Читать книгу Nachbarschaft mit kleinen Fehlern - Elisa Scheer - Страница 10
8 Samstag
ОглавлениеDas hatte ein Hellgrauer allerdings versucht, den ein Dunkelgrauer an die Tür geholt hatte, als die Staatsmacht mit gezücktem Ausweis Einlass begehrt hatte.
„Wir haben nur einige Fragen“, entgegnete Anne kühl, „und wenn Sie so unwillig sind, fragen wir uns bloß, was Sie wohl möglicherweise zu verbergen haben. Wenn Sie das natürlich möchten…“
„Na, meinetwegen. Aber das ist mal wieder typisch!“
„Was ist typisch?“, fragte Katrin im Eintreten und versuchte, harmlos-mädchenhaft dreinzusehen, was nur bedingt gelang.
„Diese Verfolgung religiöser Gruppen!“
„Wir verfolgen doch niemanden? Wir gehen doch nur davon aus, dass uns alle Bürger gerne bei der Aufklärung von Straftaten unterstützen wollen?“
„Straftaten?“ Der Tonfall hatte dabei geradezu hysterische Höhen erreicht.
„Straftaten kommen doch überall vor. Vielleicht können Sie uns ja behilflich sein? Sagt Ihnen der Name Manuela Schermann etwas?“
„Schermann… Schermann…“ Er schlug die Augen zur Decke auf, als stünde dort die Antwort. Verräterische Geste, fand Anne zumindest. Und diese Augen wirkten so tot! Dieses wässrige Blaugrau… Sie rief sich zur Ordnung – niemand konnte doch etwas für eine fade Augenfarbe!
„Schermann… nein. Und ihr Lieben?“ Er wandte sich vor allem an einen anderen Hellgrauen und einige in einer Gruppe zusammenstehende Dunkelgraue. Die schwarzgekleideten Mädchen im Hintergrund wurden ignoriert.
Alle schüttelten gemessen den Kopf. „Schermann sagt uns nichts“, verkündete schließlich ein Dunkelgrauer.
„Haben Sie gesagt Manuela?“, hörte man da plötzlich eine helle Stimme. Alle Grauen, egal, ob hell oder dunkel, fuhren herum.
„Ja, Manuela Schermann, Frau…?“
„Unsere Dienerinnen haben keine Namen, Frau Polizistin“, schnappte der Dunkelgraue.
Anne wurde sauer. „Dann machen wir´s so richtig amtlich. Erstens heißt das nicht Frau Polizistin, sondern Frau Kriminalhauptkommissarin. Zweitens hat jeder Mensch in diesem Land einen Namen, der auch auf seinem Bundespersonalausweis steht – und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit irgendwelchem Reichsbürgerscheiß, sonst nehmen wir Sie gleich mit. Warum Sie die weiblichen Mitglieder Ihrer – äh – Organisation als Dienerinnen bezeichnen, untersuchen wir später. Es klingt jedenfalls recht bedenklich!“
„Reichsbürgerscheiß?“
Anne winkte ab. „Egal. Also, die junge Frau, die gerade nach Manuela gefragt hat, heißt?“
„Greta Scholl. Ich -“
„Greta, du weißt, was dir in der Öffentlichkeit zukommt“, mahnte ein Dunkelgrauer.
„Ihre Sektenregeln stehen nicht über dem Gesetz!“, schnauzte Katrin. „Also, Frau Scholl?“
„Na, da war mal eine, aber nur kurz. Die hieß Manuela, glaube ich…“ Das klang zunehmend verzagter. „Der hat´s hier wohl nicht so gut gefallen…“
„Wann war das denn etwa? Wissen Sie das noch?“
Greta Scholl überlegte, von den giftigen Blicken der anderen sichtlich irritiert. „Vor zwei, drei Wochen? Genauer weiß ich das nicht mehr. Ich hab nicht mit ihr geredet. Wir sollen schweigen.“
„Ach! Dass du dich daran noch erinnerst?“
„Wenn Sie alle jetzt nicht mit den Einschüchterungsversuchen aufhören, nehmen wir Frau Scholl zur Befragung mit. Und Sie – und Sie am besten auch. Getrennte Befragungen natürlich.“ Anne funkelte die beiden, die Greta verwarnt hatten, an.
„Ich habe hier das Hausrecht!“, beharrte der Hellgraue.
„Auch wenn Sie hier den Guru geben, das Gewaltmonopol liegt beim Staat und in einem Kriminalfall dann eben bei uns. Ist das jetzt klar?“
Verkniffenes Nicken.
„Dann möchte ich Frau Scholl jetzt unter vier Augen befragen. Und Frau Kramer wird sich mit Herrn -? unterhalten.“ Sie wies auf den Dunkelgrauen.
Na toll, dachte sich Katrin. Da musste sie wohl den Anne-Klon geben!
