Читать книгу Der Koch und seine Toten - Edward Mosch - Страница 5
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Sie saßen jetzt alle, Benno, die Winters und Szymczak, um einen ovalen Tisch versammelt in einem größeren Raum im Präsidium. Die Stühle zu Bennos rechter und linker Seite waren unbesetzt, während Szymczak dicht bei Herrn und Frau Winter sitzen durfte und gelegentlich einen raschen Blick über den Tisch hinüber auf Benno warf, der unruhig auf seinem Sitz herum rutschte. Daß man ihn nicht bei den anderen sitzen ließ, sondern absonderte, ihn damit hervorhob und zeichnete als einen, der nicht mehr zu den normalen Menschen gehörte, quälte Benno nicht. Es war ihm momentan sogar ziemlich gleich. Was ihn nervös machte, war sein Taschenkalender. Vorhin waren ihm alle seine Gegenstände abgenommen worden, darunter auch der Kalender. Der war fast ohne Eintragungen, und die wenigen Kritzeleien darin ohne weitere Bedeutung. Aber ganz vorne, gleich nach dem Deckblatt, stand in der Rubrik ‚Im Notfall zu verständigen‘ Milanas Name, ihre Telefonnummer und Adresse. Wenn sie das lesen würden und Milana anriefen, wenn sie ihr sagten, daß er in Untersuchungshaft genommen wurde… Alles sollten sie mit ihm anstellen, aber Milana durfte nicht erfahren, daß er ins Gefängnis mußte.
Benno schnappte hörbar nach Luft. Die beiden Kripobeamten hinter ihm, die von einem zum anderen liefen, stockten. Daß sie da herumliefen und er sie zeitweise nicht sehen konnte, quälte Benno. Es war ihm dabei, als stochere ein Zahnarzt mit einer Nadelspitze in einen offenen Nerv herum.
Er zog seine Schultern zusammen. Jedesmal, wenn der Dicke, dieser Riemschneider, sich ihm näherte, hinter seinem Rücken den Schritt verlangsamte, war es Benno, als würde er aufgefordert aufzustehen und etwas zu tun, zu sagen, eine Tat zu begehen, damit die Luft, die er anhielt, wieder strömte und der Kommissar nicht länger hinter ihm stehen bleiben mußte. Er fühlte sich schuldig, allein dadurch, daß er sitzenblieb, weiter die Luft anhielt und nichts tat, was den Kommissar Riemschneider aus seiner ihm sicher unbequemen Haltung in seinem Rücken, erlösen würde.
Er seufzte. Das passierte, ohne daß er es kommen gefühlt hatte.
„Sagten Sie etwas?“ Der Kommissar trat näher an ihn heran.
Benno wandte sich halb um.
„Tut mir leid.“
„Was tut Ihnen leid?“
„Ich wollte nicht seufzen. Es ist einfach geschehen.“ Er hoffte, daß dies so verstanden würde und ihn der Kommissar in Ruhe ließe und jetzt nicht Anlaß sähe, in ihm herum zu bohren, nur weil er unbeabsichtigt geseufzt hatte.
„Sie haben noch vor kurzem in Neuss gekocht. Warum sind Sie da weggegangen?“
Er will mich anschuldigen. Benno dachte das nicht, er fühlte es so, und es betäubte ihn. Der Beamte kam ihm wieder in den Sinn, der ihn ständig angestarrt hatte. Der war sicher mit diesem Riemschneider unter einer Decke. Dann fiel ihm die dicke, hängende Unterlippe des Kommissars auf. Er betrachtete den schweren Mann.
Eine häßliche, hängende Unterlippe. Es war ihm, als sei Riemschneider so ein Gesicht beschert worden von all den Verdächtigen vieler Jahre, mit denen er sich hatte befassen müssen. Von Leuten, die im Verhör lange leugneten und dann doch zusammenbrachen, die dann wie welker Salat in ihren Stühlen hingen, die Form verloren und plötzlich alt aussahen. Die hatten das Gesicht des Kommissars gezeichnet. Und jetzt sah er in ihm eine dieser Figuren, die es bald den anderen aus seiner langen Praxis gleichtun würde. Wenn er etwas wartete, dann ginge es mit Benno auch bald so nach unten. Als wolle er ihn dazu ermuntern, zeigte er diese hängende Unterlippe, die schon den Weg wies. Und das alles nur, weil Benno aus Versehen geseufzt hatte.
