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14.

Mr. Milburgh bewohnte ein nicht allzu großes Haus in einer der Fabrikstraßen von Camden Town. Die Straße wurde fast in ihrer ganzen Länge von glatten Mauern begrenzt, die von Zeit zu Zeit durch große eisenvergitterte Tore unterbrochen wurden, durch die man einen Ausblick auf Fabriken und verräucherte Fabrikschornsteine hatte.

Mr. Milburghs Haus war das einzige Wohnhaus hier, wenn man die kleinen Diensthäuser der Wachleute und Beamten nicht mitzählte. Allgemein nahm man an, daß Mr. Milburgh einen guten Hauswirt hatte, denn das Grundstück war sehr gepflegt.

Das Haus war weitläufig auf einem etwa einen Morgen großen Grundstück errichtet. Es war nur ein Stockwerk hoch, und da alle Räume nebeneinander angeordnet waren, hatte es fast den Umfang einer kleinen Fabrik. Die Firmen zur Rechten und Linken hatten schon große Geldsummen für das Grundstück geboten, aber der Besitzer hatte alle Anerbieten abgelehnt. Einige Leute nahmen auch an, daß Mr. Milburgh selbst der Hauswirt war. Aber wie sollte das möglich sein? Sein Jahresgehalt betrug kaum neunhundert Pfund Sterling, und das Grundstück, auf dem das Haus stand, war mindestens sechstausend Pfund wert.

Das Gebäude stand etwas von der Straße zurück. Davor lag ein großer Rasenplatz, es war jedoch kein Blumenbeet zu sehen. Der Rasen selbst wurde durch hohe, schöne, eiserne Gitter eingefaßt, die Mr. Milburghs Hauswirt unter großen Kosten hatte errichten lassen. Um den Eingang des Hauses zu erreichen, mußte man durch ein großes eisernes Tor gehen und einen verhältnismäßig langen, mit glatten Steinen belegten Weg zurücklegen.

An dem Abend, an dem Mr. Tarling fast das Opfer dieses mörderischen Anschlages geworden war, kam Mr. Milburgh nach Hause zurück, schloß das große eiserne Tor auf, trat ein und verschloß es wieder mit großer Sorgfalt. Er war allein und pfiff wie gewöhnlich eine kleine traurige Melodie vor sich hin, die weder Anfang noch Ende zu haben schien. Er schritt langsam den Weg entlang, öffnete die Haustür, zögerte noch einen Augenblick und schaute noch einmal in den dichten Nebel zurück, bevor er hineinging, die Tür von innen sorgfältig verriegelte und das elektrische Licht andrehte.

Er stand nun in einem kleinen, einfach, aber sehr geschmackvoll möblierten Vorraum. An der Wand hingen verschiedene Radierungen von Zorn. Mr. Milburgh betrachtete sie wohlgefällig, dann hängte er Hut und Mantel an den Garderobenständer, zog die Gummischuhe aus, die er wegen des feuchten Wetters getragen hatte, und trat ins Wohnzimmer. Auch hier herrschte in der Einrichtung und Ausstattung dieselbe vornehme Einfachheit wie in der Halle. Die Möbel waren von schlichter Form, aber aus bestem Material hergestellt. Ein prachtvoller weicher Teppich bedeckte den Boden. Milburgh drehte einen anderen Schalter an, und der elektrische Ofen im Kamin glühte auf. Dann setzte er sich an den großen Tisch, der von allen Möbeln am meisten in die Augen fiel, denn er war ganz mit kleinen Stößen von Papieren und Akten bedeckt. Sie waren sorgfältig in Abteilungen gelegt, und die einzelnen Pakete waren mit Gummibändern zusammengehalten. Aber er machte keine Anstalten, sie zu lesen oder durchzusehen, er schaute nur nachdenklich auf das rostrote Löschpapier.

Plötzlich erhob er sich mit einem kleinen Seufzer, ging quer durch den Raum, schloß einen altertümlichen Schrank auf und nahm ein Dutzend kleine Bücher heraus, die er auf den Tisch legte. Sie waren alle von gleicher Größe, und jedes trug eine Jahreszahl. Es waren Tagebücher, aber nicht seine eigenen. Als er eines Tages zufällig in Thornton Lynes Büro gekommen war, hatte er diese Bücher in Lynes privatem Geldschrank entdeckt. Von dem Büro des Chefs aus konnte man alle Räume der Firma übersehen, so daß er Thornton Lyne kommen sehen mußte und unmöglich von ihm überrascht werden konnte. Milburgh hatte damals kurz entschlossen einen der Bände herausgenommen und gelesen.

