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29.

In diesem Augenblick trat Ling Chu wieder in das Zimmer. Seine Gesichtszüge waren undurchsichtig wie immer. Er brachte stets eine eigenartig geheimnisvolle Atmosphäre mit sich.

»Nun?« fragte Tarling. »Was hast du entdeckt?«

Selbst Whiteside horchte auf, obwohl er den Fall von sich aus als geklärt betrachtete.

»Zwei Leute kamen in der letzten Nacht die Treppe herauf«, sagte Ling Chu. »Auch mein Herr.« Er schaute auf Tarling, der zur Bestätigung nickte. »Die Fußspuren meines Herrn sind klar«, fuhr er fort, »ebenso diejenigen der kleinen, jungen Frau, auch die nackten Füße.«

»Hast du Spuren von nackten Füßen bemerkt?« fragte Tarling, und Ling Chu bestätigte es.

»War es ein Mann oder eine Frau?« forschte Whiteside.

»Das kann ich nicht entscheiden«, entgegnete der Chinese, »aber die Füße waren verletzt und bluteten. Draußen auf den kiesbestreuten Wegen sind Blutspuren.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Whiteside scharf.

»Unterbrechen Sie ihn nicht«, warnte Tarling.

»Eine Frau ging in das Haus und kam wieder heraus –«, fuhr Ling Chu fort.

»Das war Miss Rider.«

»Dann kamen eine Frau und ein Mann, später die barfüßige Person, denn die Blutspuren sind über den Abdrücken der ersteren.«

»Woher wissen Sie aber, welche Spuren von der ersten Frau und welche von der zweiten herrühren?« Whitesides Interesse war trotz der ablehnenden Haltung erwacht.

»Die Füße der ersten Frau waren naß«, erwiderte Ling Chu.

»Aber es hat doch nicht geregnet«, sagte der Polizeiinspektor.

»Sie stand auf dem Gras«, erklärte Ling Chu, und Tarling nickte bestätigend. Er erinnerte sich daran, daß Odette im Schatten der Büsche auf dem Rasen gestanden und sein Abenteuer mit Milburgh beobachtet hatte.

»Aber eines kann ich nicht verstehen, Herr«, sagte Ling Chu. »Es sind noch Fußstapfen von einer anderen Frau da, die ich auf der Treppe in der Halle nicht entdecken konnte. Diese Frau wanderte um das ganze Haus herum. Soviel ich feststellen kann, hat sie zweimal die ganze Runde gemacht. Dann ging sie in den Garten und zwischen den Bäumen hindurch.«

Tarling starrte ihn verwundert an.

»Miss Rider ging aus dem Haus auf die Straße«, sagte er, »und folgte mir später nach Hertford.«

»Ich habe aber außerdem noch die Fußspuren einer Frau entdeckt, die um das Haus herumgegangen ist«, erwiderte Ling Chu hartnäckig. »Und deshalb glaube ich auch, daß die Person, die mit nackten Füßen hier herumging, eine Frau war ...«

»Sind noch Spuren von Männern außer uns dreien vorhanden?«

»Das wollte ich eben erklären«, sagte Ling Chu. »Ich habe noch eine sehr schwache Spur von einem Mann entdeckt, der ziemlich früh kam. Die nassen Fußspuren bedecken die seinen. Er ist auch wieder fortgegangen, aber ich habe keine Spur von ihm auf dem Kies entdeckt, nur die Spur eines Fahrrades.«

»Das war also Milburgh«, ergänzte Tarling.

Ling Chu berichtete weiter: »Die Fußspuren der Frau, die um das Haus herumgehen, sind so schwer für mich zu erklären, weil ich sie nicht auf der Treppe finden kann. Und doch weiß ich, daß sie aus dem Haus herauskamen, ich kann sie genau in der Richtung von der Tür aus verfolgen. Kommen Sie bitte mit mir herunter, damit ich es zeigen kann.«

Er führte die beiden in den Garten. Whiteside bemerkte erst jetzt, daß der Chinese barfuß war.

»Haben Sie nicht vielleicht Ihre eigenen Spuren mit denen anderer Leute verwechselt?« fragte er scherzend.

