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30.

Die Oberin des Krankenhauses empfing Mr. Tarling. Sie sagte ihm, daß Odette sich wieder erholt habe, aber noch einige Zeit der Ruhe bedürfe, und schlug vor, sie einige Zeit aufs Land zu schicken.

»Ich möchte Ihnen raten, sie nicht so sehr mit Fragen zu belästigen, Mr. Tarling«, sagte die ältere Dame, »denn sie kann noch keine großen Aufregungen vertragen.«

»Ich habe nur eine Frage an sie zu richten«, sagte der Detektiv grimmig.

Er fand Odette in einem behaglichen Krankenzimmer.

Er neigte sich herab und küßte sie, dann zog er ohne weitere Umschweife den Schuh aus der Tasche.

»Liebe Odette, ist das dein Schuh?«

Sie warf nur einen Blick darauf und nickte.

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Bist du auch sicher, daß er dir gehört?«

»Natürlich«, sagte sie lächelnd. »Das sind meine alten Morgenschuhe, die ich immer zu Hause trug. Aber warum fragst du mich danach?«

»Wo hast du die Schuhe zuletzt gesehen?«

Das Mädchen schloß die Augen und zitterte.

»In Mutters Zimmer. O Mutter! Mutter!«

Sie drückte ihr Gesicht in die Kissen und weinte. Tarling streichelte ihre Hände und versuchte sie zu beruhigen.

Es dauerte einige Zeit, bevor sie sich wieder gefaßt hatte. Aber sie konnte keine weiteren Erklärungen geben.

»Mutter hatte die Schuhe so gern. Wir hatten beide dieselbe Größe ...«

Sie konnte nicht weitersprechen vor Schluchzen, und Tarling versuchte, das Gespräch auf andere Dinge zu bringen. Mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, daß Ling Chus Theorie richtig war, obwohl Tarling nicht alle Tatsachen, die er entdeckt hatte, mit ihr in Übereinstimmung bringen konnte. Auf seinem Weg zur Polizeidirektion dachte er eifrig darüber nach, wie man diese Widersprüche auflösen könnte.

Jemand war mit bloßen Füßen ins Haus gekommen, seine Füße bluteten, und nachdem er den Mord begangen hatte, sah er sich nach ein Paar Schuhen um. Der Mörder, mochte es nun ein Mann oder eine Frau sein, entdeckte die alten Morgenschuhe, zog sie an und ging dann hinaus, nachdem er vorher das Haus durchsucht hatte. Es blieb aber noch immer die Frage offen, warum diese geheimnisvolle Person den Versuch gemacht hatte, wieder in das Haus zu kommen und was sie dort suchte.

Wenn Ling Chu recht hatte, konnte Milburgh offensichtlich nicht der Mörder sein. Wenn er der scharfen Beobachtungsgabe des Chinesen trauen konnte, dann war der Mann mit den kleinen Füßen derselbe, der ihn höhnisch verlacht und die Vitriolflasche nach ihm geworfen hatte. Er teilte Whiteside diese Schlußfolgerungen mit, der ihm darin recht gab.

»Aber daraus folgt doch immer noch nicht«, erklärte Whiteside, »daß die Person mit den bloßen Füßen, die offensichtlich in Mrs. Riders Haus eingedrungen war, den Mord beging. Meiner Meinung nach ist Milburgh der Täter. Wir wollen nicht darüber streiten, aber es besteht doch kaum ein Zweifel, daß er Lyne ermordet hat.«

»Ich glaube, ich weiß jetzt, wer den Mord an Lyne begangen hat«, sagte Tarling fest. »Ich habe mir alles genau überlegt und bin jetzt ins reine gekommen. Sie würden meine Theorie als zu phantastisch ablehnen.«

»Wen halten Sie denn für den Mörder?« fragte Whiteside, aber Tarling schüttelte den Kopf.

Er hielt den Augenblick noch nicht für geeignet, seine Hypothese bekanntzugeben.

Whiteside lehnte sich in seinen Sessel zurück und dachte einige Augenblicke scharf nach.

»Der Fall ist von Anfang an voller Widersprüche. Thornton Lyne war ein reicher Mann – nebenbei bemerkt sind Sie es jetzt auch, Tarling. Und deswegen müßte ich Sie eigentlich mit großem Respekt behandeln.«

»Fahren Sie nur fort«, sagte Tarling lächelnd.

»Lyne hatte merkwürdige Liebhabereien – er war ein schlechter Poet, wie aus seinem kleinen Gedichtband ja zur Genüge hervorgeht. Er war ein Mann, der Extravaganzen liebte. Beweis dafür ist die Art und Weise, wie er sich Sam Stays annahm, der, wie Sie vielleicht erfahren haben, aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist.«

»Ich weiß es«, sagte Tarling. »Sprechen Sie nur weiter.«

»Lyne verliebte sich in ein hübsches junges Mädchen, das in seiner Firma angestellt ist. Er war gewöhnt, daß alle seine Wünsche erfüllt wurden und daß alle Frauen ihm zu Willen waren, wenn er sie begehrte. Dieses Mädchen lehnte seine Anträge ab, und infolge dieser Demütigung empfand er einen unbändigen Haß gegen sie.«

»Aber ich sehe noch immer nicht, welche Widersprüche Sie meinen?« entgegnete Tarling in scherzhaftem Ton.

