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18.

Tarling ging auf seinem Heimweg langsam die breite Edgware Road entlang. Er hielt den Kopf gesenkt und die Schultern vornübergeneigt. Er wollte nicht daran denken, daß er unter diesen Umständen selbst verdächtigt wurde. Er war ein verhältnismäßig unbekannter Detektiv, der vor einiger Zeit aus Schanghai gekommen war. Seine Verwandtschaft mit Thornton Lyne und die Tatsache, daß er sein einziger Erbe war, hatten ihn verdächtig gemacht. Obendrein war sein eigener Revolver am Tatort gefunden worden. Die höheren Beamten würden ihren Verdacht sicherlich nicht deshalb fallen lassen, weil er mit der Bearbeitung des Falles betraut war.

Er wußte nur zu gut, daß die ganze große Maschinerie von Scotland Yard in Bewegung gesetzt war und nun mit aller Energie daran arbeitete, ihn in diese Tragödie hineinzuziehen. Obwohl man wenig davon merkte, war er sich doch vollständig darüber klar. Aber er lächelte nur und ging mit einem Achselzucken darüber hinweg.

Der stärkste Verdacht fiel auf Odette Rider. Daß Thornton Lyne sie wirklich geliebt hatte, bildete Tarling sich nicht einen Augenblick ein. Lyne war keiner wahren Liebe fähig, sein Reichtum hatte es ihm leichtgemacht, und nur wenige Frauen hatten seinen Wünschen widerstanden. Odette Rider war eine Ausnahme gewesen. Tarling allein hatte die Szene geahnt, die sich zwischen Lyne und Odette an jenem Tag ereignete, als er seinen Besuch in der Firma machte. Aber es mußte auch schon mancher andere Auftritt vorausgegangen sein, der peinlich für das Mädchen und beschämend für den Toten war.

Immerhin war er froh über die Gewißheit, daß Odette nicht als Täterin in Frage kam. Er hatte sich seit einiger Zeit schon angewöhnt, sie in Gedanken nur noch Odette zu nennen, eine Entdeckung, über die er unter anderen Umständen gelächelt hätte. Er konnte sie vollständig ausschalten, denn es war unmöglich, daß sie an zwei Stellen zugleich sein konnte. Als Thornton Lyne im Hydepark aufgefunden wurde, lag sie bewußtlos in einem Hospital in Ashford, fünfzig Meilen vom Tatort entfernt.

Aber was sollte er von Milburgh, diesem kriechenden und glatten Menschen denken? Tarling erinnerte sich an die Tatsache, daß der verstorbene Lyne ihm die Aufgabe gestellt hatte, sich über Milburghs Lebensweise zu erkundigen. Milburgh stand unter dem dringenden Verdacht, die Firma um große Summen betrogen zu haben. Wenn Milburgh nun den Mord begangen hätte? Wäre es nicht möglich gewesen, daß er seinen Chef erschossen hatte, um seine Unterschlagungen zu verbergen? Aber das war ein Trugschluß. Denn Lynes Tod mußte ja die Untersuchung und Entdeckung seiner Veruntreuungen nur noch beschleunigen. Es lag doch auf der Hand, daß beim Tod des Geschäftsinhabers alle Bücher revidiert werden mußten und daß dann alles herauskam. Milburgh wußte das doch auch genau.

Aber auf der anderen Seite kam es häufig vor, daß Verbrecher die törichtsten und unsinnigsten Handlungen begingen. Sie überlegten sich oft kaum die Konsequenzen ihrer Taten, und ein Mann wie Milburgh war in seiner Verzweiflung vielleicht nicht imstande gewesen, alle Möglichkeiten zu übersehen, die ein solches Verbrechen heraufbeschwören konnte.

Als Tarling am Ende der Edgware Road angekommen war, wurde er plötzlich angerufen. Er wandte sich um und sah, daß ein Auto dicht an den Gehsteig fuhr. Inspektor Whiteside sprang heraus.

»Ich wollte gerade zu Ihnen fahren, um Sie zu sprechen. Ist Ihre Unterredung mit der jungen Dame jetzt beendet? Ich will nur noch den Chauffeur bezahlen. In der Direktion habe ich auch Ihren Chinesen gesehen. Vermutlich haben Sie ihn nur fortgeschickt, um ihn einige Zeit los zu sein? – Ich weiß, worüber Sie sich Gedanken machen«, fuhr Whiteside fort, »aber glauben Sie mir, der Chef hält die ganze Sache nur für ein merkwürdiges Zusammentreffen. Haben Sie Nachforschungen nach Ihrem Revolver angestellt?«

Tarling nickte.

