, denn sie gaben ihm wieder Zuversicht. Das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Er summte erneut die Melodie seines Lieblingsliedes, die von den Regentropfen freudig aufgenommen wurde. Dann sang er leise und lächelte dazu:

»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam …«

DER REGENMANN

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