„Sie haben doch in Neuss gekocht?“
„Ja, hab ich.“
„Und, hat es Ihnen da nicht mehr gefallen oder warum sind Sie sonst weggegangen?“
„Also, die haben alles auf asiatisch umgestellt. Thai-Küche und so. Konnte ich nicht.“
„Sie wurden entlassen?“ Benno nickte. Er sah immer noch auf diese Lippe und brachte es nicht fertig, wegzusehen.
„Sie haben also Ihren Job an Ausländer verloren. Und hier kriegen Sie sicher weniger Geld, als drüben. Sind Sie denen böse?“ Benno versuchte zu verstehen, worauf der Kommissar hinauswollte.
Er stützte sein Kinn in die Hände und überlegte, ob er den Ausländern oder sonstwem böse war.
Das war kein schlechter Job gewesen. Allerdings Nachtarbeit. Die Gäste, meist Düsseldorfer Huren und ihre Zuhälter, die mitten in der Nacht, oder am frühen Morgen Station machten in der Kneipe, in der er kochte.
Die Arbeit war ziemlich einfach gewesen: Dicke Steaks für die Zuhälter, so englisch gebraten, daß das Blut raus spritzte, wenn sie das Fleisch anschnitten und Salate mit Ei für die Damen. Aber dann übernahm ein neuer Besitzer den Laden und der wollte es auf asiatisch haben. Die Mädchen waren jetzt vor allem Koreanerinnen und Vietnamesinnen, das Essen war danach: fernöstliche Spezialitäten. Für den neuen Chef rechnete es sich, er legte finanziell zu und konnte sich in Ruhe von den Nutten kraulen lassen. Benno verlor seine Stelle, weil er asiatische Küche nicht konnte. Er suchte nach einem neuen Job und merkte auf einmal, daß es von Thai-Kneipen, Sushi-Bars, vegetarischen Lokalen, türkischen, italienischen, spanischen Restaurants nur so wimmelte. Aber er konnte weder japanisch noch türkisch kochen, sondern nur deutsche Küche und das, was auf der Karte als ‚international‘ bezeichnet wird: Cordon bleu, Boeuf Stroganoff und so weiter. Einen so ausgerichteten Laden fand er in Halberstadt.
Benno blickte den Kommissar an.
„Nö, bös bin ich denen nicht und es hat ja auch was Gutes: Ich wohn endlich näher bei meiner Freundin als früher.“
„Aber Sie mußten bis hierhin gehen, um noch was für sich zu finden. Überall Türken, Libanesen und so weiter. Und die kommen auch immer mehr nach Halberstadt. Kriegen Sie nicht manchmal Angst oder vielleicht auch einen Haß auf die?“
Benno schüttelte den Kopf. Plötzlich sah er das Gesicht des Kommissars ganz dicht über sich und hob abwehrend die Hand.
„Sie machen mir was vor! Sie sind wegen der Ausländer rausgeflogen und hier schleichen die Ölaugen auch schon überall herum, machen ihre stinkenden Dönerbuden auf und deutsche Kneipen machen dicht. Und dann läuft Ihnen noch dieser Pietro Marconi vor die Füße, hier, mitten in Ihrer neuen Existenz. Ein Kerl, wie ein Orientale, Prachtexemplar von einem schwarzhaarigen Kanaken.
Da ist bei Ihnen was durchgebrannt. Da konnten Sie gar nicht anders. Geben Sie es zu!“
Es klopfte. Benno zuckte zusammen. Sicher war sein Kalender gelesen worden und jetzt kam Milana.
„Herr Brünn ist da“, meldete ein Polizist von der Tür her.