»Ich habe meine Schuhe dort draußen hinter der Tür gelassen, weil es so viel leichter für mich ist, zu arbeiten«, sagte Ling Chu. Dann ging er wieder zur Tür und zog seine Schuhe an.

Er führte die beiden auf die Seite des Hauses und zeigte ihnen dort deutliche Spuren, die zweifellos von einer Frau stammten. Diese Spuren führten um das ganze Haus herum. Merkwürdigerweise waren sie vor allen Fenstern deutlicher wahrzunehmen, als ob dieser geheimnisvolle Besucher über die Gartenmauer gestiegen wäre und versucht hätte, irgendwo einen Eingang in das Haus zu finden.

»Was hältst du nun von allem, Ling Chu?« fragte Tarling.

»Jemand kam in das Haus, indem er sich durch die hintere Tür schlich und die Treppe hinaufstieg. Zuerst hat dieser Eindringling den Mord begangen, dann hatte er das ganze Haus durchsucht. Aber er konnte nicht mehr durch die Tür.«

»Da hat er recht«, sagte Whiteside. »Sie meinen doch damit die Tür, die von diesem Gebäudeflügel in das eigentliche Haus führt. Die war doch verschlossen, Tarling, als Sie den Mord entdeckten?«

»Jawohl«, sagte Tarling. »Die Tür war fest verschlossen.«

»Als sie merkten, daß sie nicht ins Haus hereinkommen konnten«, fuhr Ling Chu fort, »versuchten sie durch eins der Fenster einzudringen.«

»Sie – sie?« fragte Tarling ungeduldig. »Ling Chu, wer soll das denn sein? Meinst du die Frau?«

Diese neue Behauptung Ling Chus war wirklich verwirrend. Tarling hatte den zweiten Teilnehmer an dieser Tragödie erkannt – ein brauner Flecken auf dem Rücken seiner Hand erinnerte ihn deutlich an dessen Existenz. Wer war nun aber die dritte Person?

»Ich meine die Frau«, erwiderte Ling Chu ruhig.

»Aber wer wollte denn um Himmels willen noch in das Haus, nachdem er Mrs. Rider ermordet hatte?« fragte Whiteside nervös. »Ihre Theorie widerspricht der klaren Vernunft, Ling Chu. Wenn jemand einen Mord begangen hat, dann ist er eifrig bestrebt, sich so bald als möglich und so weit als möglich von dem Tatort zu entfernen.«

Ling Chu antwortete nicht.

»Wie viele Leute sind denn an diesem Mord beteiligt?« fragte Tarling. »Ein barfüßiger Mann oder Frau kam ins Haus und tötete Mrs. Rider. Eine zweite Person machte die Runde um das Haus und versuchte, durch eins der Fenster einzudringen –«

»Ich kann nicht genau sagen, ob es eine oder zwei Personen waren«, antwortete Ling Chu.

Tarling durchsuchte den hinteren Gebäudeteil noch einmal genau. Er war von dem übrigen Haus getrennt. Offensichtlich war alles so eingerichtet, damit Mr. Milburgh nicht gesehen werden konnte, wenn er seine Besuche in Hertford machte. Dieser Gebäudeteil bestand, aus drei Räumen: einem Schlafzimmer, das neben dem Wohnzimmer lag und offensichtlich von Mrs. Rider bewohnt wurde, denn man hatte ihre Kleider in dem Kleiderschrank gefunden, einem Wohnzimmer, in dem der Mord begangen wurde, und drittens dem Reserveschlafzimmer, durch das er mit Odette nach der Galerie der vorderen Eingangshalle gegangen war.

Das war auch die Tür, die die einzige Verbindung zu dem übrigen Haus darstellte.

»Wir können weiter nichts tun, als die Sache der Ortspolizei überlassen und nach London zurückkehren«, sagte Tarling, als seine Nachforschungen beendet waren.

»Und Milburgh verhaften«, meinte Whiteside. »Halten Sie Ling Chus Erklärung für richtig?«

Tarling schüttelte den Kopf.