Damals hatte er allerdings nur ein paar Seiten durchgesehen, aber später fand er Gelegenheit, einen ganzen Band von Anfang bis zu Ende zu lesen. Er hatte vieles daraus erfahren, was ihm sehr nützlich war und noch viel nützlicher gewesen wäre, wenn Thornton Lyne nicht eines so plötzlichen Todes gestorben wäre.

An dem Tag, als die Leiche im Hydepark gefunden wurde, hatte Mr. Milburgh, der einen Nachschlüssel zu Lynes Geldschrank besaß, diese Tagebücher in seine Wohnung geschafft. Sie enthielten sehr viel, was nicht gerade schmeichelhaft für Mr. Milburgh war, besonders das Tagebuch des letzten Jahres. Denn Thornton Lyne hatte nicht nur Erlebnisse und tägliche Ereignisse aufgezeichnet, sondern auch seine Gedanken, seine poetischen Entwürfe und anderes niedergeschrieben. Aus allem ging hervor, daß er seinen Geschäftsführer verdächtigte.

Die Lektüre dieser Tagebücher war für Mr. Milburgh natürlich äußerst interessant. Er schlug die Stelle nach, an der er am vorigen Abend aufgehört hatte zu lesen. Er konnte sie leicht finden, denn er hatte zwischen die Seiten einen Briefumschlag mit roten dünnen Papieren gelegt. Plötzlich schien er an etwas zu denken und fühlte sorgfältig in seine Taschen. Aber er schien das nicht zu finden, was er suchte, und legte mit einem Lächeln den Umschlag mit den chinesischen Papieren sorgsam auf den Tisch. Dann nahm er das Buch auf und las weiter.

»Im Hotel London zu Mittag gegessen, am Nachmittag etwas geschlafen. Wetter furchtbar heiß. Hatte einen entfernten Vetter – Tarling – zu besuchen, der zu der Polizeitruppe in Schanghai gehört, aber zu umständlich. Die Abendstunden in Chu Hans Tanzpavillon zugebracht. Dort kleine, hübsche, liebenswürdige Chinesin kennengelernt, die auch englisch sprach. Habe mich für morgen mit ihr zu Ling Fus Teehaus verabredet. Sie heißt hier ›die kleine Narzisse‹, und ich nannte sie ›Meine liebe, kleine, gelbe Narzisse‹ –«

Mr. Milburgh hielt bei seiner Lektüre inne.

»Kleine gelbe Narzisse?« wiederholte er für sich, dann schaute er auf die Decke und spitzte die Lippen. »Kleine gelbe Narzisse!« sagte er noch einmal, und ein breites Lächeln ging über sein Gesicht.

Er war noch mit seiner Lektüre beschäftigt, als es unerwartet läutete. Er sprang auf und horchte. Es schellte noch einmal. Schnell drehte er die Lichter aus, schob vorsichtig den dicken Vorhang beiseite, der das Fenster bedeckte, und spähte in den Nebel hinaus. In dem Licht der Straßenlaterne konnte er mehrere Leute unterscheiden, die vor der Tür standen. Behutsam ließ er den Vorhang wieder fallen, drehte das Licht an, nahm die Bücher auf und verschwand mit ihnen auf dem Gang. Der Raum, der nach hinten hinaus lag, war sein Schlafzimmer. Dorthin zog er sich zurück und kümmerte sich fünf Minuten lang nicht um das dauernde Klingeln.

Dann erschien er wieder auf der Bildfläche. Er hatte einen Schlafanzug angezogen, und darüber trug er einen schweren Schlafrock. Er schloß die Tür auf und ging in seinen Filzpantoffeln den Weg bis zu dem großen eisernen Tor.

»Wer ist dort?« fragte er.

»Tarling – Sie kennen mich doch!«

»Mr. Tarling?« fragte Milburgh ganz erstaunt. »Aber das ist ja ein unerwartetes Vergnügen! Treten Sie doch bitte näher, meine Herren.«

»Öffnen Sie das Tor«, sagte der Detektiv kurz.

»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muß erst den Schlüssel holen, ich habe nicht erwartet, um diese Stunde noch Besuch zu bekommen.«

Er ging in das Haus zurück, sah sich noch einmal überall um und erschien dann wieder mit dem Schlüssel. Er hatte ihn zwar schon vorhin in der Tasche gehabt, aber er war ein vorsichtiger Mann und wollte sich erst noch vergewissern, ob er nichts vergessen hätte.

