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20.

Es war schwer, Ling Chus Geschichte zu glauben. Man konnte eher annehmen, daß er log. Es gibt auf der Welt keinen geschickteren Erfinder im Erzählen als den Chinesen. Er geht umständlich, eingehend und genau in alle Einzelheiten und hat eine angeborene Gabe, Geschichten zu erdenken und zu ersinnen und die Fäden gewandt miteinander zu verweben. Aber Tarling war davon überzeugt, daß Ling Chu ihm die Wahrheit gesagt hatte, denn er hatte frei und offen gesprochen, er hatte sich sogar in Tarlings Hand gegeben, als er seine Absicht eingestand, Lyne zu ermorden.

Tarling konnte sich vorstellen, was sich ereignet hatte, nachdem der Chinese fortgegangen war. Milburgh hatte sich im Dunkeln vorwärts getastet, ein Streichholz angesteckt und gesehen, daß der Stecker aus der Wand gezogen war. Er hatte dann die elektrische Verbindung wiederhergestellt und zu seiner größten Verwunderung die Waffe auf dem Tisch liegen sehen. Vielleicht hatte er auch geglaubt, daß er sie vorher übersehen hatte.

Was mochte nun aber mit der Pistole geschehen sein, seitdem sie Ling Chu auf Thornton Lynes Schreibtisch hatte liegenlassen, bis zu dem Augenblick, als sie in Odette Riders Nähkorb entdeckt wurde? Eine weitere Frage war, was Milburgh so spät am Abend noch im Geschäft zu suchen hatte, besonders in Lynes Privatbüro? Es war unwahrscheinlich, daß Lyne seinen Schreibtisch unverschlossen ließ. Milburgh mußte ihn selbst geöffnet haben, um ihn zu durchsuchen.

Warum hatte er das Kuvert mit den roten chinesischen Zetteln genommen? Daß Thornton Lyne diese Dinge in seinem Schreibtisch aufbewahrte, war leicht zu erklären. Als Globetrotter hatte er Kuriositäten gesammelt und auch diese Papiere gekauft, die man damals in allen größeren chinesischen Städten als Andenken an die Räuberbande der ›Freudigen Herzen‹ haben konnte.

Seine Unterredung mit Ling Chu mußte er jedenfalls in Scotland Yard berichten, und diese hohe Behörde würde wohl ihre eigenen Schlußfolgerungen daraus ziehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie wenig günstig für Ling Chu ausfallen, der hierdurch unmittelbar verdächtigt würde.

Tarling war jedoch durch die Erzählung zufriedengestellt – oder richtiger: er glaubte sich zufriedengestellt. Er konnte ja einige Angaben nachprüfen und begab sich daher sofort in Lynes Warenhaus. Die Lage des Hauses stimmte mit allem überein, was Ling Chu gesagt hatte. Tarling ging auf die Rückseite des großen Gebäudes in die kleine ruhige Straße und fand dort auch die eiserne Regenröhre, an der Ling Chu in die Höhe geklettert war. Es mußte ihm leichtgefallen sein, denn er konnte klettern wie eine Katze. Tarling hatte gar keinen Grund, an diesem Teil der Geschichte zu zweifeln.

Er ging zur vorderen Seite des Gebäudes und trat durch die große Glastür ein. Es standen viele Leute vor den Schaufenstern, denn durch die Mordgeschichte hatte das Geschäft eine traurige Berühmtheit erlangt. Er fand Mr. Milburgh in seinem Büro, das viel größer, aber weniger luxuriös als das von Mr. Lyne eingerichtet war. Er begrüßte Tarling, schob ihm einen Sessel hin und bot ihm eine Zigarre an.

»Wir sind in einer unangenehmen Lage, Mr. Tarling«, sagte er mit seiner schmeichlerischen Stimme. Das konventionelle Lächeln, das man immer an ihm beobachten konnte, lag auf seinem Gesicht. »Unsere Bücher sind zur Revision fortgebracht worden, und dadurch ist mir die Geschäftsführung sehr erschwert. Wir haben eine provisorische Buchführung einrichten müssen, und Sie werden wohl verstehen, welche Schwierigkeiten das für einen Geschäftsmann mit sich bringt.«

»Sie arbeiten sehr viel, Mr. Milburgh?«

»O ja, ich habe immer angestrengt arbeiten müssen.«

»Sie waren auch vor Lynes Tod sehr fleißig?«

»Ja, das kann ich wohl behaupten.«

»Bis spät in die Nacht?«

Milburgh lächelte noch immer, aber es war jetzt ein merkwürdiger scheuer Blick in seinen Augen.

»Ich habe häufig bis spät abends gearbeitet.«

»Können Sie sich an den Abend des 11. dieses Monats erinnern?« fragte Tarling.

Milburgh schaute zur Decke, als ob er tief nachdächte.

»Ja, ich glaube. Ich muß den Abend sehr spät bei der Arbeit gewesen sein.«

»In Ihrem eigenen Büro?«

»Nein, ich habe meistens in Mr. Lynes Büro gearbeitet – auf dessen eigene Anregung hin«, fügte er hinzu. Das war allerdings eine kühne Behauptung, denn Tarling wußte nur zu genau, daß Lyne ihn stark verdächtigt hatte.