»Ich möchte sie nicht gerade verwerfen, denn Ling Chu ist ein erstaunlich schlauer und umsichtiger Detektiv. Er ist imstande, Fußspuren, die für andere Leute vollkommen unsichtbar sind, zu verfolgen. Ich habe früher mit seiner Hilfe in China die allergrößten Erfolge gehabt.«

Sie kehrten im Auto nach der Stadt zurück. Ling Chu saß während der Fahrt neben dem Chauffeur und rauchte dauernd Zigaretten. Tarling sprach unterwegs wenig, seine Gedanken waren vollständig mit den letzten geheimnisvollen Ereignissen beschäftigt, für die er selbst noch keine Erklärung gefunden hatte.

Auf dem Weg durch London kamen sie an dem Hospital vorbei, in dem Odette Rider lag. Er ließ den Wagen halten, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und erfuhr, daß sie sich von dem harten Schlag wieder einigermaßen erholt hatte. Sie lag in tiefem Schlaf.

»Das ist das beste für sie«, erklärte er, als er zu Whiteside zurückkam, »ich hatte schon große Sorge um sie.«

»Sie interessieren sich anscheinend für Miss Rider außerordentlich stark?«

Tarling war zuerst unangenehm berührt, lachte dann aber.

»O ja, ich interessiere mich für sie«, gab er zu, »aber das ist ja auch ganz natürlich.«

»Wieso natürlich?«

»Weil Miss Rider meine Frau werden wird«, erklärte er nachdrücklich.

»Ach so«, sagte Whiteside erstaunt und schwieg dann.

Der Haftbefehl für Milburgh war schon ausgefertigt und wurde Whiteside zur Durchführung übergeben, als sie in Scotland Yard ankamen.

»Wir werden ihm keine Zeit lassen«, sagte der Polizeiinspektor. »Ich fürchte, es glückt ihm immer alles zu gut – hoffentlich treffen wir ihn noch zu Hause an.«

Das Haus in Camden Town war leer, wie Whiteside vermutet hatte. Die Aufwartefrau, die jeden Morgen kam, wartete noch geduldig vor dem eisernen Tor. Sie erzählte ihm, daß Mr. Milburgh sie gewöhnlich um halb neun hereinließ. Selbst wenn er verreist gewesen war, kam er doch stets vor dieser Zeit wieder zurück.

Whiteside öffnete das Schloß mit einem Dietrich, obwohl die Aufwartefrau im Interesse ihres Dienstherrn protestierte. Die Haustür selbst war viel schwieriger zu öffnen, denn sie war mit einem Patentschloß versehen. Tarling ließ sich aber dadurch nicht weiter aufhalten, sondern schlug eine Fensterscheibe ein.

»Hören Sie das?«

Ein schrilles Läuten erscholl im selben Moment, als die Fensterscheiben zerschlagen wurden.

»Diebsalarm«, sagte Tarling kurz, zog die Fensterriegel zurück und öffnete das Fenster. Dann stieg er hinein und kam in das Zimmer, in dem er damals mit Milburgh gesprochen hatte.

Das Haus war leer. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und durchsuchten Schränke und Kommoden. In einer der letzten machte Tarling eine Entdeckung. Es waren ein paar glitzernde Spuren eines Pulvers, die er auf seine Hand schüttete.

»Wenn das nicht Thermit ist, will ich mich hängen lassen«, sagte er. »Auf jeden Fall können wir Mr. Milburgh Brandstiftung nachweisen, wenn es uns nicht gelingt, ihn wegen Mordes zu fassen. Senden Sie es, bitte, zum Regierungschemiker, Whiteside. Wenn Milburgh Thornton Lyne nicht umgebracht hat, so hat er doch sicher das Haus der Firma Dashwood & Solomon in Brand gesteckt, um die Beweise seiner Unterschlagungen zu vernichten.«

Whiteside machte die zweite Entdeckung. Mr. Milburgh besaß ein großes Bett.

»Das ist ein an Luxus gewöhnter Teufel«, sagte Whiteside. »Sehen Sie doch mal, wie stark diese Sprungfedermatratze ist.«

Er untersuchte das Bett genauer und wandte sich dann mit einem erstaunten Gesicht um. »Die Konstruktion ist hier etwas zu massig für eine Matratze.« Er schlug die Bettgardinen zurück, um genauer prüfen zu können. An der Seite entdeckte er eine kleine runde Öffnung. Sofort nahm er sein Taschenmesser heraus, klappte es auf, steckte die schmale Klinge hinein und drückte dagegen. Ein leichtes Knacken ertönte, und zwei Türen sprangen auf. Sie waren ähnlich wie die Türen eines Grammophons, die den Schall dämpfen sollen.

