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26.

Tiefes Stillschweigen trat ein. Tarling fühlte, wie sein Herz schlug.

»Als ich an jenem Abend das Geschäft verließ«, fuhr Odette fort, »wollte ich meine Mutter aufsuchen und zwei oder drei Tage bei ihr bleiben, bevor ich meine neue Stelle antrat. Mr. Milburgh verbrachte nur das Wochenende in Hertford. Es wäre mir auch unmöglich gewesen, unter einem Dach mit ihm zu wohnen, nachdem ich alles über ihn wußte.

Ich verließ meine Wohnung ungefähr um halb sieben abends. Ich kann mich nicht mehr auf den genauen Zeitpunkte besinnen, aber es muß um diese Zeit gewesen sein, denn ich wollte mit dem Siebenuhrzug nach Hertford fahren. Als ich auf der Station ankam, löste ich meine Fahrkarte und bückte mich eben, um meine kleine Tasche aufzunehmen, als ich fühlte, daß mich jemand am Arm berührte. Ich drehte mich um und erkannte Mr. Milburgh, der sehr aufgeregt und niedergeschlagen war. Er bestimmte mich dazu, mit einem späteren Zug zu fahren und ihn zu einem kleinen Restaurant zu begleiten, wo er sich ein Separatzimmer gemietet hatte. Er sagte mir, daß er sehr schlechte Nachrichten habe, die er mir mitteilen müsse.

Ich gab mein Gepäck zur Aufbewahrung und ging mit ihm. Wir aßen dort zu Abend, und währenddessen erzählte er mir, daß er dicht vor dem Ruin stände. Mr. Lyne hätte einen Detektiv angestellt, um alles Material gegen ihn zu sammeln, aber seine Wut gegen mich sei im Augenblick so groß gewesen, daß er vorläufig von seinem Vorhaben abgekommen sei.

›Nur du allein kannst im Augenblick die ganze Situation retten‹, sagte Milburgh.

›Wieso kann ich dich retten?‹ fragte ich erstaunt.

›Du mußt einfach die Verantwortung für alle Unterschlagungen auf dich nehmen, deine Mutter wird sonst zu stark belastet.‹

›Weiß sie es?‹

Er nickte. Später entdeckte ich erst, daß es wieder eine Lüge war und daß er mich nur durch die Liebe zu meiner Mutter dazu zwingen wollte.

Ich war ganz erschüttert und starr vor Schrecken bei dem Gedanken, daß meine arme Mutter in diesen schrecklichen Skandal verwickelt werden könnte. Und als er dann von mir verlangte, daß ich ein Schuldbekenntnis nach seinem Diktat schreiben sollte, tat ich es ohne Widerrede und ließ mich von ihm überzeugen, daß ich England mit dem ersten Zug nach Frankreich verlassen und so lange dort bleiben müßte, bis alles vorüber sei. – Das ist alles.«

»Warum bist du heute abend nach Hertford gekommen?«

»Ich wollte mein Geständnis holen. Ich wußte, daß Milburgh es im Geldschrank aufbewahrte. Ich traf mich mit ihm, nachdem ich das Hotel verlassen hatte. Er hatte mich vorher angerufen und mir das Geschäft angegeben, wo ich der Überwachung der Detektive entgehen konnte. Und dort sagte er mir ...« Sie hielt plötzlich inne und wurde rot.

»Er sagte dir, daß ich dich liebe«, ergänzte Tarling ruhig.

Sie nickte.

»Er drohte mir, aus dieser Lage Vorteil zu schlagen und dir mein schriftliches Geständnis zu zeigen.«

»Jetzt verstehe ich die Zusammenhänge«, sagte Tarling und seufzte erleichtert auf. »Gott sei Dank! Morgen werde ich den Mörder Thornton Lynes verhaften!«

»Nein, tu das nicht!« bat sie und legte ihre Hand auf seine Schultern. »Du hast ihn in einem falschen Verdacht. Mr. Milburgh hat es nicht getan, ein solcher Schurke ist er nicht.«

»Wer hat denn dann das Telegramm an deine Mutter geschickt, daß du nicht kommen konntest?«

»Das war Milburgh.«

»Hat er denn zwei Telegramme geschickt? Kannst du dich darauf besinnen?«

»Ja. Ich weiß aber nicht, an wen er das zweite sandte.«

»Das haben wir auch herausgefunden, denn die beiden Formulare waren in derselben Handschrift ausgefüllt.«

»Aber –«

»Mein Liebling, quäle dich nun nicht mehr. Du wirst in der nächsten Zeit noch viel Schweres durchmachen müssen, aber du mußt tapfer sein, nicht nur um deinetwillen, sondern auch wegen deiner Mutter und um meinetwillen«, fügte er zärtlich hinzu.

Trotz ihrer unglücklichen Lage sah sie ihn liebevoll lächelnd an.