Tarling war von Inspektor Whiteside und einem anderen Herrn begleitet, in dem Milburgh richtig einen Detektiv vermutete. Aber nur Tarling und der Polizeiinspektor nahmen die Einladung an, näher zu treten. Der dritte blieb draußen vor dem Tor.

Milburgh führte sie in sein gemütliches Wohnzimmer.

»Ich hatte mich schon vor einigen Stunden gelegt, und es tut mir leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen.«

»Ihr elektrischer Ofen ist aber noch ganz heiß«, bemerkte Tarling ruhig, der sich zu dem kleinen Gestell hinuntergebeugt hatte.

Milburgh lachte.

»Sie entdecken aber auch gleich alles«, sagte er bewundernd.

»Ich war so schläfrig, als ich zu Bett ging, daß ich vergaß, ihn abzustellen. Als ich eben herunterkam, sah ich es und drehte ihn ab.«

Wieder bückte sich Tarling und nahm einen glühenden Zigarrenstummel von dem Aschenbecher vor dem Kamin auf.

»Sie rauchen also auch beim Schlafen?« fragte er trocken.

»O nein«, entgegnete Milburgh leichthin, »ich rauchte gerade, als ich die Treppe herunterging, um Sie hereinzulassen. Ganz in Gedanken habe ich die Zigarre angezündet und in den Mund gesteckt. Das mache ich jeden Morgen beim Aufwachen – es ist eine schlechte Angewohnheit. Ich habe sie eben hingelegt, als ich die Heizung abdrehte.«

Tarling lächelte.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Milburgh, der sich selbst in einen Stuhl niederließ. Er zeigte bedeutungsvoll auf die Papiere, die auf seinem Tisch lagen. »Sie sehen, wir haben jetzt sehr viel im Geschäft zu tun, seitdem der arme Mr. Lyne eines so plötzlichen Todes gestorben ist. Ich muß mir sogar Arbeit mit nach Hause nehmen, und ich kann Sie versichern, daß ich manche Nacht bis zum Morgengrauen arbeite, nur um die Rechnungen für die Bücherrevisoren fertigzustellen.«

»Arbeiten Sie denn immer?« fragte Tarling harmlos. »Gehen Sie nicht manchmal nachts im Nebel spazieren, um sich zu erfrischen?«

»Spazierengehen, Mr. Tarling?« fragte er ganz erstaunt. »Ich verstehe Sie nicht ganz. Selbstverständlich würde ich in einer Nacht wie dieser nicht ausgehen. Es ist ein unglaublich dichter Nebel, den wir heute haben!«

»Kennen Sie Paddington überhaupt?«

»Nein, ich weiß nur, daß dort eine Eisenbahnstation ist, von der ich manchmal abfahre. Aber bitte, sagen Sie mir, warum Sie zu mir gekommen sind!«

»Ich bin heute abend von einem Mann angegriffen worden, der zweimal ganz aus der Nähe auf mich feuerte. Der Mann hatte dieselbe Größe und Gestalt wie Sie. Ich habe ein amtliches Schreiben in der Tasche« – Mr. Milburgh kniff die Augenlider zusammen –, »ich habe den Auftrag, Ihr Haus zu durchsuchen.«

»Wonach?« fragte Milburgh kühl.

»Nach einem Revolver oder einer automatischen Pistole. Vielleicht kann ich bei dieser Gelegenheit auch noch etwas anderes finden.«

Milburgh erhob sich.

»Sie können das ganze Haus von einem Ende zum andern durchsuchen. Sie werden bald damit fertig sein, denn es ist nur klein. Mein Gehalt erlaubt mir keine teure Wohnung.«

»Wohnen Sie allein hier?« fragte Tarling.

»Ja. Nur morgens um acht Uhr kommt eine Aufwartefrau, die mir das Frühstück macht und die Zimmer reinigt. Sie schläft aber nicht hier. – Ich fühle mich aber durch diesen Durchsuchungsbefehl aufs schwerste verletzt.«

»Wir werden Sie noch mehr verletzen müssen«, erwiderte Tarling trocken und begann mit einer genauen Durchsuchung der Räume.

Er hatte aber wenig Erfolg, denn er konnte keine Waffe entdecken. Auch gelang es ihm nicht, eins der kleinen roten Papiere zu finden, die er sicher im Besitz Milburghs glaubte. Denn er war viel begieriger, den Mörder Thornton Lynes zu fangen, als den Mann, der ihm heute aufgelauert hatte.