»Haben Sie feststellen können, wie er in den Besitz des –«, er machte eine Pause, »Mörders von Thornton Lyne kam?«

»Ich habe eine Vermutung, aber sie ist noch nicht recht begründet.«

Ohne weiteres erzählte Tarling ihm von der Entdeckung, die er in Ling Chus Kiste gemacht hatte, von den Zeitungsausschnitten, die über Mr. Lynes Auftreten in Schanghai und die tragischen Folgen berichteten.

Whiteside hörte schweigend zu.

»Sicherlich steckt etwas dahinter«, sagte er schließlich, als Tarling seinen Bericht beendet hatte. »Ich habe schon verschiedenes von Ihrem Ling Chu gehört, er ist ein ganz tüchtiger Polizist.«

»Der beste Chinese, den ich je im Dienst gesehen habe«, entgegnete Tarling. »Aber ich kann nicht behaupten, daß ich seine Gedanken verstehe. Wir wollen uns einmal die Tatsache vergegenwärtigen. Der Revolver befand sich in meiner Kommode, und der einzige, der ihn nehmen konnte, war Ling Chu. Dazu kommt die zweite und viel wichtigere Tatsache, daß Ling Chu allen Grund hatte, Thornton Lyne zu hassen, der wenigstens indirekt für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Ich habe mir alles überlegt und kann mich jetzt darauf besinnen, daß Ling Chu ungewöhnlich schweigsam war, nachdem er Lyne gesehen hatte. Er erzählte mir auch, daß er in Lynes Warenhaus ging und dort Erkundigungen einzog. Wir sprachen nämlich über die Möglichkeit, daß Miss Rider den Mord begangen haben könnte, und Ling Chu erwähnte, daß sie nicht imstande sei, ein Automobil zu fahren. Als ich ihn fragte, woher er das wüßte, erzählte er, daß er in der Firma selbst Nachforschungen angestellt hätte. Ich wußte vorher nichts davon. Hinzu kommt noch eine andere merkwürdige Tatsache«, fuhr Tarling fort. »Ich hatte immer den Eindruck, daß Ling Chu nicht englisch sprechen könne, höchstens ein paar Worte Pidgin-Englisch, wie es die Chinesen dort unten in den Häfen sprechen, ein merkwürdiges Kauderwelsch. Aber er hat seine Nachforschungen in Lynes Warenhaus unter den Angestellten gemacht. Und man kann eine Million gegen eins wetten, daß er dort keine Verkäuferin gefunden hat, die kantonesisch spricht!«

»Ich werde ihn durch zwei Leute überwachen lassen«, meinte Whiteside, aber Tarling schüttelte den Kopf.

»Das würde eine unnötige Verschwendung von Kraft und Zeit sein, denn Ling Chu versteht es besser, solche Leute in die Irre zu führen, als irgendein Europäer. Er ist ein besserer Spürhund als irgend jemand, den wir in Scotland Yard haben, und er hat eine ganz besondere Begabung dafür, zu verschwinden oder sich unsichtbar zu machen, wenn Sie ihn beobachten. Überlassen Sie Ling Chu nur mir. Ich weiß mit ihm umzugehen«, fügte er grimmig hinzu.

»Die kleine Narzisse«, sagte Whiteside nachdenklich. »Das war doch der Name der kleinen Chinesin? Sollte das nicht mehr als nur ein bloßer Zufall sein? Was denken Sie darüber, Tarling?«

»Es kann sein und kann auch nicht sein«, sagte Tarling vorsichtig. »Es gibt im Chinesischen kein besonderes Wort für diese Blume. Und ich weiß nicht, ob die gelbe Narzisse in China heimisch ist. Aber China ist ja ein großes Land, und es wäre immerhin möglich. Es könnte tatsächlich mehr als eine bloße Zufälligkeit sein, daß der Mann, der das Mädchen so schwer beleidigte, ermordet wurde, während ihr Bruder in London ist.«

Während sie sprachen, überschritten sie die breite Fahrstraße und gingen in den Hydepark. Auf Tarling übte der Park merkwürdigerweise dieselbe Anziehungskraft aus wie auf Mr. Milburgh.

»Warum wollten Sie mich eigentlich sehen?« fragte er plötzlich, als er sich daran erinnerte, daß Whiteside auf dem Weg zum Hotel war, als sie sich trafen.