„Soll eintreten.“
Benno sah einen uralten, eisgrauen Mann in der Tür stehen. Er war in einen schwarzen Anzug gekleidet. Unter dem Jackett trug er eine dunkle Weste und Benno war es einen Moment so, als sähe er die silberne Kette einer Taschenuhr darauf blinken. Die Winters und Szymczak erhoben sich von ihren Plätzen. Die beiden Beamten machten bei der Begrüßung eine Verbeugung vor Brünn und nannten ihn ‚Herr Stadtrat‘. Benno erhob sich. Richard Brünn ging langsam von einem zum anderen um den Tisch herum und gab jedem die Hand. Szymczak war eilig auf Brünn zugegangen und stand nun dem Alten im Weg, als der Herrn Winter begrüßen wollte. Offensichtlich hatte Szymczak geglaubt, Brünn würde sich zuerst ihm zuwenden. Der musterte jetzt seinen Verwandten und sah auf dessen Schuhe.
„Filip Szymczak mein Name. Doktor Szymczak. Bitte sehr um Verzeihung, Ihnen unter diesen Umständen begegnen zu müssen.“ Szymczak wendete sich gequält ab und strich sich mit der Hand über die Augen.
„Mein Junge, die Umstände sind nicht so schlimm, wie deine ausgelatschten Schuhe. Morgen kaufe ich dir was Anständiges.“ Er wandte sich zu den beiden Beamten.
„Was hat er verbrochen?“
Es klopft, dachte Benno. Er lehnte sich sachte gegen die Wand und horchte auf sein Herz.
„Ja, mit so einem Ding, mit einem Ausbeinmesser.“ Der Kommissar erklärte Brünn, was passiert war.
Es sitzt weiter oben, dachte Benno. Kann das sein, daß es in den Hals steigt? Milana wird alles erfahren. Er fühlte mit dem Finger nach. ‚Geben Sie es zu‘, hatte ihn Riemschneider aufgefordert. Benno sah die Leute an, die sicher alle glaubten, daß er es getan hatte. Sie kamen ihm wie eine Mauer vor. Mit den Fingern könnte er sie erreichen, die Wand dieser Falle, in der er saß. „Erst muß er versucht haben, den Kopf mit einem großen Fleischermesser abzutrennen“, erklärte der Kommissar, „das machte aber im Kehlkopfbereich und an den Halswirbeln Probleme. Da war das große Messer kaum zu gebrauchen, die Spuren zeigen es. Scheint von Werkzeugen was zu verstehen, er hat dann das Ausbeinmesser genommen.“ Benno merkte, daß ihn alle ansahen. Der Kommissar begann wieder mit seinen Rundgängen um den Tisch, an dem die anderen Platz genommen hatten. Benno wollte sich nicht setzen, fühlte plötzlich Victoria Winters Hand an seiner Schulter und ließ sich zum Stuhl schieben. Jetzt blieb der Kommissar hinter ihm stehen. Benno sah ihn nicht, aber er fühlte sich erneut aufgefordert, etwas zu tun, zu sagen, eine Erklärung zu liefern. Der Kommissar ging weiter und kam Benno ins Blickfeld. Er sah ihm nach, solange das möglich war, ohne den Kopf zu drehen. Dann spürte er ihn erneut hinter seinem Rücken, während der zweite Beamte sich in Bewegung setzte, auf der gegenüberliegenden Tischseite stehen blieb, und ihn ansah. Immer nur ihn. Benno setzte sich.
„Sie sagten, daß Pietro Marconi um fünfzehn Uhr fünfundvierzig bei Ihnen eincheckte, Herr Winter. Kurz nach achtzehn Uhr entdeckte der Koch die Leiche. Marconi muß also zwischen sechzehn und achtzehn Uhr ermordet worden sein.“ Winter nickte Riemschneider zu. Benno fühlte auf seinem Kopf die Atemwärme des Kommissars, der hinter ihm stand. Er sah, daß Victoria aufstand, und wunderte sich darüber.