»Hat er Ihnen denn auch die Schlüssel zu seinem eigenen Schreibtisch gegeben?« fragte Tarling trocken.

»Jawohl, Mr. Tarling«, erwiderte Milburgh mit einer leichten Verbeugung. »Sie können daraus ersehen, daß Mr. Lyne mir in jeder Weise vertraute.«

Das sagte er so überzeugend, daß Tarling verblüfft war.

»Ja, ich kann wohl sagen, daß Mr. Lyne mir vor allen anderen vertraut hat. Er erzählte mir soviel aus seinem eigenen Leben und von sich selbst, mehr als irgendeinem anderen. Und –«

»Einen Augenblick«, entgegnete Tarling langsam. »Wollen Sie mir bitte sagen, was Sie mit dem Revolver taten, den Sie auf Mr. Lynes Schreibtisch fanden? Es war eine automatische Pistole, und sie war geladen.«

Mr. Milburgh schaute erstaunt auf.

»Eine geladene Pistole?« fragte er und runzelte die Stirn. »Aber mein lieber, guter Tarling, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich habe niemals eine geladene Pistole auf seinem Schreibtisch gesehen. Mr. Lyne verabscheute ebenso wie ich solche gefährliche Waffen.«

Das ganze Verhalten Milburghs brachte Tarling aus dem Konzept, er ließ sich jedoch nicht das geringste merken, daß er ärgerlich oder erstaunt war. Milburgh saß nachdenklich da, als ob er sich an irgend etwas erinnern wollte.

»Am Ende glaubten Sie neulich abends«, sagte er stockend, »als Sie mein Haus durchsuchten, eine solche Waffe zu finden!«

»Das ist leicht möglich und auch wahrscheinlich«, erwiderte Tarling kühl. »Nun werde ich Ihnen gegenüber einmal ganz offen sein, Mr. Milburgh. Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie sehr viel mehr von diesem Mord wissen, als Sie uns gesagt haben, und daß Sie über Mr. Lynes Tod viel befriedigter sind, als Sie im Augenblick zugeben. Lassen Sie mich erst zu Ende sprechen«, sagte er, als der andere sprechen wollte. »Ich möchte Ihnen noch etwas anderes erzählen. Als ich zum erstenmal dieses Warenhaus betrat, war ich beauftragt, Sie zu beaufsichtigen. Das war nun zwar weniger die Aufgabe eines Detektivs als eines Bücherrevisors. Aber Mr. Lyne hat mir damals den Auftrag gegeben, herauszubringen, wer die Firma betrog.«

»Und haben Sie es herausgebracht?« fragte Milburgh kühl. Immer noch spielte das fade Lächeln um seine Lippen, aber seine Augen verrieten ängstliches Mißtrauen.

»Nein, ich habe mich nicht weiter mit der Sache befaßt, nachdem Sie in Übereinstimmung mit Mr. Lyne erklärten, daß die Firma durch Odette Rider bestohlen wurde.«

Er sah, daß Milburgh erbleichte, und war mit dem Erfolg zufrieden.

»Ich will nicht zu sehr nach den Gründen forschen, die Sie veranlaßten, ein unschuldiges Mädchen zu ruinieren«, sagte Tarling streng. »Das ist eine Sache, die Sie mit Ihrem eigenen Gewissen abzumachen haben. Aber ich kann Ihnen nur sagen, Mr. Milburgh, wenn Sie unschuldig sind – sowohl an dem Verschwinden des Geldes als auch an diesem Mord –, dann habe ich niemals einen schuldigen Menschen gesehen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Milburgh laut. »Wagen Sie es, mich anzuklagen –?«

»Ich klage Sie an, und ich bin restlos davon überzeugt, daß Sie die Firma seit Jahren bestohlen haben, ferner bin ich davon überzeugt, daß Sie wissen, wer der Täter ist, wenn Sie nicht selbst Mr. Lyne getötet haben.«

»Sie sind wahnsinnig!« rief Milburgh mit schriller Stimme, aber sein Gesicht war kreidebleich. »Angenommen, es wäre wahr, daß ich die Firma beraubt hätte, warum hätte ich dann Mr. Lyne ermorden sollen? Die bloße Tatsache seines Todes mußte doch sofort eine Revision der Bücher zur Folge haben.«

Das war ein überzeugender Grund, den sich Tarling schon selbst vorgelegt hatte.

»Was nun Ihre niederträchtige und absurde Anklage betrifft, daß ich die Firma bestohlen haben soll, so sind augenblicklich alle Bücher in den Händen einer hervorragenden Firma, die alle Unterlagen genau prüfen und alle diese Behauptungen Lügen strafen wird.«

Er hatte seine Fassung wiedererlangt und stand nun breitbeinig da, die Daumen leger in die Armlöcher der Weste gesteckt, und blickte liebenswürdig lächelnd auf den Detektiv herab.

»Ich kann auf das Resultat der Buchrevision mit ruhigem Gewissen warten. Meine Ehrenhaftigkeit wird dann über allen Zweifel erhaben sein.«

Tarling schaute ihn groß an.

»Ich bewundere Ihre Kühnheit«, sagte er und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.

Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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