»Du setzt aber etwas als gewiß voraus?«

»Was meinst du?« fragte er erstaunt.

»Nun, daß ich dich« – sie errötete tief – »daß ich dich liebe und heiraten werde?«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Tarling langsam. »Vielleicht war es meine Eitelkeit, die es mich glauben ließ.«

»Vielleicht war es auch das richtige Gefühl«, sagte sie und drückte seinen Arm innig.

»Aber jetzt muß ich dich zu deiner Mutter bringen.«

Der Weg kam ihm erstaunlich kurz vor, obwohl sie langsam gingen. Das Glück erschien ihm unwirklich wie ein Traum.

Odette hatte einen Schlüssel zum Parktor, und sie traten ein.

»Weiß deine Mutter, daß du in Hertford bist?« fragte er plötzlich.

»Ja, ich war heute abend bei ihr, bevor ich dir folgte.«

»Weiß sie –«

Er wagte den Satz nicht zu beenden.

»Nein«, sagte Odette, »sie weiß es nicht. Und wenn sie es wüßte, würde ihr die schreckliche Gewißheit das Herz brechen. Sie liebt Milburgh. Er ist immer sehr zuvorkommend und aufmerksam zu ihr, und sie liebt ihn so sehr, daß sie ihm blindlings alle Erklärungen für sein geheimnisvolles Kommen und Gehen glaubt. Noch nie ist ein Verdacht in ihrem Herzen aufgestiegen.«

Sie waren an die Stelle gekommen, wo er die Ledertasche aufgehoben hatte. Das Haus lag im Dunkeln, nirgends konnte man ein Licht sehen.

»Wir wollen durch die Tür unter der Pfeilerhalle gehen. Das ist der Weg, auf dem Mr. Milburgh immer hereinkommt. Hast du eine Lampe?«

Er leuchtete ihr, daß sie das Schlüsselloch finden konnte. Sie wollte aufschließen, aber die Tür gab unter ihrem Druck nach und öffnete sich.

»Sie ist offen«, sagte sie erschrocken, »und ich bin ganz sicher, daß ich sie geschlossen habe.«

Tarling untersuchte das Schloß beim Schein seiner Taschenlampe und sah, daß ein kleines Stückchen Holz hineingeklemmt war, so daß das Schloß nicht einschnappen konnte.

»Wie lange warst du im Haus?« fragte er schnell.

»Nur ein paar Minuten.«

»Hast du denn die Tür geschlossen, als du ins Haus gingst?«

Odette dachte einen Augenblick nach.

»Vielleicht habe ich es auch vergessen«, meinte sie dann. »Natürlich, ich habe die Tür aufgelassen, ich bin ja gar nicht auf diesem Weg aus dem Haus gegangen, meine Mutter ließ mich durch die Vordertür hinaus.«

Tarling suchte mit seiner Lampe die Eingangshalle ab und sah im Hintergrund die Treppe, die mit einem dicken Läufer belegt war. Er ahnte, was sich zugetragen hatte. Jemand mußte gesehen haben, daß die Tür nur angelehnt war, weil der Betreffende, der ins Haus ging, schnell wieder zurückkommen wollte, und hatte ein Stück Holz in das Schloß geklemmt, damit die Tür nicht zuschlagen konnte.

»Was mag geschehen sein?« fragte sie besorgt.

»Nichts«, sagte Tarling leichthin. »Vielleicht hat es dein Stiefvater getan, weil er seinen Schlüssel verloren hat.«

»Dann hätte er doch durch die Vordertür gehen können«, meinte sie ängstlich.

»Ich werde vorausgehen«, sagte Tarling leicht, obwohl er selbst ein beklemmendes Gefühl hatte.

Vorsichtig ging er die Treppe hinauf, die Lampe in der einen Hand, eine Pistole in der anderen. Die Stufen führten auf einen geräumigen Vorplatz, der mit einem Geländer gegen das Treppenhaus abgeschlossen war. Hier sah er zwei Türen.

»Das ist das Zimmer meiner Mutter«, sagte Odette und zeigte auf die nächstliegende.

Es überkam sie ein Angstgefühl, und sie zitterte. Tarling legte seinen Arm um sie, um sie zu ermutigen. Er ging zu der Tür und drückte die Klinke vorsichtig nieder. Aber er fühlte ein Hindernis und stemmte sich gegen den Türflügel. Schließlich brachte er ihn so weit auf, daß er hindurchschauen konnte.

Auf dem Schreibtisch brannte eine Tischlampe. Sie hatten den Lichtschein von außen nicht sehen können, weil die Fenster durch schwere Vorhänge geschlossen waren. Aber er sah weder auf das Fenster noch auf den Schreibtisch. Sein Blick fiel auf den Fußboden.

Mrs. Rider lag auf dem Boden hinter der Tür. Ein leises Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen, aber aus ihrer Brust ragte in der Gegend des Herzens das Heft eines Dolches.

Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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