„Benno! Ich sah Sie“, Victorias Stimme klang dünn und schwach, „Benno, ich sah Sie um kurz nach fünf im Hof.“ Es wurde ganz still im Raum.
Er blickte Victoria an, sie hob die Hände und hielt sie, als sollte er etwas hineingeben.
„War ich nicht“, Benno hörte seine Stimme krächzen, „da war ich nicht.“
Benno kam es so vor, als kröche dieser Beamte der ihn ständig ansah, über den Tisch auf ihn zu.
„Achtzehn Uhr fing Ihr Dienst an.“ Herr Winter sprach wie zu sich selbst.
„Und was machen Sie dann kurz nach siebzehn Uhr im Hof?“
„Das war ich nicht. Erst fünf vor halb sechs kam ich ins Haus.“ Kommissar Riemschneider stellte sich neben Benno auf.
„Ein Motiv, Herr Wolf, Sie hatten ein Motiv über den Südländer herzufallen! Und Sie wurden im Hof gesehen. In der fraglichen Zeit.“
„Das muß ein Anderer gewesen sein“, sagte Benno. Riemschneider setzte sich auf einen der freien Stühle und blickte Victoria an.
„Erzählen Sie nochmal, was haben Sie gesehen und wann?“
„Ich kam von der Stadt ins Haus und bin in den Saal gegangen, um zu sehen, wie weit unser Kellner mit dem Eindecken ist. Es war so fünf nach fünf. Da sah ich jemanden draußen durch den Hof gehen.“
„Wo ging der hin?“
„Weg vom Haus, zur Gasse hin, die hinter dem Hof lang geht.“
„Die Person schien also das Grundstück zu verlassen?“
„Ja. Und sie hielt in jeder Hand ein kleines Ding. Konnte es nicht erkennen.“
„War die Person Ihr Koch, der Herr Wolf?“ Victoria knetete die Hände und dachte nach.
„Ich sah ihn ja nur von hinten und es wurde schon dämmerig. Aber ich habe gleich gedacht, was macht der Koch um die Zeit da hinten?“
„Woher wissen Sie, daß es ein Mann war, kann es nicht auch eine Frau gewesen sein?“
„Das war ein Mann. Ich sah es an den Bewegungen.“
„Sicher haben Sie die Person aber nicht erkannt?“
„Nein.“
„Ihren Mann haben Sie nicht aufmerksam gemacht?“
„Nein“, mischte sich Winter ein, „wir hatten an dem Tag viel zu tun.“ Er nahm seine Finger zu Hilfe und zählte daran ab.
Um halb zwei traf ich mich mit meiner Frau in der Stadt. Wir besuchten dann einen Kollegen im Krankenhaus. Victoria war anschließend bis gegen fünf Uhr in einem Vortrag im Gleim Haus. Und ich saß im Hotel mit unserem Kellner zusammen, um über die Gesellschaft zu sprechen, die wir am Wochenende zu Gast haben. Kurz vor vier kam Marconi, der sich vor zwei Wochen anmeldete. Der Kellner blieb den Abend über bei uns.“
„Es läuft alles auf Sie zu, Herr Wolf. Möchten Sie sich nicht äußern?“ Benno sah um sich. Alle schienen Riemschneiders Worte erwartet zu haben. So sahen jedenfalls die Mienen aus, die sie machten. Und jetzt wollten sie sein Geständnis haben. Da hörte er ein lautes, knöchernes Klopfen.
Richard Brünn hämmerte mit dem Knöchel auf die Tischplatte.
„Einspruch! Haben Sie auch mal bei Winter so nachgehakt wie bei dem Koch? Victoria kannte diesen Italiener vom KZ her“, Brünn wandte sich zu Horst Winter, „und Sie kannten ihn sicher auch. Warum kommt der zu Ihnen in Ihr Hotel und wird genau da umgebracht und warum kam der überhaupt?“ Winter zuckte mit den Schultern.