Er ging zu dem kleinen Wohnzimmer zurück, in dem er Milburgh mit dem Inspektor zurückgelassen hatte. Anscheinend machte er sich nicht viel aus dem Mißerfolg.

»Mr. Milburgh«, sagte er schroff, »haben Sie jemals ein solches Papier gesehen?«

Er nahm den kleinen roten Zettel aus der Tasche und legte ihn auf die Tischplatte. Milburgh betrachtete ihn genau und nickte.

»Sie kennen solche Papiere?« fragte Tarling überrascht.

»Jawohl, Mr. Tarling! Ich würde lügen, wenn ich es in Abrede stellte, und ich hasse nichts mehr, als andere Leute zu hintergehen.«

»Daran zweifle ich nicht«, meinte Tarling ironisch.

»Es tut mir leid, daß Sie meinen Worten keinen Glauben schenken«, sagte Milburgh vorwurfsvoll, »aber ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, daß ich es hasse, die Unwahrheit zu sagen.«

»Wo haben Sie solche Papiere schon gesehen?«

»Auf dem Schreibtisch von Mr. Lyne.«

Tarling war über diese Antwort ziemlich erstaunt.

»Der verstorbene Mr. Lyne brachte von seiner Weltreise viele Kuriositäten aus dem Osten mit. Darunter befand sich auch eine Anzahl solcher Zettel mit chinesischen Schriftzeichen. Ich verstehe chinesisch nicht und hatte auch niemals Gelegenheit, nach China zu kommen. Für mich unterscheiden sie sich gar nicht voneinander.«

»Sie haben diese Papiere auf Lynes Schreibtisch gesehen? Warum haben Sie denn das nicht der Polizei gesagt? Sie wissen doch, daß Scotland Yard großen Wert auf die Tatsache legte, daß man ein solches Blatt in der Tasche des Toten fand?«

»Es stimmt, daß ich es der Polizei gegenüber nicht erwähnte. Aber Sie müssen begreifen, Mr. Tarling, daß ich durch das traurige Ereignis so verwirrt war, daß ich an nichts anderes dachte. Es wäre auch möglich gewesen, daß Sie mehrere dieser merkwürdigen Zettel hier in meinem Hause gefunden hätten.« Bei diesen Worten lachte er dem Detektiv ins Gesicht. »Mr. Lyne machte sich ein Vergnügen daraus, Kuriositäten, die er aus dem Osten mitbrachte, an seine Freunde zu verteilen. Er schenkte mir auch das Schwert, das Sie dort an der Wand hängen sehen. Wahrscheinlich hat er mir auch mehrere solcher roten Zettel geschenkt. Er erzählte mir auch eine Geschichte darüber, aber ich kann mich im Augenblick nicht mehr darauf besinnen.«

Er hätte sich noch mehr in alte Erinnerungen an seinen verstorbenen Chef verloren, doch Tarling verabschiedete sich kurz. Milburgh begleitete ihn bis zu dem großen Tor und schloß es hinter den Leuten. Dann ging er zum Wohnzimmer zurück und lächelte vergnüge vor sich hin.

»Es ist ganz sicher, und ich bin fest davon überzeugt, daß Milburgh das Attentat auf mich verübte. Es ist so gewiß, wie ich hier stehe«, sagte Tarling.

»Haben Sie denn irgendeine Ahnung, warum er Ihnen das Lebenslicht ausblasen wollte?« fragte Whiteside.

»Nicht im mindesten. Aber offensichtlich war der Mann, der den Angriff auf mich machte, die ganze Zeit hinter mir her und hat mich beobachtet, wie ich mit Miss Rider durch die Straßen Londons fuhr. Als ich in das Hotel ging, hat er sein eigenes Auto entlassen und hat meinen Fahrer bezahlt. Ein Chauffeur ist immer zufrieden, wenn er nicht zu warten braucht und wenn er sein Fahrgeld bekommen hat. Später ist er dann hinter mir hergegangen, bis ich an einer einsamen Stelle der Straße war. Dort hat er zuerst etwas nach mir geworfen, dann hat er auf mich geschossen.«

»Ich verstehe nur nicht, warum er das alles getan hat«, sagte Whiteside wieder. »Angenommen, Milburgh wußte etwas von diesem Mord – das ist aber immer noch sehr zweifelhaft –, welchen Vorteil hätte er, Sie aus dem Wege zu räumen?«

»Wenn ich diese Frage beantworten könnte, dann könnte ich Ihnen auch sagen, wer Thornton Lyne ermordet hat.«

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