Der Hellgraue schritt ihnen in einen engen Gang voraus und öffnete die beiden ersten Türen auf der linken Seite. „Reicht das?“
„Naja“, machte Anne. „Muss wohl, nicht?“ Der billige Tisch und die beiden Klappstühle an der Wand wirkten wenig einladend. Dubioser Verein, fand sie und winkte Greta mit sich, die sofort die Klappstühle zum Tisch trug und sie aufstellte.
„Müssen Sie hier die Männer bedienen?“
Greta sah sie mit großen Augen an. „Aber so ist die kosmische Ordnung!“
„Wer sagt das?“
„Silverthorne natürlich. Das ist unser Gründer.“
„Aha. Und wer noch?“
Greta starrte sie an. „Wie meinen Sie das?“
Anne winkte ab. Das führte vorläufig wohl nirgendwohin…
„Sie haben Manuela Schermann hier also zumindest einmal gesehen?“ Bevor Greta antworten konnte, legte Anne einen Finger an die Lippen, erhob sich lautlos, schlich zur Tür und riss sie auf. Ein anderes Mädchen stand dicht davor. „W-wollen Sie ein Glas Wasser?“
„Nein danke. Und drücken Sie sich nicht vor der Türe herum!“
„Das muss ich doch?“
„Nein, das müssen Sie nicht. Was Ihre Gurus so sagen, ist viel weniger wichtig als das, was die Polizei sagt, klar?“
Das Mädchen ließ den Kopf hängen und schlich davon.
„Hier geht´s ja zu!“, kommentierte Anne, nachdem sie wieder am Tisch Platz genommen hatte. „Wird hier bespitzelt?“
„Naja, normalerweise sollen wir schweigen, da braucht man das doch nicht so sehr?“
„Und warum sollen Sie schweigen?“
„So können wir uns besser in uns selbst versenken und unsere Pflichten erkennen.“
„Pflichten, aha. Rechte auch?“
„Welche Rechte? Wir sind doch Schwarze!“
„Ist das rassistisch oder sexistisch zu verstehen?“
„Was? Wir tragen doch immer schwarze Gewänder!“
„Und nur Frauen tragen Schwarz, oder?“
„Äh – ja. Ich weiß aber nicht, ob das so sein muss. Vielleicht ist es ja Zufall, dass nur Mädchen in Schwarz und Männer in Grau hier sind.“
„Eine ganz blöde Zwischenfrage: Was trägt eigentlich der Alleroberste, dieser Silverthorne?“
„Oh…“ Gretas Gesicht zeigte eine Mischung aus Verträumtheit und Furcht. „Silverthorne, ja… er trägt Weiß, strahlendes Weiß…“
Was für eine klischeehafte Farbgebung, dachte Anne.
„Und Manuela Schermann war auch in Schwarz gekleidet?“
„Ja, gewiss. Aber ich kannte sie kaum, sie war in einem anderen Team.“
„Team? Könnten Sie mir da Genaueres erzählen?“
„Naja, das ist wohl nicht so aufregend. Immer drei sind eine Gruppe, was die Arbeiten betrifft.“
„Hier im Haus?“
„Ja, auch. Also, putzen oder das Essen kochen oder Wäsche waschen. Aber andere Teams gehen auch raus und sprechen Leute an, ob sie nicht bei uns Selbsterfahrungskurse…“ Sie verstummte verzagt, als sie Annes grimmige Miene sah, und fuhr dann etwas munterer fort: „Oder sie singen auf dem Marktplatz und spielen auf der Sitar. Meditative Musik, wissen Sie?“
Anne nickte resigniert. „Ja, ich kann´s mir vorstellen. Wer bekommt denn das Geld, das die Teams auf dem Markt einnehmen?“
„Wir geben es meistens Hari. Das ist der, der vorhin nicht so freundlich zu ihnen war. Der Hellgraue. Manchmal auch Pranesh, das ist der andere Hellgraue. Aber so viel Geld ist das wirklich nicht. Ich glaube, die meisten Leute schlagen gleich einen Haken, wenn sie uns sehen.“
„Sie singen auch manchmal?“
„Lieber Himmel, nein! Ich bin ganz unmusikalisch, ich darf nur Leute wegen der Kurse ansprechen und Wäsche waschen. Kochen kann ich nämlich auch nicht.“ Sie lächelte entschuldigend.