“Vermutlich wollte er noch einmal dieses Lager sehen, in dem er Zwangsarbeiter war. Es ist ja hier in der Nähe. Darum ist er wohl gekommen.“
“Oder kam er wegen Ihrer Frau? Oder wegen Ihnen?
„Nein.“
Horst Winter hob unbeholfen die Hände und ließ sie wieder fallen. Brünn blickte Winter ins Gesicht, mahlte mit seinem Unterkiefer und stocherte mit dem Zeigefinger vor ihm in der Luft.
„Gammeln immer noch diese Schweinereien in Ihrem Keller herum? Diese Köpfe in der Tonne! Zum Kotzen. Wie erträgt das Ihre Frau?“
Riemschneider mischte sich rasch ein.
„Herr Winter, haben Sie eine Ahnung, was der Herr Marconi im Hof bei den Müllcontainern zu suchen hatte?“
„Der wollte wohl rauchen. Im Haus dürfen die Gäste nicht rauchen.“
„Stimmt, wir fanden zwei Kippen neben dem Toten.“
Richard Brünn stand mit einem Ruck auf.
„Sie lenken ab, Kommissar! Herr Winter ist ein Nazi, das wissen Sie. Wenn der Koch vielleicht was gegen Südländer hat, wie Sie es unterstellen, bei Herrn Winter ist das erwiesen. Ich lasse nicht zu, daß Sie das übergehen!“ Riemschneider schwieg. Benno kam es vor, als hinge seine Unterlippe jetzt noch tiefer als zuvor. Brünn stützte sich auf der Tischplatte ab, reckte den faltigen Hals und sah Winter direkt ins Gesicht.
„Sicher war der Mörder ein Rechtsradikaler. Einer wie dieser Klaus Hey, der Hundezüchter, dem Sie, Herr Winter, Ihren Saal vermieten, damit er dort mit seinen Kumpanen Schweinereien ausbrüten kann.“ Winter stand auf, krebsrot im Gesicht und wollte sprechen. Brünn winkte verächtlich ab und wandte sich an Scymczak.
„Raus mit der Sprache! Was hattest du hier zu suchen?“ Der Alte übernimmt ganz selbstverständlich die weitere Vernehmung, dachte Benno. Kommissar Riemschneider bekam rote Ohren und setzte sich leise auf einen Stuhl bei der Wand.
„Ich bin am Spätnachmittag in Halberstadt angekommen und wollte ein Bier trinken, bevor ich zu Ihnen ginge.“
„Dann liefen Sie zur Toilette, anschließend in die falsche Richtung und landeten im Hof?“ fragte Riemschneider mit leiser Stimme. Szymczak nickte und sah bange auf Richard Brünn.
„Also, es tut mir leid, Herr Brünn, erst mal muß ich ihn hierbehalten. Den Koch sowieso!“
Riemschneider stand verlegen auf und gab Brünn schüchtern die Hand. Benno hörte etwas von einer erkennungsdienstlichen Behandlung, zu der er und Filip gebracht werden sollten, und dachte dabei ans Verbrecheralbum und mit einem Mal kam ihm der furchtbare Gedanke, daß sein Foto womöglich veröffentlicht würde und dann könnte Milana alles erfahren. Er sah zu, wie sich die Leute erhoben und wie Brünn mit einer herablassenden Bewegung dem Kommissar die Hand gab. Benno stand nicht auf. Er fühlte sich kraftlos und zentnerschwer. Er war noch nie in einem Gefängnis gewesen und jetzt sollte er in eines hinein. Er merkte, wie seine Hände unter den Stuhl griffen, auf dem er saß, und wie sich die Finger daran festhielten.