Whiteside tastete mit der Hand hinein und zog etwas heraus.

»Bücher«, sagte er zunächst enttäuscht, aber er betrachtete sie doch näher. Plötzlich hellten sich seine Züge auf. »Das sind ja Tagebücher! Ich möchte nur wissen, ob dieser Kerl tatsächlich Tagebuch geführt hat?«

Er legte die Bände aufs Bett. Tarling nahm einen in die Hand und schlug ihn auf.

»Das sind ja Thornton Lynes Tagebücher! Die können uns vielleicht nützliche Aufschlüsse geben.«

Einer der Bände war verschlossen! Es war der letzte in der Reihe, und man sah deutlich, daß versucht worden war, ihn zu öffnen. Mr. Milburgh hatte es tatsächlich auch probiert, da er aber eine systematische Lektüre dieser Bücher vornehmen wollte, war es leicht möglich, daß er ihn zunächst beiseite gelegt hatte.

»Ist sonst noch etwas in dem Versteck?« fragte Tarling.

»Nein«, erwiderte der Polizeiinspektor enttäuscht. »Aber vielleicht sind noch mehrere Fächer da.«

Sie suchten beide eifrig, fanden aber nichts mehr.

»Wir können hier nichts weiter tun«, sagte Tarling. »Lassen Sie einen Ihrer Leute hier auf Posten für den Fall, daß Milburgh zurückkommen sollte. Ich persönlich glaube nicht daran, daß er noch einmal hier auftaucht.«

»Glauben Sie, daß ihn Miss Rider überrascht hat?«

»Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Tarling. »Ich werde jetzt noch zu dem Geschäftshaus fahren, aber er wird sich dort ebensowenig aufhalten wie hier.«

Mit dieser Vermutung hatte er recht. Niemand in dem großen Warenhaus hatte den Geschäftsführer gesehen oder konnte über seinen Verbleib Auskunft geben. Milburgh war verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen.

Scotland Yard gab seine Personenbeschreibung sofort allen Polizeistationen bekannt. Innerhalb vierundzwanzig Stunden kannte jeder Polizist die Fotografie und das Signalement des Gesuchten. Und wenn er das Land noch nicht verlassen hatte, war seine Verhaftung unvermeidlich.

Um fünf Uhr nachmittags fand man einen neuen Anhaltspunkt. Ein paar Damenschuhe, die abgetragen und beschmutzt waren, wurden in einem Graben an der Landstraße nach Hertford gefunden. Die Stelle lag vier Meilen von Mrs. Riders Haus entfernt. Der Chef der Hertford-Polizei hatte die Nachricht telefonisch nach Scotland Yard durchgegeben und die Schuhe durch einen besonderen Boten zur Polizeidirektion geschickt.

Abends um halb acht Uhr wurde das Paket auf Tarlings Schreibtisch gelegt.

Er öffnete sofort den Karton und fand ein Paar abgetragene Morgenschuhe darin, die sehr zerrissen waren, doch einmal bessere Tage gesehen hatten.

»Sie gehörten einer Frau, sehen Sie sich die spitzen Absätze an.«

Whiteside nahm einen Schuh in die Hand.

»Hier«, sagte er plötzlich und zeigte auf das helle Futter der Schuhe. »Diese Blutflecken bestätigen Ling Chus Annahme. Die Füße der Person, die sie getragen hat, waren verletzt und bluteten.«

Tarling besichtigte die Schuhe und nickte. Er hob das Zungenleder in die Höhe, um den Stempel der Firma zu entdecken. Aber plötzlich ließ er den Schuh fallen.

»Was ist denn los?« fragte Whiteside und hob ihn wieder auf.

Er starrte auf das Innere, dann lachte er nervös auf. Es war ein kleines ledernes Etikett dort aufgeklebt, das den Namen einer bekannten Londoner Schuhfirma trug. Darunter stand mit Tinte geschrieben ›O. Rider‹.

Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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