„Was reizt Sie eigentlich an dieser Sekte? Ist das wirklich so viel besser, als draußen zu wohnen und einen vernünftigen Job zu haben?“
„Ich weiß es nicht so genau, aber ich fühle mich hier schon geborgen. Es gibt klare Strukturen, das gefällt mir schon ganz gut. Als ich hier reingekommen bin, hatte ich gerade mein Studium abgebrochen, das war alles nicht das Richtige. Na, und da wusste ich jetzt nicht so genau, wie es weitergehen sollte, verstehen Sie? Und ein Mädchen sagte, ich sollte doch erst einmal in mich hineinhorchen, um herauszufinden, was ich wirklich will. Das fand schon ich ganz vernünftig. Und weil ich kein Geld hatte, hab ich halt hier gearbeitet. Das mache ich immer noch.“
„Das Geld wird hier also mit diesen Kursen verdient?“
„Ja, genau. Also – ja. Womit denn sonst?“
„Sagen Sie es mir!“
„Also, das Singen kann es nicht sein. Wie gesagt, da kommt nicht viel rum. Und sonst? Nein, da fällt mir nichts ein.“
„Nun gut.“ Anne erhob sich. „Vielleicht komme ich noch mal wieder, aber für den Moment war´s das.“
Katrin stand schon auf dem Gang und sah drein, als wollte sie gegen die Wände treten. „Ich sag dir, diesem Drecksack sollten wir irgendwas anhängen. So ein Arsch!“
„Psst. Komm nach draußen und erzähl mir alles in Ruhe.“
Katrin schmetterte aber wenigstens die Tür nach draußen ordentlich hinter sich ins Schloss. „So, jetzt geht´s mir schon wieder besser! Weißt du was? Der hat versucht, mich anzumachen!“
„Handgreiflich?“ Anne sah wütend zum Silver Centre zurück.
„Nicht ganz, dann hätte ich mich so wehren können, dass er mit gebrochenem Kiefer und gequetschten Eiern länger liegen müsste…“
„Schönes Bild – aber du missbrauchst deine Polizeigewalt bitte nicht!“
„Weiß ich doch. Aber all dieser Mist – ob ich meine Bedürfnisse nicht kenne, ob ich in einem solchen Beruf wirklich meine Weiblichkeit ausleben könnte – ist es dir schon mal passiert, dass jemand mit so einer Schleimstimme „Weiblichkeit“ sagt und dir dabei ganz ungeniert auf den Schritt starrt?“
„Starker Tobak! Ich gebe dir Recht, der wird akribisch durchleuchtet. Also, die Schermann war kurz hier. Haben die sie umgebracht oder mit ihrem Quatsch eine Psychose ausgelöst oder was?“
„Ich denke, Julia sagt, die Spuren passen nicht zum Selbstmord?“, wandte Katrin ein.
„Ja, stimmt. Kein Selbstmord. Hm… ich denke, wir recherchieren mal, diese Sekte kommt mir nämlich sehr dubios vor. Und ich will alles über Manuela Schermanns Familie und irgendwelche Exfreunde wissen. Komm, wir fahren zurück.“
„Müssen wir das alles noch heute machen? Du hast doch gesagt, es ist Samstag?“
„Nein. Ich rufe kurz bei der Familie an und kündige unseren Besuch am Montag an. Dann sieht es nicht aus, als täten wir nichts, aber natürlich wollen wir die Schermanns nicht am heiligen Wochenende belästigen, nicht wahr?“
„Natürlich nicht!“ Katrin erwiderte das breite Grinsen.
Im Präsidium konnte sie dann bewundern, mit welch rücksichtsvollem, geradezu einfühlsamem Tonfall Anne der trauernden Familie ihren Besuch am Montagvormittag ankündigte und dabei auch gleich erfuhr, dass die Schwester Victoria in Henting wohnte, der Bruder, Benedikt, aber in Hamburg; er hatte nur vor kurzem bei seinen Eltern im Clementinenweg geweilt, wegen des Schicksalsschlags. Anne deutete vorsichtig an, dass man mit der Selbstmordtheorie bei der Kriminalpolizei nicht so ganz zufrieden war, und hörte einen Seufzer der Erleichterung und dann leises Weinen. Schließlich entschuldigte sich Frau Schermann für den – nur zu verständlichen – Gefühlsausbruch und verabschiedete sich.
Anne sah Katrin an. „Bitter, wenn du dein Kind verlierst! Anscheinend war sie aber ganz froh, dass es kein Selbstmord war.“
„Finde ich nachvollziehbar“, antwortete Katrin nachdenklich. „Schau, wenn sich jemand umbringt, den du gut gekannt hast, fragst du dich dann nicht, ob du das hättest erkennen müssen, ob du etwas hättest tun können oder müssen – ob du vielleicht eine Schuld daran hast? Was hab ich falsch gemacht, sozusagen? Aber bei einem Mord kannst du ja nichts dafür…“
Anne nickte. „Ja, da hast du wohl recht – aber schön ist so ein Mord auch nicht, nur weil ein anderer Schuld hat. Mal sehen, was am Montag rauszukriegen ist. So, und jetzt gehen wir heim… wo ist Ben eigentlich?“
Bens Schreibtisch war picobello aufgeräumt, auf der grauen Platte lag nur ein Zettel, auf dem stand: Keine Anrufe, Akten im Archiv, im Netz fast nichts über den Fall Schermann. Gehe heim.
Angeheftet waren einige Ausdrucke von Zeitungsartikeln, in denen aber außer Spekulationen auf den ersten Blick nichts zu finden war.
„Komm, wir gehen auch. Ich schnüffle vielleicht später diesem Silver Centre hinterher. Aber erst muss ich endlich mal was zu essen kaufen!“