Man brachte sie in eine Gemeinschaftszelle. Benno ließ sich aufs Bett fallen, legte die Hände über seine Augen und blieb eine Weile liegen, bis er sich beruhigt hatte. Was würde morgen sein? dachte er. Morgen würde er in der Küche fehlen müssen. Und noch einen Tag später würde ihn der Chef entlassen. Was sollte Winter mit einem Koch anfangen, der nicht in der Küche schmorte, sondern im Kittchen? Aber das war nicht das Schlimmste, was passieren könnte. Das Schlimmste war das mit Milana. Wenn sie erfahren würde, daß man ihn für einen Mörder hielt. Dagegen wäre der Jobverlust eine Kleinigkeit. Milana, die sich aufregte, wenn er in der Abendstille laut hustete, was die Nachbarn stören könnte. Milana, die sich für ihn schämte, wenn er im zerknitterten, nicht ganz frischen Hemd neben ihr her ging und die darum sogar auf die andere Straßenseite wechselte, um nicht mit ihm in Zusammenhang gebracht zu werden.
Milana, die er liebte, die er heiraten wollte, an der Seite eines Mordverdächtigen? Sie würde ihn sofort verlassen, wußte Benno.
Gegen zwei Uhr in der Frühe erwachte er mit einem Ruck. Er hatte kaum geschlafen, weil er Szymczak die ganze Zeit im Auge behielt und sich nicht traute, einzuschlafen. Der hatte sich mit den Schuhen an den Füßen und in allen Kleidern auf sein Bett gehockt, die Knie zur Brust gezogen, die Arme darum gelegt und sich vor und zurück geschaukelt. Ohne einen Ton zu sagen, ohne einmal mit Schaukeln innezuhalten. Wie in einen zu engen Kasten gezwängt, saß er da, beleuchtet vom matten Schein der Deckenlampe. Benno sah mit steigendem Grausen zu. Er war mit einem Mörder zusammengesperrt. Mit einem, der obendrein irre zu sein schien, so wie er sich benahm. Wie hatten ihn die Wärter nur mit dem in eine Zelle sperren können? Weil sie nicht gesehen hatten, was mit Szymczak los war? Wenn sie so kraß versagten, dann war von ihnen kein Schutz zu erwarten, dann würden sie auch nie den Täter überführen und alles bliebe an ihm hängen. Benno fühlte sich schwach, ständig war ihm, als müsse er sich übergeben. Und dann schlief er doch ein. Als er hochfuhr, schaukelte Szymczak immer noch auf seinem Bett und brummte dazu. Sein Gesicht aber war Benno zugewandt. Benno sah in seine brennenden Augen, sah, wie dieser Mann vom Bett glitt, mit den langen Armen voraus weisend, auf Benno zu.
Der sprang zur Tür. „Hilfe! Hilfe!“
„Wie er mich behandelt hat, der Alte! Die Schuhe. Gnädig will er mir Schuhe kaufen. Schwein, dreckiges Schwein!“ Jetzt schrie Szymczak, daß man es im ganzen Gefängnis hören mußte. Er schrie, wie ein verletztes Tier, ein Tier, dem man mit einer Lanze die Seite aufgebrochen hat. „Scheiß auf seine verfickten Schuhe. Dieser Kübel voll alten Dreck, diese kaputte Mumie, dieser Schmutzfleck auf der Menschheit, warum lebt er noch? Ich will keine Schuhe, ich will meinen Anteil!“
Dabei tastete sich Szymczak an den Zellenwänden entlang und schlug mit den Fäusten dagegen.
„Hilfe! Hilfe!“ brüllte Benno, als Szymczak nur noch einen Meter von ihm entfernt war.
Die Tür flog auf, drei Wärter zerrten Szymczak heraus. „Gibt er meinen Anteil nicht heraus, hole ich ihn mir!“ hörte ihn Benno kreischen. Er hielt sich die Ohren zu und plumpste aufs Bett.
Gegen elf Uhr am nächsten Tag ging die Zellentür auf, Kommissar Riemschneider trat ein. Benno erhob sich vom Bett, auf dem er gesessen hatte, und versuchte die Fassung zu behalten.
„Ich komme vom Haftrichter, Herr Wolf.“ Die Untersuchungshaft wird verlängert, sie behalten mich hier, mein Job ist weg, dachte Benno.
„Die U-Haft wird nicht fortgesetzt“, sagte Riemschneider, „Sie sind frei und können gehen.“