»Dazu komme ich jetzt. Das war Nummer eins. Der zweite ist Mr. Milburgh, ein salbungsvoller Mensch, der die Firma schon seit vielen Jahren betrogen und bestohlen hat und in Hertford auf großem Fuß von all den Geldern lebte, die er auf so unredliche Weise erwarb. Aus allem, was er hört oder erfährt, weiß er, daß man ihm mißtraut und daß es ihm an den Kragen gehen wird. Er ist verzweifelt, als er begreift, daß Thornton Lyne sich sterblich in seine Stieftochter verliebt hat. Was liegt näher, als daß er sie dazu benützt, um Thornton Lyne in seinem Sinne zu beeinflussen?«

»Meiner Meinung nach«, unterbrach ihn Tarling, »müßte er eher versuchen, die ganze Verantwortung für alle Diebstähle im Geschäft dem jungen Mädchen in die Schuhe zu schieben, unter der Voraussetzung, daß sie durch ihr Entgegenkommen ihrem Chef gegenüber der Strafe entgehen kann.«

»Auch das kann richtig sein, ich will diese Möglichkeit nicht von der Hand weisen«, entgegnete Whiteside. »Milburgh lag daran, unter günstigen Umständen eine Privatunterhaltung mit Thornton Lyne zu führen. Er schickt deshalb ein Telegramm an seinen Chef mit der Bitte, nach Miss Riders Wohnung zu kommen, und verläßt sich darauf, daß die Aussicht auf dieses galante Abenteuer seine Wirkung nicht verfehlen wird.«

»Und Thornton Lyne kommt in Filzschuhen?« fragte Tarling sarkastisch. »Nein, Whiteside, da stimmt irgend etwas nicht.«

»Da haben Sie schon recht«, gab der andre zu, »aber ich möchte den Fall erst einmal in großen Umrissen skizzieren. Lyne kommt tatsächlich und trifft Milburgh in der Wohnung von Odette. Milburgh spielt jetzt seinen letzten Trumpf aus, er gesteht seine ganze Schuld und steuert auf die Lösung zu, die er seit langer Zeit vorbereitet hat. Lyne lehnt ab, es entsteht ein Streit zwischen den beiden, und in seiner Verzweiflung erschießt Milburgh den anderen.«

Tarling schüttelte den Kopf und lächelte eine Weile vergnügt vor sich hin.

»Ja, die ganze Geschichte gibt uns viele Rätsel auf«, sagte er dann.

Die Tür öffnete sich, und ein Polizeibeamter trat ein.

»Hier sind alle Einzelheiten, die Sie wünschten.« Er wandte sich an Whiteside und überreichte ihm ein maschinebeschriebenes Blatt.

»Ach, sehen Sie, hier haben wir alle Details über unseren Freund Sam Stay«, sagte Whiteside, als der Beamte den Raum verlassen hatte. Er las halblaut vor sich hin. »Größe ein Meter zweiundsechzig, blasse Hautfarbe ... trägt einen grauen Anzug und Unterzeug mit dem Stempel der Landesirrenanstalt ... Hallo!«

»Was ist los?« fragte Tarling.

»Das ist wichtig.« Der Inspektor las weiter: »Als der Patient ausbrach, hatte er keine Schuhe. Er hat einen außergewöhnlich kleinen Fuß. Außerdem fehlt ein großes Küchenmesser. Es ist auch möglich, daß der Mann bewaffnet ist. Alle Schuhmacher sollten benachrichtigt werden ...«

»Sam Stay war barfuß, als er ausbrach?« Tarling stand vom Tisch auf und runzelte die Stirn. »Sam Stay haßte Odette Rider.«

Die beiden sahen sich an.

»Sehen Sie nun, wer Mrs. Rider umgebracht hat?« fragte Tarling. »Sie wurde von einem Menschen getötet, der sah, wie Odette Rider ins Haus ging, und der vergeblich darauf wartete, daß sie wieder herauskam. Er schlich ihr nach, um, wie er sich einbildete, seinen toten Wohltäter an ihr zu rächen. Und dann tötete er diese unglückliche Frau. Jetzt erklären sich auch die Buchstaben M. C. A. auf dem Griff des Messers. Sie bedeuten Middlesex County-Asylum. Er hat das Messer bei sich gehabt. Als er seinen Irrtum einsah, suchte er nach ein Paar Schuhen für seine blutenden Füße, und als es ihm nicht mehr gelang, auf einem anderen Weg wieder in das Haus zu kommen, ging er um das Gebäude herum, um zu sehen, ob er nicht durch irgendein Fenster hineingelangen konnte, um Odette Rider zu finden.«

Whiteside sah ihn erstaunt an.

»Schade, daß Sie ein so großes Vermögen geerbt haben«, sagte er bewundernd. »Wenn Sie sich zurückziehen, wird unser Vaterland um einen großen Detektiv ärmer werden.«

Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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