»Ich möchte Ihnen den letzten Bericht über Milburgh geben.«

Also wieder Milburgh! Alle Gespräche, alle Gedanken, alle Anzeichen führten zu diesem geheimnisvollen Mann. Was Whiteside erzählen konnte, war jedoch nicht besonders aufregend. Man hatte Milburgh Tag und Nacht beobachtet, und der Bericht über ihn war sehr prosaisch.

Aber es ist eine Erfahrungstatsache, daß man aus unscheinbaren Anlässen manchmal weittragende Schlußfolgerungen ziehen kann.

»Ich weiß nicht, was Milburgh von dem Ausgang der Bücherrevision erwartet«, sagte Whiteside, »offensichtlich ist er sehr daran interessiert oder erwartet, daß er dadurch verdächtigt werden könnte.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Tarling.

»Er kaufte große Geschäftsbücher.«

Tarling lachte.

»Das ist doch wohl keine strafwürdige Handlung«, meinte er. »Was waren es denn für Geschäftsbücher?«

»Es waren diese ganz großen, schweren Hauptbücher, wie sie nur in den allergrößten Geschäften gebraucht werden. Sie sind so schwer, daß ein Mann sie gerade noch tragen kann. Er hat merkwürdigerweise drei solche Folianten in der City Road gekauft und sie dann in einem Mietauto in seine Privatwohnung gebracht. Ich vermute nun«, sagte Whiteside ernst, »daß dieser Mann kein gewöhnlicher Verbrecher ist, wenn man ihm überhaupt ein Verbrechen nachweisen kann. Es ist möglich, daß er zu Hause doppelte Bücher führt.«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, unterbrach ihn Tarling. »Ich sage das, obwohl ich vor Ihrem Scharfsinn die größte Hochachtung habe. Es gehört mehr als Menschenkraft dazu, all die vielen Einzelheiten solch eines Riesengeschäftes im Kopf zu behalten. Es ist eher anzunehmen, daß er die Absicht hat, zu einer anderen Firma zu gehen oder ein eigenes Geschäft anzufangen. Immerhin ist es kein Verbrechen, ein dickes Geschäftsbuch oder drei solche Bände zu besitzen. Wann hat er sie denn gekauft?«

»Gestern morgen in aller Frühe, bevor die Firma Lyne geöffnet wurde – haben Sie irgendwelche Neuigkeiten durch das Gespräch mit Miss Rider erfahren?«

Tarling zuckte die Schultern. Er fühlte eine heftige Abneigung, mit diesem Mann über Odette zu sprechen. Aber er wurde sich im Augenblick bewußt, wie unverzeihlich und töricht es von ihm war, sich von der Schönheit dieses Mädchens irgendwie beeinflussen zu lassen.

»Ich bin davon überzeugt, daß sie von dem Mord selbst nichts weiß, wen sie auch immer verdächtigen mag«, sagte er kurz.

»Sie verdächtigt also jemand?«

Tarling nickte.

»Wen?«

Wieder zögerte Tarling.

»Ich vermute, daß es Milburgh ist.«

Er zog einen schmalen Kasten aus seiner Tasche und entnahm ihm die beiden Kartons mit den Fingerabdrücken von Odette Rider. Es kostete ihn große Willensanstrengung, dies zu tun.

»Hier sind die Fingerabdrücke, die Sie haben wollten.«

Whiteside nahm die Karten in die Hand und betrachtete sie genau. Tarling war sehr erregt, denn Inspektor Whiteside war die größte Autorität für Fingerabdrücke im Polizeipräsidium.

Die Untersuchung dauerte lange.

Tarling erinnerte sich noch viele Jahre später an die verschiedenen Einzelheiten, an den sonnenbeschienenen Weg, die vielen müßigen Spaziergänger, die Wagen, die den Weg heraufkamen, an die aufrechte Gestalt Whitesides, der die beiden Karten in der Hand hielt und sie unablässig betrachtete.

»Das ist sehr interessant«, begann Whiteside. »Sie sehen, daß die beiden Abdrücke der Daumen fast gleich sind – das ist eine außerordentliche Seltenheit.«

»Nun, und?« fragte Tarling ungeduldig, fast böse.

»Sehr interessant«, wiederholte Whiteside. »Aber keiner dieser beiden Abdrücke stimmt mit denen auf der Kommodenschublade überein.«

»Gott sei Dank!« rief Tarling erleichtert. »Gott sei Dank!«

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